Bedingungen für gesellschaftliches Zusammenleben: Der Niedergang westlicher Gesellschaften

Erinnerung an Robert Morrison MacIver zu seinem 51. Todestag

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Wer hat hierzulande (und nicht nur hierzulande) jemals von Robert Morrison MacIver gehört? Wer weiß, dass er ein in Schottland geborener, aber vor allem in den USA tätiger Soziologe und Politikwissenschaftler von erheblichem Einfluss gewesen ist? Wie viele Soziologen oder Politikwissenschaftler kennen seinen Namen? Wie viele, die seinen Namen kennen, haben eine seiner zahlreichen Schriften gelesen? Wie viele von ihnen wissen, dass MacIvers originelle Arbeiten zur Zeit ihres Erscheinens und in den Jahren danach weithin rezipiert und geschätzt wurden, dass MacIver als 30ster Präsident der American Sociological Society fungierte? Wie viele von ihnen wissen, dass er im Alter von 88 Jahren im Jahr 1970 in New York gestorben ist?

Quelle

Nicht viele, so darf ich behaupten, wenn ich meine Beobachtung zugrunde lege, nach der MacIver in den vergangenen Dekaden weder von Soziologen noch von Politikwissenschaftlern häufiger als im bemerkenswerten Einzelfall zitiert wurde oder auf ihn bzw. seine Arbeiten Bezug genommen wurde. Und MacIver ist nicht nur in Europa oder speziell in Deutschland vergessen worden, sondern auch in den USA, wo er den bei Weitem größten Teil seiner Schreib- und Lehrtätigkeit geleistet hat. Und ich stehe nicht alleine mit dieser Beobachtung:

„… The works of MacIver, the leader of one of the most important sociological faculties in the United States [an der Columbia University] and the chairman of commissions on economic and political affairs of the highest importance, remains today largely without recognition” (Hałas 2001: 28).

Die Gründe hierfür sieht Hałas hauptsächlich in methodologischen Auseinandersetzungen in der amerikanischen Soziologie der 1930er-Jahre, besonders zwischen Vertretern des Faches an der Chicago University und der Columbia University. Aber an dieser Stelle will ich nicht über die Gründe dafür spekulieren, warum MacIver so nahezu vollständig dem Vergessen anheim gefallen ist oder in diesem Zusammenhang speziell seinen methodologischen Standpunkt thematisieren, sondern an einen Aspekt der Arbeit von MacIver erinnern, der heute noch oder wieder relevant ist, aber als solcher kaum bekannt ist, weil MacIvers Bücher heutzutage einigermaßen schwierig zugänglich sind, und das gilt sowohl für seine englischsprachigen Originale als auch für diejenigen seiner Bücher, die ins Deutsche übersetzt wurden (MacIver 1951; 1947).

Auf den Aspekt der Arbeit von MacIver, der uns hier interessieren soll, bezieht sich sein relativ frühes Werk über „The Elements of Social Science“ aus dem Jahr 1921. In ihm formuliert MacIver, was für ihn die Grundlagen der Sozialwissenschaften angesichts ihres Gegenstandes bzw. dieses Gegenstandes selbst, und zwar der Gesellschaft oder – allgemeiner – der Art und Weise des Zusammenlebens von Menschen sind. Dass seine Überlegungen auch für uns heute erhellend sein können, wird hoffentlich erkennbar, wenn wir die Frage danach stellen, was MacIver wohl über die Gesellschaft zu sagen hätte, in der wir heute leben.

Gleich im Vorwort stellt MacIver fest, dass der Mensch ein soziales Wesen ist:

„Wherever there is life there is society. For life can arise and continue only in its own presence, in the society of like beings. In the lowest stages of development the society whence new life arises is incredibly brief and slight, a mere moment of conjunction or proximity, but in higher stages life is always obviously social. It is born and nurtured in society, if finds its degree of fulfilment, its character, its limitation, in society” (MacIvers 1921: 1).

Gesellschaft (im weiten Sinn des Begriffs) ist für menschliches Leben aus dem im Zitat genannten Grund also eine Notwendigkeit und eine Tatsache, und man würde im Sinn MacIvers vielleicht besser sagen, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist statt ein soziales, denn die Aussage „Der Mensch ist ein soziales Wesen“ wird heutzutage gewöhnlich kollektivistisch interpretiert und mit Anklängen an Altruismus verbunden, der Menschen als moralische Pflicht zum Erhalt des „größeren Ganzen“ auferlegt wird, das als über ihnen stehend und wichtiger als das Individuum vorgestellt wird.

Gesellschaft erfordert, um bestehen zu können, Ähnlichkeit der Gesellschaftsangehörigen, und zwar wiederum aus praktischen Gründen:

„Society means likeness. It exists among like beings, like-bodied and like-minded. Otherwise they could not join to pursue their purposes, they could not in any sense live together. Comradeship, intimacy, association of any kind or degree would be impossible without some understanding of each by the other, and that understanding depends on the likeness which each apprehends in the other. Likeness may exist without creating society” (MacIver 1921: 1; Hervorhebung d.d.A.),

aber nicht umgekehrt bzw. “… there cannot be society without likeness” (MacIver 1921: 2).

Gesellschaft ist also nur im Rahmen grundlegender Ähnlichkeit – im allgemeinsten Sinn: aufgrund der Anerkennung geteilter Menschlichkeit – möglich. Aber Unterschiede sind für den Bestand einer Gesellschaft ebenfalls notwendig:

“Difference is also necessary to society, but difference by itself creates no society, only difference which is felt to be subordinate to likeness, thus affording the ground for reciprocal service towards common ends. Primary likeness and secondary difference create the greatest of all social institutions—the division of labour” (MacIver 1921: 2).

Für MacIver erfordert gesellschaftliches Zusammenleben also zunächst eine grundlegende Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit besteht nicht in äußerlichen Ähnlichkeiten, in Ähnlichkeiten mit Bezug auf die Herkunft, die Religion o.ä. oder in Ähnlichkeiten des Geschmacks, sondern sie sind grundlegender Art in dem Sinn, dass sie den Gesellschaftsmitgliedern das Miteinander- bzw. Aufeinanderbezogen-Handeln erlaubt. Oder anders gesagt: sie muss der Art sein, dass eine Verständigung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern möglich ist, worunter Verständigung rein praktischer Art durch Sprache oder Schrift ebenso zu fassen ist wie Verständigung durch gegenseitige Akzeptanz, durch die Möglichkeit und die Bereitschaft, sich probeweise „in die Schuhe des Anderen zu stellen“, seine Perspektive einzunehmen und die Legitimität seiner Perspektive bzw. der daraus resultierenden Anliegen, Wünsche, Befürchtungen etc. anzuerkennen.

Ob diese grundlegende Ähnlichkeit z.B. aufgrund der Bindung aller Gesellschaftsmitglieder an Überlieferung und Tradition besteht (oder in ihr ihren Ausdruck findet) oder auf der Bindung an eine Religion oder Philosophie mit entsprechend integrativen Weisungen oder Wertungen oder auf der Bindung an Individualrechte und Rechtsstaatlichkeit beruht, macht keinen Unterschied, so lange es nur etwas gibt, das die Gesellschaftsmitglieder auf sich selbst und aufeinander moralisch zu verpflichten bzw. sie zu integrieren im Stande ist.

Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder im beschriebenen Sinn ist für MacIver die unverzichtbare Grundlage, auf der Gesellschaft überhaupt nur existieren kann. Man könnte sagen, dass Gesellschaft ideelle Ähnlichkeit erfordert. Für ihre praktische (Weiter-/)Existenz sind aber auch Unterschiede notwendig, die in der Arbeitsteilung zwischen Gesellschaftsmitgliedern bzw. Gruppen von Gesellschaftsmitgliedern, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen, ihren Ausdruck finden. Solche Unterschiede bzw. eine solche Unähnlichkeit wirken/wirkt ebenfalls gesellschaftlich integrierend:

„ The term division of labour obscures the character of the institution, for it is in the first place a form of co-operation. It is more, however, than cooperation. Men may co-operate without division of labour, as when a group of navvies dig a ditch or a group of sailors haul a rope. Division of labour involves the assignment to each unit or group of a specific share of a common task … As the division of labour permeates further, it creates a new type of social cohesion … This new solidarity arises from the recognized dependence of each on each, not simply from the general sentiment of likeness or kinship” (MacIver 1921: 4).

Gesellschaftliche Integration durch Arbeitsteilung ist eine Integration spezieller Art. Dadurch, dass sie Abhängigkeit verschiedener Gesellschaftsmitglieder oder gesellschaftlicher Gruppen voneinander zur Folge hat, verfügt jedes Gesellschaftsmitglied bzw. jede gesellschaftliche Gruppe über ein gewisses Maß an Macht oder Einfluss, die/der wiederum zu einem gewissen Maß an Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder oder der gesellschaftlichen Gruppen führt:

„Under the division of labour each specialized interest organizes itself and learns its power. Where each is necessary to every other each has power over all. This common lever of power makes for a kind of equality. In a very literal sense it pulls down the mighty from their seats and exalts those of low estate. For the mere threat of the withdrawal of service becomes a formidable weapon, and its strength depends, not on the social estimation, but on the immediate social necessity of the threatened service. The need of society is more immediate (which does not of course mean greater) for dustmen than for judges and for dock-labourers than for members of parliament. Here is a significant challenge to the old bases of authority. It points to a new kind of social order, broader-based than any that has existed in the past. But in the process of obtaining it there arise conflicts which shake society. The new solidarity does not come as an automatic result of the division of labour, but only through the recognition, which must be slowly and painfully achieved, of the readjustments imposed by interdependence” (MacIver 1921: 5).

Oder anders gesagt. Die gegenseitige Abhängigkeit durch Arbeitsteilung muss als solche akzeptiert und gewürdigt werden, damit sie integrierend und ausgleichend wirken kann, und das wiederum verweist auf die Bedeutung der oben beschriebenen primären Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder oder –gruppen, denn wenn sie nicht gegeben ist, gibt es keine Basis, auf die sich verschieden Interessierte verpflichten lassen würden und damit auch keine Basis, auf der die jeweils Einen den gesellschaftlichen Beitrag der jeweils Anderen als einen legitimen Anspruch begründend akzeptieren sollten oder müssten.

Mit Bezug auf Arbeitsteilung unterscheidet MacIver zwischen „institutions“ und „associations“, also „Institutionen“ und „Vereinigungen“. Institutionen sind für ihn Normen oder Regeln oder formalisierte Beziehungen zwischen sozialen Akteuren, während Vereinigungen Zusammenschlüsse von Menschen sind, die bestimmte Normen oder Regeln oder formalisierte Beziehungen zwischen sozialen Akteuren sozusagen mit Leben füllen, sei es dadurch, dass sie sie für sich beanspruchen oder dadurch, dass sie sich als für sie zuständig erklären.

„To illustrate, we should call monogamy an institution, but the family an association; the party-system an institution, but the state an association; baptism an institution, but the church an association. Institutions are established and recognized forms of relationship between social beings. They may be so established either by particular associations, as in the instances above-mentioned, or by the community in general. Established customs or ” folkways ” belong to the latter class. Not infrequently an association takes over for special protection some institution which originally was a spontaneous creation of community. This is specially the way of the state. It has, for example, taken over the institution of property, originally a communal institution, and made it a legal institution” (MacIver 1921: 11),

wobei MacIver mit “community” einen

“ … circle [meint] in which a common life is lived, within which people more or less freely relate themselves to one another in the various aspects of life, and thus exhibit common social characteristics” (MacIver 1921: 8),

was man vielleicht am ehesten durch den deutschen Begriff “Gemeinschaft” zum Ausdruck bringen kann.

Mit der Unterscheidung zwischen „institution“ und „association“ macht MacIver möglich, dass nach dem Verhältnis, in dem Institution und Vereinigung stehen, überhaupt gefragt werden kann, also z.B. gefragt werden kann: wie gut repräsentieren Universitäten (als Vereinigungen) höhere Bildung (als Institution) bzw. vermitteln sie höhere Bildung oder die Grundlagen höherer Bildung? Und solche Fragen bedürfen einer empirisch begründeten Antwort. Damit erteilt MacIver Gleichungen wie „Wo Universität draufsteht, ist Wissenschaft drin“ eine klare Absage.

Aus dem obigen Zitat wird auch erkennbar, dass der Staat eine Vereinigung ist, aber keine „community“ ist oder sein kann:

„It is highly important that we should realize that the state is not a community, not a whole common life, but only a particular association for its furtherance. The identification of community and the state has led, alike in theory and in practice, to disastrous conclusions. This false conception, accepted by a long line of political theorists, has lent support to the principle of the unlimited sovereignty of the individual state, such that it owes no express obligation to others, being by nature a completely independent and morally unlimited power. It has justified the exclusiveness of governments by which, under the stimulation of selfish interests, they have denied the common interest which binds people to people, and striven to isolate, only in fact to frustrate and to destroy, the conditions of the welfare of each. Within the state it has led to tyrannous encroachment over the free life of other associations, to a coercive uniformity in respect of religion, education, language, and opinion, against which the creative spirit in man has had to wage incessant war. The state is an association of fundamental value, because to it belongs the establishment and maintenance of the whole system of enforceable rights and obligations, the basis of order and of liberty. It is an essential association of community, but it is not community. Nor can it fulfil its vast social function aright unless that distinction is realized” (MacIver 1921: 10-11).

Die Funktion des Staates als Vereinigung ist es, Garant der Einhaltung von Rechten und Pflichten zu sein:

„What then remains for the state? What common interests can it pursue which directly and vitally concern all men, for this is implied by the special character of the state, and which are not the preserve of specific associations? If not any of the ultimate interests, it must be some condition of them all. Thus we find that, in fact, every state is concerned with justice. Plato long ago defined as ‘the minding of one’s own business’ so that others can do the same, and this is a universal interest. In furtherance of it the state formulates a code, or rather a series of codes[,] … the criminal code … and the civil code …” (MacIver 1921: 89).

Die Existenz des Staates ist nur solange gewährleistet, und er kann seine Funktion als Garant der Einhaltung von Rechten und Pflichten nur so lange erfüllen, so lange er nicht versucht, mehr oder etwas anderes zu sein. Versucht er es, stößt er unweigerlich auf Widerstand durch andere Vereinigungen (z.B. Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände), und

„… not only are there other powers which can nullify the coercive force of the state, but there are spheres where such force is by its very nature futile. Force can command only the external, the formal. It cannot enjoin a spirit, a belief, or a form of culture. When it seeks to, it only destroys” (MacIver 1921: 87-88).

Was hätte MacIver also zum derzeitigen Zustand der westlichen Gesellschaften zu sagen, wenn er noch leben würde? M.E. läßt die Lektüre MacIvers kaum einen anderen Schluss zu, als dass er meinen würde, dass sie in unmittelbarer Gefahr stehen, zu zerbrechen:

Während der vergangenen Jahrzehnte wurde und wird unablässig daran gearbeitet, soziale Gruppen auf künstliche Weise voneinander zu differenzieren, sie als antagonistische Gruppen aufzubauen und gegeneinander auszuspielen, eine Entwicklung, die inzwischen so weit fortgeschritten ist, dass in mainstream-Medien danach gerufen werden kann, bestimmte Bevölkerungs- bzw. Berufsgruppen unter „ihresgleichen“ auf der Müllhalde zu entsorgen.

Gleichzeitig haben Institutionen ihre Funktion bzw. die Herstellung ihres speziellen Produktes zugunsten symbolischen Handelns im Sinne von „virtue signalling“ bzw. der Demonstration von Tugendhaftigkeit in den Hintergrund gestellt, wie Howard Schwartz (1987) für die USA schon am Ende der 1980er-Jahre systematisch aufgearbeitet hat, und für jeden von uns leicht nachzuvollziehen ist, wenn er z.B. beobachtet, dass Gillette nicht mehr für die beste Rasur durch seine Produkte wirbt, sondern für die psychologische Selbstkasteiung und –reinigung von Männern ob ihrer schlichten Männlichkeit eintritt, dass Schulen und Universitätten dazu übergegangen sind, nicht vorrangig (wenn überhaupt) Bildung zu vermitteln, sondern eine bestimmte Gesinnung, dass Unternehmen statt Investitionen zur Erhöhung ihres Profits und der Sicherung der Arbeitsplätze vorzunehmen, karitativ tätig sind oder dass Gewerkschaften sich nur noch vorgeblich für Interessen von Arbeitern engagieren, während sie tatsächlich daran arbeiten, Transferexistenzen zu ermöglichen.

Wenn Vereinigungen im Sinn MacIvers immer mehr damit beschäftigt sind, sich weltanschaulich zu verorten und “virtue signalling” zu betreiben, statt diejenigen Funktionen zu erfüllen, für deren Erfüllung sie speziell zuständig oder bestimmt sind, dann ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung gefährdet, und damit ein wichtiger gesellschaftlich integrierender Faktor. Sie sind dann nicht mehr voneinander abhängig, können sich dementsprechend nicht gegenseitig ausbalancieren oder korrigieren, sondern konkurrieren um dasselbe, das keinerlei Nutzen für die Gesellschaft erbringt: vorgebliche Tugendhaftigkeit. Die Funktionserfüllung bleibt dann zunehmend auf der Strecke, so z.B. – derzeit auffällig – im Bereich der Bildung und Forschung, was wiederum nicht nur dazu beiträgt, den Lebensstandard der Gesellschaftsmitglieder zu minimieren, sondern auch die Gesellschaft im internationalen Kontext zunehmend irrelevant macht, was seine eigenen wirtschaftlichen und militärischen Gefahren mit sich bringt.

Besonders bedenklich würde MacIver vermutlich die Tatsache finden, dass der Staat oder wichtige Organe des Staates in westlichen Gesellschaften seine/ihre Funktion nicht erfüllt/en, also kein verläßlicher Garant der Einhaltung von Pflichten und Rechten mehr ist, z.B. dann, wenn Einrichtungen des Staatsschutzes oder Gerichte Sachbeschädigung oder Plünderungen durch Gewalttäter mit bestimmter ideologischer Ausrichtung als Kollateralschaden von „Demonstrationen“ einstufen und ungeahndet lassen, während schon rein symbolisches Handeln von Personen mit bestimmter anderer ideologischer Ausrichtung, z.B. die Bemalung einer Fußgängerbrücke mit einem Hakenkreuz, als Straftat verfolgen und ahnden.

Oder dann, wenn Personen, die totalitäre Systeme bzw. Menschenrechtsverletzungen, die sie praktiziert haben, explizit gutheißen und sich in diesen Systemen unterstützend positioniert haben, in die Position eines Hüters der Verfassung bzw. des Grundgesetzes eines Staates kommen können, der sich als demokratisch versteht und dessen Verfassung/Grundgesetz die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Staat garantieren soll.

Wenn derselbe Staat sich gleichzeitig anschickt, mehr und mehr Funktionen an sich zu binden, die er nicht zu erfüllen braucht und nicht effizient erfüllen kann, z.B. verbindliche Maßstäbe darüber vorgeben will, wie Unternehmen Vorstände zu besetzen haben, wie Menschen in der Gesellschaft zu sprechen haben, welche Einstellungen sie zu haben haben, welchen Behauptungen sie ungeprüft Glauben zu schenken haben und welche sie erst gar nicht zu hören bekommen sollten, u.v.m. dann hätte der Staat seine Legitimität vollständig eingebüßt. Ein solcher Staat wirkt außerdem destruktiv, denn

“… provided with a great organization for control and for co-ordination, the state is in a position to bring aid and support to other associations in the fulfilment of their interests” (MacIver 1921: 91; Hervorhebung d.d.A.).

Wenn er aber – umgekehrt –“other associations” dominiert, ihnen Vorgaben macht, die nicht in ihrem Interesse sind (und ihre Interesse wird durch ihre spezifische Funktion definiert!), verhindert er die Funktionserfüllung dieser anderen Vereinigungen und schränkt deren Fähigkeit, im Interesse gesellschaftlicher Integration einander zu korrigieren und auszubalancieren, erheblich ein.

MacIvers hat staatliche Intervention nicht vollständig abgelehnt, aber diesbezüglich zu großer Zurückhaltung geraten:

„It [der Staat] can endow research, develop the resources of the country, act as a great protective agency against the otherwise disastrous economic hazards of unemployment, accident, and ill-health, stimulate and endow the associations devoted to the higher or cultural interests. The taxing powder of the state gives it facilities for these services which other associations lack. On the other hand there is need for great caution here. Where two or more associations within community are divided on some cultural issue the state cannot without harm take the side of one of these, say of one church among others. For the same reason it must beware of attempting to interfere with the spontaneity and self-direction which is the essential condition of the successful associational pursuit of knowledge or literature or religion or art or higher education or the co-operative enterprise of the professions and industries. Here, apart from certain general regulations already indicated, the hand of the state becomes heavy and repressive. The life of associations develops from within. The particularity of other associations gives them a flexibility, an intimacy, an initiative which the state can never attain” (MacIver 1921: 91).

Und dies verweist auf die Rolle des Staates lediglich als Garant der Einhaltung von Pflichten und Rechten (bzw. Verträgen und Vereinbarungen) zurück: Nur das, was andere Vereinigungen oder Personen in einer Gemeinschaft vereinbart haben, kann der Staat ermöglichen oder befördern. Versucht der Staat die spezifischen Funktionen oder Interessen anderer Vereinigungen zu okkupieren, wird er nicht nur mehr oder weniger schnell mehr oder weniger kläglich scheitern – findet man überzeugende Wärme und Verständnis bei den selbstgewählten Freunden oder Lebenspartnern oder in der staatlich organisierten Zuwendungsgruppe!? –, sondern er stellt auch eine Gefahr für die Integrität der Gesellschaft dar, eben weil er anderen Vereinigungen ihre Funktionen abspenstig macht oder in Konkurrenz zu ihnen tritt.

Es wäre an den „anderen Vereinigungen“, ihre Funktionen gegen Übernahme durch den Staat zu verteidigen, aber dies ist von Vereinigungen, die ihre Funktion ohnehin nicht mehr erfüllen können oder wollen oder beides und statt dessen symbolisches Handeln pflegen, kaum zu erwarten. Und daher ergibt sich ein Teufelskreis, angesichts dessen, so fürchte ich, MacIver auf die derzeitigen westlichen Gesellschaften mit einigem Pessimismus blicken würde.

Aber was ist mit der grundlegenden Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder, auf denen Gesellschaften beruhen? sie (noch)? In jedem Fall muss die Ähnlichkeit, auf der eine Gesellschaft beruht, eine gefühlte und gelebte sein. Sie kann nicht in bürokratisch verordneter Gleichheit der Lebensverhältnisse, der Ergebnisse, der Einstellungen etc. liegen:

„What an absurd idea of general welfare it would be that requires the infants to eat meat or the adults to subsist on milk! Such uniformity is the principle of the tyrant, of the mob, of the uneducated, of all bureaucrats, against which true democracy becomes a bulwark, a protest, a form of order” (MacIver 1921: 145).

Es scheint, dass wir in westlichen Gesellschaften Demokratie gegen all diejenigen Vereinigungen werden verteidigen müssen, deren Funktion vorgeblich ist (und vielleicht tatsächlich einmal war), dieselbe zu ermöglichen oder zu repräsentieren. Ein kleiner Schritt in diese Richtung wäre es vielleicht, wenn die Zusammenhänge, die MacIver hergestellt hat, jedem Studenten der Soziologie und jedem Studenten der Politikwissenschaft bekannt gemacht würden, aber dies würde voraussetzen, dass die entsprechenden Dozenten sie kennen, dass sie sie vermitteln können und wollen. Und wie wahrscheinlich ist das angesichts des derzeitigen Zustandes der Vereinigung zur Vermittlung höhrrer Bildung, genannt Hochschule oder Universität?!


Literatur:

Hałas, Elżbieta, 2001: How Robert M. MacIver was Forgotten: Columbia and American Sociology in a New Light, 1929–1950. Journal of the History of the Behavioral Sciences 37(1): 27-43.

MacIver, Robert Morrison, 1947: Regierung im Kräftefeld der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Verlag der Frankfurter Hefte.

MacIver, Robert Morrison, 1951: Zivilisation und Gruppenbeziehungen: eine Sammlung von Vorlesungen. Hamburg: Christian-Verlag.

MacIver, Robert Morrison, 1921: The Elements of Social Science. London: Methuen & Co.



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