Auf der Suche nach „sozialen Kausalitäten“ („social causations“)

Robert M. MacIvers Entwurf der Sozialwissenschaften

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Der Text, in dem ich vor Kurzem an den fast vergessenen Soziologen und Politikwissenschaftler Robert M. MacIver erinnert habe und in dem ich eines seiner Bücher (nämlich „The Elements of Social Science“ aus dem Jahr 1921) mit Bezug auf die Frage nach dem Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens vorgestellt habe, ist – gemessen an den Leserzahlen – erfreulicherweise auf großes Interesse gestoßen.

Deshalb habe ich mich entschlossen, ein weiteres Werk von MacIver vorzustellen, diesmal ein späteres Werk, nämlich sein Buch mit dem Titel „Social Causation“, das zuerst im Jahr 1942 erschienen ist. In diesem Buch widmet sich MacIver den Fragen, was eigentlich der Gegenstand der Sozialwissenschaft ist, was diesen Gegenstand auszeichnet, was Sozialwissenschaften leisten und was sie nicht leisten können, wie Erklärungen in den Sozialwissenschaften beschaffen sein können (bzw. nicht beschaffen sein können) und wie sie beschaffen sein sollten. Trotz der Tatsache, dass auch dieses Werk von MacIver der Vergessenheit anheim gefallen ist, hätte es m.E. den Status eines Klassikers der Sozialwissenschaften oder genauer: der Methodologie der Sozialwissenschaften, verdient, weil sozialwissenschaftliches Arbeiten nur (sinnvoll) möglich ist, wenn man diese Fragen gestellt und sie in kohärenter Weise beantwortet hat. Jeder Student der Sozialwissenschaften sollte deshalb m.E. diese Fragen auf systematische Weise behandelt haben, und das Buch von MacIver verdeutlicht die Implikationen der Antworten auf diese Fragen auf verständliche und überzeugende Weise.

Ausgangspunkt für MacIver ist die Frage nach der Aufgabe von Sozialwissenschaft:

Sozialwissenschaften sollten sich nicht damit bescheiden, zu beschreiben oder zweifelhafte Klassifikationen vorzunehmen. Ebenso wenig sollten sie Inventarlisten von Faktoren anfertigen, die im Zusammenhang mit einem sozialen Phänomen wichtig sein sollten, wahrscheinlich oder plausiblerweise wichtig sind oder sich in einer statistischen Korrelation zu ihm befinden:

„Correlation techniques are extremely useful in many areas of investigation, both in the physical and in the social sciences, but their heuristic value is small where the correlated variables do not fall within or cannot be brought within a single coherent order” (S. 92)

“… the discovery of a correlation can serve only as a starting point for further investigation and analysis“ (S. 93),

Das heißt, eine gefundene Korrelation ergibt selbst keine hinreichende Erklärung für die Größe, die in der Korrelation als abhängige Variable (als „Effekt“) vorgestellt wird, durch die andere Größe in der Korrelation, die als die unabhängige Variable („Ursache“) vorgestellt wird. Kausalität wird für uns nur in der Beobachung und Untersuchung von Unterschieden („differences“) greifbar:

„If the principle of causality holds at all, then difference depends on difference. To discover how difference in the consequent depends on difference in the antecedent is the primary problem of investigation” (S. 65).

Deshalb ist es auch sinnlos, allgemein nach den Urachen z.B. von Kriminalität zu fragen:

„It is vain to seek the causes of crime as such, of crime anywhere and everywhere. Crime is a legal category. The only thing that is alike in all crimes it that they are alike violations of law. In that sense the only cause of crime as such is the law itself. What is a crime in one country is no crime in another; what is a crime at one time is no crime at another. The law is forever changing, adding new crimes to the catalogue and cancelling former ones … Crime, then, is essentially relative. It has no inherent quality or property attaching to it as such, attaching to crime of all categories under all conditions … Since crime, as a category of social action, has no inherent universal property, we cannot expect to find, in the variety of persons who are convicted of crimes, any one psychological or physiological type, any character trait whatever that differentiates them all from other persons” (S. 88-89).

Die Ursache von Kriminalität liegt trivialerweise in der Existenz von Gesetzen, die bestimmte Handlungen von Menschen als kriminell definieren (und dementsprechend mit Sanktionen verbinden). Das ist nicht das, was Sozialwissenschaftler interessiert, oder anders gesagt: sie interessieren sich nicht für Kriminalität, sondern für die Handlungen, die im Gesetz als kriminell definiert sind und die Menschen (trotzdem) ausführen.

Ebenso wenig interessieren sie sich für Quoten, Raten oder allgemein für Verteilungen als solche. Dass z.B. die zusammengefasste Geburterate für das Jahr 2017 in Deutschland bei 1,57 Kinder je Frau lag, ist als solches nicht besonders interessant. Und wie wollte man eine sinnvolle Antwort auf die Frage geben: „Was sind die Ursachen dafür, dass die zusammengefasst Geburtenziffer für das Jahr 2017 in Deutschland bei 1,57 Kinder je Frau lag“?

Interessant und einer Erklärung zugänglich wird ein solches Datum nur dann, wenn man es mit anderen vergleichbaren Daten in Verbindung bringt, d.h, wenn es eine Veränderung oder einen Unterschied anzeigt, und auch dann gilt:

„The statistical fact is not a decrease of births or an increase of marriages or an increase of divorces or an increase of crimes, but an increase or decrease within an order of things – and it is not a rate, but only a meaningsless arithmetical manipulation, if we combine in one statistical expression the figures representing the birth-rate of the United States with the figures representing the birth-rate of Tahiti” (MacIver 1964: 325; Hervorhebung d.d.A.).

Deshalb votiert MacIver für einen Vergleich zwischen Zeiträumen oder einen Vorher-Nachher-Vergleich innerhalb desselben kulturellen Kontextes oder zwischen ähnlichen kulturellen Kontexten. Ein solcher Vergleich ist ein rein beschreibendes Unterfangen. Er liefert an sich keine Erklärung für das eine oder das andere statistische Datum oder den Unterschied zwischen den beiden Daten. Die vergleichende Betrachtung ist aber deshalb so wichtig, weil sie anzeigt, dass eine Veränderung stattgefunden haben muss, die als Veränderung im Betrag der in Frage stehenden Größe sichtbar wird (zeitliche Veränderung bzw. Vergleich zwischen Zeiträumen) oder ein Unterschied bestehen muss, in dessen Folge die in Frage stehende Größe unterschiedliche Beträge annimmt (Vergleich zwischen kulturellen Kontexten bzw. gesellschaftlichen Bedingungen).

Die Veränderung oder der Unterschied selbst sind keine „Ursachen“ für irgendetwas, aber sie verweisen darauf, dass sich Menschen in den betrachteten Zeiträumen oder kulturellen Kontexten mit Bezug auf die Handlungen voneinander unterscheiden, die die interessierende Größe bestimmen. Die Geburtenrate z.B. ist eine Form der Beschreibung des Fortpflanzungsverhaltens von Frauen im gebärfähigen Alter, und das seinerseits anzeigt, welche Entscheidungen Frauen mit Bezug auf das Kinder-Bekommen getroffen haben:

„Now if we rule out as inadequate a biological explanation in terms of increasing sterility, the change in the birth-rate is a revelation of purposive behaviour and thus of a change within the valuational order. In myriads of families the dynamic assessment, the choice of alternatives, has undergone change. The balance of valuation with respect to alternatives of action has shifted … Conditions and considerations that at an earlier period were not operative have now developed so as to favour a limitation of the size of the family. But to see this fact aright we must view it as a change in a larger scheme of valuation. ” (MacIver 1964: 326).

Hier wird erklärt, wie es zu der beobachteten Veränderung kam, d.h. hier wird versucht, das beobachtete Phänomen zu erklären. Das beobachtete Phänomen ist der Effekt, der durch Ursachen hervorgebracht wird, die wir als Sozialwissenschaftler suchen. Und die Erklärung dafür, dass und wie die Ursache den Effekt hervorbringt, führt über das, was MacIver den „causal nexus“ nennt, den Knotenpunkt, an dem das zusammenläuft, was Sozialwissenschaften als mit sozialen Phänomenen beschäftigt speziell macht: den Menschen in seinem sozialen oder kulturellen Kontext, der Erfahrungen gemacht hat, Ziele und Wünsche hat, eine Vorstellung davon, wie diese Ziele und Wünsche in der Gesellschaft, die ihn umgibt, erreichbar sind, Vorlieben und Abneigungen hat etc. Nagel (1942: 555) nennt den „kausalen Nexus“ von MacIver deshalb auch den „socio-psychological nexus“. Nur an diesem Punkt, beim einzelnen Menschen, kann der Sozialwissenschaftler Kausalität zu fassen bekommen, kann er beobachten oder rekonstruieren, dass und wie bestimmte Vorannahmen und Erwägungen zu Entscheidungen bzw. zu Handlungen führen, die ihrerseits die sozialen Phänomene als solche hervorbringen.

Was MacIver hier im Auge hat ist nicht einfach das Kalkül der Entscheidungstheorie, sondern etwas, was MacIver selbst „dynamic assessment“ nennt und das man vielleicht am treffendsten mit „dynamischer Bestandsaufnahme“ oder „Prozess der Bestandsaufnahme“ ins Deutsche übersetzt. Damit meint MacIver jenen Prozess des bewussten (und subjektiven) Zur-Kenntnisnehmens von Zusammenhängen und der Formulierung und Abwägung von Handlungszielen sowie der Auswahl von Mitteln, die zu den Handlungszielen führen sollen, auf der Basis dieser Zusammenhänge, der unseren Handlungen zugrunde liegt.

Die Einschätzung, die zu Handlungsentscheidungen führt, ist dynamisch bzw. ein Prozess, weil sie sich (zumindest analytisch) in mehrere aufeinanderfolgende Schritte unterscheiden lässt. Sie mag mit der Wahrnehmung eines allgemeinen Gefühls von Unzufriedenheit beginnen, die einem die Frage stellen läßt, ob man nicht einen „Tapetenwechsel“ verdient hat, und dann fällt einem der Prospekt des Reiseunternehmens ein, den man vor ein paar Tagen in der Post fand, und man denkt: „Ich könnte einmal darin blättern und schauen, welche Ziele sie anbieten und was mich ein Kurzurlaub so kosten würde; wo hab‘ ich bloß diesen Prospekt hingelegt?“. Dann fällt einem ein, dass man mit seinem Ehepartner darüber reden muss und ihn fragen könnte, was er von einem gemeinsamen Kurzurlaub halten würde, wann er Urlaub nehmen könnte, usw. usw. bis hin zu Telefonaten, die man sich vornimmt, um einen Katzen-sitter für die Urlaubswoche und einen Stellplatz für das Autor am Flughafen zu organisieren. Die Handlungsentscheidung „Urlaub-Machen“ ist de facto das Ergebnis eines Prozesses, bei dem ein Gedanke zum anderen führte, Vor-und Nachteile verschiedener Handlungsalternativen erwogen wurden, eine Bestandsaufnahme darüber gemacht wurde, welche Zwischen-Handlungen (wie das Beantragen von Urlaub und die Organisation des Katzen-Sitters) notwendig sein werden, wie aufwändig oder wahrscheinlich das Erreichen dieser Zwischen-Handlungen sein wird

„In all conscious behavior there is thus a twofold process of selective organization. In the one hand the value-system of the individual, his active cultural complex, his personality, is focussed in a particular direction, towards a particular objective” [wie z.B. einen “Tapetenwechsel” herbeizuführen] .. On the other hand certain aspects of external reality are selectively related to the controlling valuation, are distinguished from the rest of the external world, are in a sense withdrawn from it, since they now become themselves value factors, the means, obstacles, or conditions relevant to the value quest. The inner, or subjective, system is focussed by a dynamic valuation; and the outer, or external, system is ‘spotlighted’ in that focus, the part within the spotlight being transformed from mere externality into something also belonging to a world of values, as vehicle, accessory, hindrance, and cost of the value attainment … (MacIver 1964: 293; Hervorhebung im Original);

und diese Transformation ist es, die den „kausalen Nexus“ bildet, durch den die dem Menschen externe soziale Umwelt – oder besser: je nach Situation bestimmte Elemente derselben – zu etwas für ihn bzw. für sein Handeln Relevantem wird. „Dynamisch“ nennt MacIver die Bestandsaufnahme auch deshalb, weil Elemente der objektiven Umwelt in Elemente der „inneren“, subjektiven Welt, in bedeutsame Elemente, transformiert werden.

Absichtsvolles menschliches Handeln basiert immer auf solchen Prozessen der dynamischen Bestandsaufnahme, aber weil die Frage, welche Elemente der objektiven Umwelt von einem Menschen zur Kenntnis genommen und mit Bedeutung versehen werden, nicht pauschal beantwortet werden kann, kann menschliches Handeln auch nicht einfach aus den Bedingungen bzw. den Gegebenheiten in der sozialen Umwelt abgeleitet werden – ein Irrtum, dem all diejenigen unterliegen, die sich darin gefallen, andere Menschen manipulieren bzw. „nudgen“ zu wollen. Aber selbst dann, wenn das möglich wäre, hätte man damit keine Erklärung geliefert, denn Bedingungen erklären an sich kein Handeln:

„Conditions, so to speak, are the consentient or conspiring circumstances in which a specific causal operation occurs“ (MacIver 1964: 40).

Sie beeinflussen die “causal operation”, soweit sie wahrgenommen, für relevant befunden etc. werden, aber sie sind selbst keine Erklärungen für Handlungen.

Und weil niemand im Stande ist, im Rahmen dieses Prozesses die Gesamtheit aller möglichen Handlungsalternativen, ihrer Werte und Wahrscheinlichkeiten zu berücksichtigen, sondern eine persönliche Auswahl in der Wahrnehmung (vermeintlich) relevanter Umstände und Zusammenhänge trifft, die wiederum von seinen Vorerfahrungen und Vorlieben abhängig ist, werden sich Menschen immer darin unterscheiden, wie sie eine Situation wahrnehmen, auch dann, wenn sie zu gleichartigen Handlungsentscheidungen kommen bzw. gleichartiges Handeln zeigen, wie z.B. der, Urlaub zu machen bzw. eine Reise buchen:

„Thus no two individuals envisage and define a situation in exactly the same way, even when they make a seemingly identical decision and even although social influences are always powerful at work to merge individual assessments into a collective assessment“ (MacIver 1964: 296).

Dies ist von großer Bedeutung: Wenn soziale Phänomene erklärt oder auch nur postuliert werden, ohne dass auf den kausalen Nexus beim Menschen und seinem absichtsgeleiteten Handeln Bezug genommen wird, dann kann z.B. ein weitverbreiteter „Rassismus“ oder „Sexismus“ in einer Gesellschaft behauptet werden, nur, weil z.B. bestimmte Positionen nicht durch die Anzahl von Personen einer „Rasse“ oder eines Geschlechtes besetzt sind, die ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde; Menschen mit schwarzer Hautfarbe oder Frauen, so die Behauptung, werden eben irgendwie daran gehindert, in solche Positionen zu kommen, wobei die eigene Bewertung solcher Positionen als erstrebenswert ohne weitere Begründung (und einfältigerweise) als Prämisse gesetzt wird; das Ganze ist irgendwie „strukturell“ verursacht. Einen solchen Zusammenhang wie z.B. den zwischen Anteil der Geschlechter in der Gesamtbevölkerung und ihrem Anteil unter, sagen wir: Physikern zu postulieren, eine statistische Unterrepräsentation eines Geschlechtes unter Physikern als Indikator für eine sexistische Gesellschaft zu behaupten, ist bloß eine statistische Spielerei, der keine gelebte Realität entspricht, eben deshalb, weil (bzw. solange, wie) sie die dynamischen Bestandsaufnahmen von Menschen ignoriert – oder aus empirischen Gründen ignorieren muss, denn es dürfte schlichtweg niemand auffindbar sein, der sich z.B. als Frau dazu entschließt, Physik zu studieren, um den Anteil von Frauen in der Physik auf das Niveau des Anteils von Frauen an der Gesamtbevölkerung zu bringen, – bekanntermaßen tun nicht einmal weibliche Genderisten dies, sondern ziehen es vor, „Gender Studies“ oder „cultural studies“ zu studieren –, oder sich als Mann dazu entschließt, Physik zu studieren, um dazu beizutragen, dass der Anteil von Frauen in der Physik unterhalb ihres Anteils der Gesamtbevölkerung bleibt, bzw. um zur Existenz einer sexistischen Gesellschaft beizutragen.

Wenn wir die dynamischen Bestandsaufnahmen bzw. das absichtsvolle Handeln von Menschen nicht kennen, dann können wir nicht wissen, ob und warum sich Menschen (die sich verschiedenen „Rassen“, „Geschlechtern“ etc. zuordnen lassen) so und nicht anders für bestimmte Handlungen entscheiden, ob und warum ihre Handlungsentscheidungen ggf. ein bestimmtes Muster aufweisen bzw. wie das ggf. vorhandene Muster zustandekommt. Wenn wir dies nicht wissen, können wir keine Erklärung für die Differenz in der Verteilung von z.B. Physik-Studenten auf die Geschlechter liefern, wir können nur Formeln vorbringen, als ein

„… device[…] … employed to skirt around the difficulties of a direct attack on the problem“ (MacIver 1964: 75)

bzw.

.”… pseudo-explanations in which the phenomenon under investigation is not properly specified or in which the purported causes are not specifically related to the phenomenon“ (MacIver 1964: 124).

Wenn wir uns für die dynamischen Bestandsaufnahmen bzw. das absichtsvolle Handeln von Menschen nicht einmal interessieren, betreiben wir notwendigerweise gar keine Sozialwissenschaften, denn es gibt keine sozialen Phänomene jenseits der Menschen, die sie hervorbringen, weshalb nur ihr Handeln einen Zugang zur Erklärung sozialer Phänomene ermöglicht:

„For unless we can discern the causal nexus of things we do not know the way they belong together or the way they are set apart, we do not know the nearer and the more inclusive systems they constitute, we do not know their behaviour or their properties or the routes they follow in their changing relationships” (MacIver 1964: 77).

Riskieren die Sozialwissenschaften, wenn sie Prozesse der dynamischen Bestandsaufnahme als kausalen Nexus in den Mittelpunkt aller Sozialwissenschaten stellen, nicht, zu einer Art Psychologie zu werden, zu einem Atomismus, der sich in der Betrachtung der subjektiven Welt einzelner Menschen erschöpft? Immerhin gilt:

„The social sciences are not concerned with the particular behavings of individuals but with the inter-related activities that constitute or reveal group behavior“ (MacIver 1964: 300).

Tatsächlich ist die dynamische Bestandsaufnahme, die Menschen machen, notwendig, um Kausalität in den Sozialwissenschaften überhaupt fassbar machen zu können, aber sie ist nicht das Ende des sozialwissenschaftlichen Unterfangens, sondern der – wie gesagt – unverzichtbare Anfang. Weil es (per definitionem) keine sozialen Phänomene gibt, die nicht von Menschen hervorgebracht werden, ist

„[t]he dynamic assessment … for us the preparatory stage of the particular nexus we call social causation” (MacIver 1964: 305).

Durch diese Vorbereitungsphase der Erklärung sozialer Phänomene kann das in Frage stehende soziale Phänomen näher bestimmt werden:

Es kann sich zum einen um ein Verteilungsphänomen („Distributive Phenomena“; MacIver 1964: 304) handeln, das dadurch zustande kommt, dass verschiedene Menschen voneinander unabhängig Bestandsaufnahmen machen, die zu ähnlichen oder den gleichen Handlungsentscheidungen bzw. zu entsprechendem Handeln führen. In der Literatur zur soziologischen Erklärung auf Basis des methodologischen Individualismus oder der Theorie des rationalen Handelns werden solche Phänomene oft als Aggregatphänomene bezeichnet, weil die Handlungen von Menschen nicht in Interaktion, sondern im Aggregat zum beobachteten Phänomen führen. So wird z.B. auch die Kriminalität in der Gesellschaft durch die Kriminalstatistik fassbar, in der die Fälle krimineller Handlungen aggregiert sind. So kommt z.B. die Kriminalitätsrate nicht dadurch zustande, dass Menschen in Reaktion auf- oder Absprache miteinander beschlossen haben, sich kriminell zu verhalten, vielleicht, um die Kriminalitätsrate zu erhöhen, sondern dadurch, dass sich Menschen als Individuen, jede/r für sich, kriminell verhalten. Kriminelle Handlungen individueller Menschen werden in der Kriminalstatistik aufsummiert und können als Kriminalitätsrate dargestellt werden.

Zum anderen kann es sich um ein Kollektivphänomen handeln („Collective Phenomen[on]“; MacIver 1964: 304), das sich vom Verteilungs- oder Aggregatphänomen dadurch unterscheidet, dass die Bestandsaufnahmen, die Menschen machen, sie zu aufeinander abgestimmten Handlungsentscheidungen oder Handlungen führen. In MacIvers eigenen Worten sind „Collective Phenomena“

„[d]irectly expressive of the like or converging assessments of a number of people, as they issue in concerted and unified action, such as a legal enactment or an organizational policy” (MacIver 1964: 304).

Hier wird deutlich, dass MacIvers Entwurf der Sozialwissenschaften keineswegs einen Reduktionismus auf das Individuum bedeutet, und er stellt klar:

„… individual assessments are not independent, self-contained operations, especially where issues of moment to the whole group are involved. They are responsive, alike in stability and change, to the group-sustained mores” (MacIver 1964: 309).

Und an diesem Punkt verweist der kausale Nexus, die dynamische Bestandsaufnahme, die Menschen machen, zurück auf die Wichtigkeit von Veränderungen als Forschungsgegenständen der Sozialwissenschaften, denn sie verweisen auf veränderte Bestandsaufnahmen, die Menschen machen, die wiederum zu veränderten Handlungsentscheidungen geführt haben:

„… every evaluation affects and must be related to the larger system of values. Until that system has been adapted to the specific revaluations, only aberrant, pioneering, or disorientated individuals are likely to adopt it” (MacIver 1964: 309),

aber Pioniere der Veränderung verändert mit ihren Handlungen die soziale Umwelt und damit die Bestandsaufnahmen und Handlungen weiterer Menschen.

Schließlich kann es sich bei dem in Frage stehenden sozialen Phänomen um ein “Conjunctional Phenome[on]“ (MacIver 1964: 305) handeln, das dadurch entsteht, dass die verschiedenen Bestandsaufnahmen und Handlungen von interdependenten Individuen oder Gruppen zu von den Menschen unbeabsichtigten Ergebnissen („unpurposed resultants“; MacIver 1964: 305) führen. Als ein Beispiel hierfür nennt MacIver den Wirtschaftszyklus in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem.

Sind solche Phänomene aber nicht gerade solche, für die die dynamische Bestandsaufnahme von Menschen bzw. ihr absichtsvolles Handeln irrelevant ist, die eben gerade nicht durch die Bestandsaufnahme von Menschen bzw. ihr absichtsvolles Handeln zustandekommen? Nein, denn unbeabsichtigte Ergebnisse werden als solche nur fassbar vor dem Hintergrund beabsichtigter Ergebnisse bzw. stellen sich als Ergebnisse des absichtsvollen Handelns von Menschen ein, auch, wenn die Menschen mit ihrem Handeln nicht dieses Ergebnis, sondern ein anderes angestrebt haben, so, wie z.B. ein Stau auf mehreren Autobahnen ein unbeabsichtigtes Ergebnis des absichtsvollen Handelns von Menschen ist, die den Beginn der Ferienzeit dazu nutzen, in Familienurlaub zu fahren.

Umgekehrt sind unbeabsichtigte Ergebnisse für die dynamischen Bestandsaufnahmen von Menschen wichtig:

„Man schemes and contrives under conditions that change and divert his actions into new conditions for new scheming and contriving” (MacIver 1964: 321),

und so fließt der Stau auf Autobahnen am Beginn der Ferienzeit als zur-Kenntnis-genommenes Element der sozialen Umwelt bei jemandem in seine dynamische Bestandsaufnahme der Situation ein und lässt ihn vielleicht seinen Urlaub aufschieben oder per Bus und Flugzeug an den Urlaubsort kommen,

„[b]ut through it all he contributes the causal factor that distinguishes the area of social causation from all others, the factor of dynamic assessment” (MacIver 1964: 321).

MacIver gibt im Verlauf seiner Darstellung eine Reihe von Beispielen, diskutiert Sonderfälle, geht auf das Verhältnis zwischen individueller Bestandsaufnahme und dem, was er „group assessment“ (MacIver 1964: 308) nennt, ein u.v.m. Dies alles kann hier – vielleicht ohne allzu großen unmittelbaren Verlust – nicht dargestellt werden. Hingewiesen werden soll aber noch auf den Teil der Darstellung im Buch von MacIvers, in dem er einige Implikationen seines Programms der Sozialwissenschaften diskutiert bzw. einige allgemeine Grundsätze für die Sozialwissenschaften formuliert.

In diesem Zusammenhang geht MacIver auf die Möglicheit der Sozialwissenschaften ein, Prognosen darüber zu machen, welche Folgen eine Veränderung (wahrscheinlich) haben wird, z.B. die Ausbreitung von Covid-19, um ein aktuelles Beispiel zu nennen.

„Since our starting point is so often a large-scale or momentous event, such as a war, a revolution, or a depression, we ought obviously to the area of investigation … [because] [s]uch events have endless repercussions … [But] [e]ven the most munificent and expansive foundation could not undertake a research project big enough to include all the multitudinous effects of a war or a revolution … Certainly any inclusive enquiry into effects must be lacking in focus, precision, and direction. There is not, to begin with, the same unity of interest in the search for the effects of a particular phenomenon as in the search for its causes. The former search offers no ground for attack. It is not addressed to some challenging difference that is manifested in one or two comparable situations – the procedure we have seen to be requisite for the discovery of the causal nexus. Hence we are more likely to attain results when we limit the investigation to well defined issues” (MacIver 1964: 365).

Beispielsweise bringt eine wirtschaftliche Depression eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit mit sich, und mit einem Datum wie der Veränderung der Arbeitslosenrate haben wir eine Größe an der Hand, die die Gegenwart von der Vergangenheit auf klar angebbare Weise unterscheidet. Die (erhöhte) Arbeitslosenrate als Ursache aufzufassen, deren Effekt gesucht werden soll, ist ein handhabbares Prokjekt, während es schlichtweg unmöglich ist, vollumfänglich zu untersuchen, welche Effekte eine wirtschaftliche Depression, ein Krieg, eine Revolution oder die Verbreitung von Covid-19 hat. Eine Regel für die Sozialwissenschaften lautet also, sich zu beschränken

„… if our objective is to discover the effects of a phenomenon on those situations where it brings a clean-cut and obviously significant change” (MacIver 1964: 365)

Gesellschaftstheoretische Abhandlungen samt historischer Betrachtungen mögen „große Würfe“ und einigermaßen anregend sein, und die Aufzählung aller möglicher denkbaren Effekt durch „Experten“ bzw. aller Effekte, die diesen Experten plausibel vorkommen oder am Herzen liegen, sind gleichermaßen keine sozialwissenschaftlich ernstzunehmendem Darstellungen; in beiden Fällen werden Zusammenhänge hergestellt oder postuliert, die vielleicht bestehen – vielleicht auch nicht. Daran ändert es auch nichts, wenn in diesem Zusammenhang Anekdoten über „Fälle“ als Erfahrungswerte vorgebracht werden, von denen nicht einmal klar ist, „Fälle“ wovon sie eigentlich sind – eben mangels differenzierter Untersuchung.

In diesem Zusammenhang und weil MacIvers Buch fälschlich als Kritik an der quantitativen Sozialwissenschaft aufgefasst wurde, während er sich tatsächlich gegen den Ausschluss der Kausalität aus den Sozialwissenschaften durch einige seiner Zeitgenossen wie z.B. Georg Lundberg zugunsten einer Aneinanderreihung von statistischen Korrelationen wandte (Abbott 2001: 107), sollte noch ergänzt werden, dass MacIver an keiner Stelle dem Rückzug auf Fallstudien oder Einzelstudien das Wort redet. Diese Option ist für ihn dermaßen unsinnig, dass er ihr keine ausführlichere Diskussion widmet. Er hält aber im Rahmen seiner Kritik der zeitgenössischen sozialwisssenschaftlichen Arbeiten explizit fest:

„Sometimes cases or examples were offered showing the presence of the alleged cause, as though that were sufficient to establish its causal relation to the social phenomenon” (MacIver 1964: 74).

Dem sozialwissenschaftlich Gebildeten wird nicht entgangen sein, dass MacIvers Auffassung von Sozialwissenschaften eine methodologisch-individualistische ist und in entscheidenden Hinsichten derjenigen Max Webers (1922; explizit und knapp z.B. auf S. 8) und u.a. Friedrich Hayeks (s. z.B. 1975) entspricht, die in den 1980er- und 1990er-Jahren in verschiedenen Varianten der Theorie der rationalen Wahl (Rational Choice-Theory), die ich in Diefenbach 2009 vorgestellt habe, elaboriert und spezifiziert wurde. Damals standen Ökonomie und Soziologie kurz vor dem Sprung in eine ernstzunehmende Wissenschaft, wie sie sich durch ein klares Verständnis ihres Gegenstandes und ein hierauf gegründetes methodologisches Erklärungs- und Forschungsprogramm gekennzeichnet ist. In Deutschland haben vor allem Karl-Dieter Opp, Hartmut Esser und Bernhard Nauck diesbezüglich wichtige Arbeit geleistet.

Man müsste ein wissenschaftsgeschichtliches Essay verfassen, um über die vielen möglichen Gründe dafür zu spekulieren, dass die Sozialwissenschaften – nicht nur in Deutschland und nicht nur die Soziologie und die Ökonomie – in weiten Teilen seitdem bestenfalls zu grobem Unfug und schlimmstenfalls zu ideologischen Legitimationsveranstaltungen geworden sind. (Die beiden wichtigsten, so vermute ich, dürften der schlichte Umstand sein, dass die Bindung an ein begründetes Arbeitsprogramm einerseits bestimmte, u.a. statistische, Fähigkeiten voraussetzt, andererseits die Freiheit der Willkür gemäß der eigenen Hobbies beschränkt und der Umstand, dass alles, was (später) mit Rationalität in Verbindung gebracht wurde, dazu geeignet ist, in manchen Kreisen Angst zu verbreiten; dies nur nebenbei). Aus irgendwelchen Gründen hält sich bis heute das Mißverständnis, dass jeder allem, was mit „Sozialen“ zu tun hat, gewachsen sei oder gerecht werden könne, auch dann, wenn ihm die „-Wissenschaft“ auf den Fuß folgt. Ist MacIvers Buch vor diesem Hintergrund lediglich ein Zeugnis unter anderen von einer bestimmten Phase in der Entwicklung der Sozialwissenschaften, eine Art historisches Dokument?

Ich glaube nicht.
MacIvers Buch ist und bleibt lesenswert und (für mich) ein Klassiker der Sozialwissenschaften, weil es zum Einen ein Programm für die Sozialwissenschaften entwirft, zu dem ich keinerlei ernstzunehmende Konkurrenz kenne, oder anders gesagt: wenn Sozialwissenschaften Wissenschaften sein wollen, sehe ich (bis auf Weiteres, und es zeichnet sich diesbezüglich nichts Weiteres am Horizont ab) keine Alternative zu diesem Programm.

Zum Anderen kommt MacIvers Buch – anders als die als Klassiker anerkannten, in der Sache in vieler Hinsicht ähnlichen Darstellung wie z.B. Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1980) – gänzlich ohne Rückgriff auf vorherige Debatten, die Werke anderer Autoren, die Kenntnis der Traditionen bestimmter Disziplinen oder Philosophien aus. Es ist daher aus sich selbst heraus verständlich – und überzeugend aufgrund der Stringenz der Argumentation, die nicht bei Begriffen, Theorien, anderen Autoren, vorherigen Auseinandersetzung etc. beginnt, sondern bei der schlichten Frage „Warum?“ und der Darstellung, dass Antworten auf „Warum?“ auf sehr unterschiedliche Weise gegeben werden können und sich wissenschaftliche Disziplinen – in Abhängigkeit von ihrem Gegenstand – darin unterscheiden, welche Arten von Antworten auf die Frage „Warum?“ sie liefern sollten und vor allem: liefern können.

Das Buch ist deshalb auch keine Darstellung des methodologischen Individualismus wie viele andere. MacIver setzt nicht methodologischen Individualismus und begründet ihn dann. Vielmehr beginnt er mit den Grundfragen, die jeder Leser vernünftiger- und naheliegenderweise an die Sozialwissenschaften stellt, und die Diskussion dieser Fragen führt Schritt für Schritt zum „kausalen Nexus“ MacIvers, zur dynamischen Bestandsaufnahme, die Menschen machen und die ihr Handeln anleitet. Dadurch wird der methodologische Individualismus impliziert, aber nicht „gepredigt“. MacIvers Buch über „Social Causation“ ist eines, von dem ich mir wünschen würde dass es zur Grundlagenlektüre für Studenten aller Sozialwissenschaften gehörte – aber leider tut es das derzeit nicht nur nicht, sondern ist drezeit auch nur (sofern dort vorhanden) in Bibliotheken einsehbar oder im Antiquariat erwerbbar. Und damit haben wir noch einen Grund dafür, warum Sozialwissenschaften derzeit zwischen grobem Unfug und ideologischem Geplapper schwanken: es scheint, dass die Auswahl (wieder) aufzulegender Bücher gelinde gesagt suboptimal verläuft – mit sehr negativen Folgen für die Ausbildung derer, die eigentlich sozialwissenschaftlicher Nachwuchs werden sollen.


Literatur:

Abbott, Andrew, 2001: Time Mattes: On Theory and Method. Chicago: The University of Chicago Press.

Diefenbach, Heike, 2009: Die Theorie der Rationalen Wahl oder „Rational Choice“-Theorie (RCT), S. 239-290 in: Brock, Ditmar, Junge, Matthias, Diefenbach, Heike, Keller, Rainer & Villányi, Dirk: Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Hayek, August Friedrich von, 1975: The Pretence of Knowledge. The Swedish Journal of Economics 77(4): 433-442.

MacIvers, Robert M., 1964[1942]: Social Causation. New York: Harper Torchbooks.

Nagel, Ernest, 1942: Social Causation by R. M. MacIver. The Journal of Philosophy 39(20): 552-556.

Weber, Max, 1980[1922]: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der Verstehenden Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).



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