Lockdown ohne Wirkung?

Der Lockdown in Deutschland hatte keinen Effek auf die Verbreitung von SARS-CoV-2, so lautet eine Behauptung, die uns derzeit wieder des öfteren begegnet. Von den Arbeiten, die derzeit im Land unterwegs sind, eine gibt es bei Heise zum lesen, andere bei Achgut, haben wir uns die von Stefan Homburg herausgegriffen, seines Zeichens Direktor des Instituts für Finanzen an der Leibniz Universität in Hannover. Er hat ein Paper veröffentlicht, das weite Verbreitung gefunden hat und z.B. im neuesten Beitrag von Gunter Frank auf der Achse des Guten zitiert wird.

Das Paper trägt den Titel: “Evidenz zur Coronainfektion und der Wirkung des Lockdown” ist fünf Seiten lang, also überschaubar und umfasst das, was Markoökonomen und Steuerrechtler wie Homburg so gerne tun, Modelle rechnen. Wie immer basieren Modelle auf Annahmen und sind so gut, wie die Daten, die man hat, um die Annahmen zu testen. 



Hier zunächst die Annahmen, die Homburg in sein Modell stopft:

  • Vireninfektionen verlaufen wellenförmig;
  • Zwischen Infektion und deren Bekanntwerden und statistischen Erfassung vergeht Zeit (zu viel in Deutschland, aber das ist unsere, nicht die Annahme von Homburg);
  • Die epidemiologische Kurve kann durch eine logistische Funktion beschrieben werden, die das folgende Aussehen hat:

t gibt hier die Zeit an, S bezeichnet die Sättigungsgrenze, das Maximum der positiv Getesteten, a gibt den Ausgangspunkt der betrachteten Entwicklung an, b ist ein Maß für die Geschwindigkeit, mit der sich die Epidemie entwickelt. Zu Beginn der Ausbreitung des Virus steigt die Zahl der Neuinfektionen und die Zahl der Personen, die potentiell angesteckt werden können, linear an, ist S erreicht, geht die Zahl der Neuinfektionen gegen Null. Auch dieser Verlauf ist, wenn man so will, eine Annahme, die an Daten herangetragen wird.

Seine Annahmen hat Homburg für den Zeitraum vom 1. März bis zum 7. April auf Grundlage der Daten, die Johns Hopkins University auf ihrer Webseite veröffentlicht, getestet. Die aktuellen Daten von Johns Hopkins sehen wie folgt aus. Wir haben den Ausschnitt der Wirklichkeit, den Homburg betrachtet, im rot umrahmten Kasten abgesetzt.

Die Ergebnisse, die Homburg für den Zeitraum im Kasten berichtet, sind die folgenden:

  • Die Anzahl der Neuinfektionen erreicht am 29. März ihren Höhepunkt, also den Punkt “S”, ab dem das Virus, wenn es sich an die Vorgaben des Modells von Homburg hält, seine Verbreitung einzuschränken hat;
  • Zwischen Neuinfektion und Abbildung in der Statistik vergehen 17 Tage, so Homburg, weshalb er den tatsächlichen Höhepunkt, den die Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung erreicht hat, auf den 12. März zurückrechnet und somit 11 Tage vor dem Lockdown, der in Deutschland am 23. März erfolgt ist.
  • Zu diesem Zeitpunkt, am 12. März, so Homburg, seien bereits 92% der Infektionen erfolgt gewesen, der Lockdown sei also ohne Wirkung geblieben.
Quelle

Ökonomische Trockenübungen wie diese haben letztlich dazu geführt, dass sich ein Mitglied der ScienceFiles-Redaktion von der Volkswirtschaftslehre zur wesentlich empirischeren Politikwissenschaft geflüchtet hat. 

Beginnen wir zunächst mit dem, was an Annahmen im Modell steckt, ohne dass sich Homburg dessen bewusst zu sein scheint:

  • Die dargestellten Daten zeigen nur diejenigen, die GETESTET wurden. Die Getesteten sind aber nur eine kleine Teilmenge derer, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert haben. Wie groß diese Teilmenge tatsächlich ist, das weiß niemand. 
  • Asymptomatische SARS-CoV-2 Infizierte, die – wie wir mittlerweile auf Grundlage von etlichen Forschungsbeiträgen wissen – eine sehr große Rolle bei der Übertragung von SARS-CoV-2 spielen, also genau die Infizierten, die nicht in den Daten, die Homburg benutzt, auftauchen, spielen für den Verlauf der Virus-Epidemie keine Rolle. Das ist zwar eine Annahme, die im Widerspruch zu allen Forschungsergebnissen steht, aber sie ist eine notwendige Voraussetzung für Homburgs Modell.
  • Die Welt von SARS-CoV-2 in Deutschland kann mit Daten, die vom 1. März 2020 bis zum 7. April 2020 reichen, vollständig beschrieben werden. Alles was danach kommt, ist irrelevant.
  • Das Modell von Homburg bricht am 7. April ab, “da diese Arbeit am Folgetag geschrieben wurde”. Hätte er nicht am 7. April seine Datenreihe abgebrochen, sondern z.B. am 19. April dann hätte sich, als Konsequenz ein ganz anderer Tag als “Sättigungsgrenze” ergeben, vielleicht der 20. März, vielleicht der 23. März, vielleicht auch der 15. März. Den 15. März gibt derselbe Autor, Stefan Homburg, der in der Arbeit, die wir gerade besprechen, für Deutschland den 12. März als Sättigungsgrenze angegeben hat, in einer weiteren Arbeit, die er fünf Tage später veröffentlicht hat und die entsprechend Daten bis zum 12. April beinhaltet, als Sättigungsgrenze für Deutschland an (dieses Mal nennt er den Punkt “Turning Point”, denn die Arbeit ist nun in englischer Sprache verfasst und trägt den Namen “Effectiveness of Corona Lockdowns: Evidence for a Number of Countries“:

Homburg scheint hier seine eigene Arbeit ad absurdum führen zu wollen und darüber hinaus unsere Aussage, dass die Ergebnisse ökonomischer Modelle von den Annahmen und den verwendeten Daten abhängen und daher ein idiosynkratisches Rechenexempel ohne darüber hinausgehenden Wert sind, in eindrucksvoller Weise zu bestätigen.



Fünf Tage, die zwischen seinem ersten und seinem zweiten Text vergangen sind, haben erstaunliche Auswirkungen auf seine Ergebnisse:

  • Die Sättigungsgrenze für Deutschland verschiebt sich vom 12. März auf den 15. März;
  • Die Inkubationszeit, die Homburg in seinem deutschen Paper noch mit 17 Tagen angegeben hat, beträgt im englischsprachigen Paper nun plötzlich 23 Tage. Hätte er in seinem englischen Paper mit den 17 Tagen gerechnet, die er noch im deutschen Paper für korrekt gehalten hat, die Sättigungsgrenze für Deutschland wäre noch weiter an den Zeitpunkt des Lockdowns herangerückt, nämlich auf den 21. März, zwei Tage vor dem Lockdown.
  • Dass diese Grenze mittlerweile überschritten ist und die Ergebnisse von Homburg, sofern er ein update mit Daten bis zum 21. April rechnet, nunmehr zeigen werden, dass die Sättigungsgrenze nach dem Lockdown liegt, ist offenkundig und das Ergebnis einer schlichten Tatsache: eine Epidemie ist ein Prozess, von dem man erst weiß, wenn er beendet ist, wie lange er gedauert hat. Sich Daten herauszugreifen macht so viel Sinn wie mit dem Ruderboot in die Nordsee zu rudern, einen Bilderrahmen ins Wasser zu werfen und zu denken, wenn man in zwei Tagen die Prozedur wiederholt und abermals aus dem Rahmen eine Wasserprobe entnimmt, dann habe man an der selben Stelle das Wasser getestet.

Dem ist nicht so, und deshalb sind Paper wie das von Homburg eine solche Zeitvergeudung, die aber natürlich ihre Wirkung auf die Gemüter, die auf der Suche nach allem sind, was ihre vorgefasste Meinung auch nur ansatzweise bestätigt, ungeachtet der Tatsache, ob es sich dabei um Junk handelt oder nicht, nicht verfehlt. Diese Feststellung gilt für alle, die versuchen, auf Grundlage von Daten wie der Anzahl der positiv Getesteten, also auf Grundlage von durch Testaktivität bedingten Daten auf eine Realität zu schließen, von der diese Daten einen unbekannten Ausschnitt darstellen. Deswegen ist es so wichtig, vorläufige Daten transparent zu gestalten, klare Kriterien für deren Zusammenstellung anzugeben und vor allem zu PRÜFEN, welchen Ausschnitt der Realität sie beschreiben. Würden Sie, um einmal ein Bild des Buddha zu benutzen, einen Elefanten beurteilen wollen, nachdem sie mit verbundenen Augen dessen Rüssel abgefühlt haben? Homburg macht das und leistet damit der empirischen Wissenschaft, die durchaus Mittel zur Hand hat, um von Bekanntem auf Unbekanntes zu schließen, einen Bärendienst. 

Wer sich fragt, warum man von der VWL flluchtartig in den Hafen der empirischen Politikwissenschaft wechselt: Makroökonomisches Luflöcherschlagen wie das berichtete, sind der Grund. 




Fakten zu SARS-CoV-2/COVID-19:



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