Paneuropäischer EU-Rassismus- oder: “Ein Europäer, der seiner Zeit voraus war“

Der rassistische, romantisch-verbrämte, sozialistische Nachlass von Richard Coudenhove-Kalergi

von Dr. habil. Heike Diefenbach

 

Im Jahr 2018 hat der damalige Präsident des Europäischen Parlamentes, Antonio Tajani erklärt, dass es ihm „… eine Ehre [sei, den Leser] … auf der für die Öffentlichkeit frei zugänglichen Website, die eine Auswahl von 100 erinnerungswürdigen Büchern über Europa vorstellt, …” willkommen zu heißen. Er beschreibt den „Zweck dieser Sammlung“ wie folgt:

Richard Coudenhove-Kalergi bei der Verleihung des Karlspreises

„Der Zweck dieser Sammlung ist, der Öffentlichkeit einen Überblick zu verschaffen, wie die europäische Idee konkret durch die europäische Integration entstanden ist. Zu diesem Zweck präsentieren wir eine umfassende Auswahl an akademischen, intellektuellen und politischen Arbeiten, die alle einen bedeutenden Beitrag zur Förderung und dem besseren Verstehen dieses Prozesses seit 1945 geleistet haben. Diese Auswahl schließt Bücher, Artikel, Schriften und Reden ein, die wir als bedeutend betrachten. Es [?] umfasst die geografischen und linguistischen Unterschiede Europas und schließt ein breites Spektrum von Ideen und Persönlichkeiten der EU ein. Die Werke dieser Sammlung gehören der Historischen Bibliothek des Europäischen Parlaments, die wir als ein gemeinsames Erbe betrachten, um es mit einem breiten Publikum zu teilen … Das Projekt ‘100 erinnerungswürdige Bücher über Europa‘, ist 2012 unter der Initiative meines Vorgängers entstanden und zu mehr als hundert Werken gewachsen. Es beläuft sich derzeit auf 125 Titel und bleibt ein fortlaufendes Projekt, das wir weiterhin fortsetzen werden … Ich hoffe, dass Sie diese Sammlung inspirierend und anregend finden.“

Die Sammlung wurde im Jahr 2012 unter Tajanis Vorgänger eingerichtet und umfasste zum Zeitpunkt, als Tajani seine netten Worte verfasste, 125 Texte, die das Europäische Parlament als „gemeinsames Erbe“ ansieht. Eine Liste der „erinnerungswürdige[n] Bücher über Europa“, die sich hier findet, wurde nach Angabe auf der Titelseit der Liste selbst im Jahr 2020 eingestellt – und umfasst immer noch 125 Titel, die übrigens nicht als digitale Texte abgelegt und les- bzw herunterladbar sind, wie man als „Netizen“ des 21. Jahrhunderts vielleicht meinen könnte, wenn vom Teilen mit einem „breiten Publikum“ die Rede ist.

Offensichtlich ist aus den Plänen, das Projekt fortzusetzen, nichts geworden, vielleicht weil es Streitigkeiten um den entsprechenden Haushaltsposten gab, vielleicht, weil die entsprechenden Mitarbeiter unfähig waren, die Pläne umzusetzen, sich vielleicht nicht darüber einigen konnte, was warum erinnerungswürdige Bücher über Europa sind und was nicht, oder schlicht keine ausreichenden Recherchefähigkeiten hatten. Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass die Liste – entgegen der Behauptung von Tajani – auch Bücher enthält, die vor (und nicht seit bzw. nach) 1945 erschienen sind, während gleichzeitig in der Liste so einschlägige Bücher fehlen wie das Buch des dänischen Arztes Christian F. Heerfordt aus dem Jahr 1924, das in der deutschen Übersetzung aus dem Jahr 1927 den Titel „Ein neues Europa“ trägt.



Ein Text aus der Liste – er ist auf Seite 5 der Liste genannt – des Europäischen Parlamentes, der vor 1945 erschienen ist und über dessen Erinnerungswürdigkeit gestritten werden kann, ist das Buch mit dem Titel „Paneuropa“ von Richard Coudenhove-Kalergi aus dem Jahr 1923. Im Vorwort zur Neuauflage des Buches im Jahr 1982, rühmt Otto von Habsburg (der das Vorwort verfasst hat) Coudenhove-Kalergi als einen „Prophet[en] Europas“ und als jemanden, der

„[f]rüher als andere wusste […] daß wirkliche Lösungen in unserem Jahrhundert nur noch großräumig gefunden werden können, daß es also darum ging, den Geist zu bewahren, aber ihn im Sinne einer ,translatio imperii‘ auf den ganzen Erdteil zu übertragen” (Habsburg 1982: v-vi).

Wer von besagtem Propheten noch niemals gehört hat – und ich vermute, dass dies auch auf die bei Weitem meisten unserer Leser zutreffen wird, trotz vereinzelter Versuche in Mainstream-Medien, ihn als Erfinder Europas bekannt zu machen (s. z.B. https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/suedlicht/schloss-ronsperg-bernhard-setzwein-100.html) –, dem sei er – Wiedemer (1993) folgend – kurz vorgestellt:

Richard Nikolaus von Coudenhove-Kalergi wurde am 16. November 1894 in Tokio als zweiter Sohn des Habsburger-Henrich Coudenhove-Kalergi und seiner japanischen Frau Mitsuko geboren. Aufgewachsen ist er auf dem Familienbesitz im damaligen Ronsperg, dem heutigen Poběžovice in Tschechien (auch bekannt als „Schloss Ronsperg“). Im Jahr 1917 erwarb er den Titel eines Doktors der Philosophie an der Universität Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte er ein großes Interesse an Politik. Er war enttäuscht vom Völkerbund bzw. vom 14-Punkte-Plan seines Begründers und Präsidenten Woodrow Wilson zur Erhaltung des Friedens in Europa und machte sich daran, seine eigene Vision von einem friedlichen Europa der Zukunft zu formulieren. Für ihn lautete „[die] europäische Frage“:

„Kann Europa in seiner politischen und wirtschaftlichen Zersplitterung seinen Frieden und seine Selbständigkeit den wachsenden außereuropäischen Weltmächten gegenüber wahren – oder ist es gezwungen, sich zur Rettung seiner Existenz zu einem Staatenbunde zu organisieren?” (Coudenhove-Kalergi 1982[1923]: ix).

Die Antwort auf diese Frage hat Coudenhove-Kalergi angesichts seiner Einschätzung der konkreten damaligen politischen Situation gegeben:

„Europa, das sein Selbstvertrauen fast verloren hat, erwartet Hilfe von außen: die einen von R u ß I a n d – die anderen von A m e r i k a. Beide Hoffnungen sind für Europa lebensgefährlich. Weder der Westen noch der Osten will Europa retten: Rußland will es erobern – Amerika will es kaufen. Durch diese Skylla der russischen Militärdiktatur und die Charybdis der amerikanischen Finanzdiktatur führt nur ein schmaler Weg in eine bessere Zukunft. Dieser Weg heißt Pan-Europa und bedeutet: Selbsthilfe durch Z u s a m m e n s c h l u ß  E u r o p a s  z u  e i n e m  p o I i t i s c h – w i r t s c h a f t I i c h en  Z w e c k v e r b a n d“ (Coudenhove-Kalergi 1982[1923]: xi; Hervorbebungen im Original).

Mit der Veröffentlichung seines Buches „Paneuropa“ im Jahr 1923 war zwar nicht die pan-eurpäische Idee geboren – diese oder ähnliche Ideen kursierten zu dieser Zeit in der sogenannten europäischen Intelligenzia, und schon im Jahr zuvor war der Europäische Kulturbund in Wien gegründet worden –, aber die pan-europäische Bewegung als eine Bewegung in Richtung eines Europa als einer politischen Union. Der Veröffentlichung von „Paneuropa“ durch Coudenhove-Kalergi folgte im Jahr 1924 die Gründung einer Zeitschrift mit dem Titel „Paneuropa“ als Organ der paneuropäischen Bewegung, und im Oktober des Jahres 1927 fand der erste paneuropäische Kongress in Wien statt, zu dem sich Delegierte fast aller europäischer Staaten einfanden (Dawson 1927: 63). Diesem ersten Kongress folgten Kongresse in Berlin im Jahr 1930 und in Basel im Jahr 1932, auf denen über Fragen u.a. nach einer europäischen Staatsangehörigkeit und einem föderalen europäischen Gerichtshof diskutiert wurde, die Coudenhove-Kalergi inzwischen in weiteren Schriften ausgeführt hatte, so z.B. in „Praktischer Idealismus“ aus 1925 und in „Los vom Materialismus!“ aus 1930. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre war die Begeisterung für Paneuropa (bis auf Weiteres) weitgehend verschwunden. Tchoubarian (2013[1994]: 127) berichtet:

„In the mid-1930s the movement was still active, although it was clear that the euphoria of its first congress was a thing of the past. Advocates of pan-Europeanism tried to breathe new life into the movement at its fourth congress, held in Vienna in 1935; they put forward the ideas for a European Confederation, a single European currency, a European customs union, a European Court and a police force … After Germany’s annexation of Austria, the centre of the pan-European movement was transferred to Berne, while Coudenhove-Kalergi moved to the USA, where he set up the Committee for a Free and United Europe. However, these were only private initiatives and, overall, the pan-European movement, which had been launched by Coudenhove-Kalergi, lost most of its advocates and its popularity waned”.

So weit, so gut.
Egal, wie man zu paneuropäischen Ideen aus den 1920- und 1930er-Jahren und zum aktuellen Stand der Verwirklichung der paneuropäischen Idee steht – man könnte bis hierher vielleicht verstehen, warum das europäische Parlament Coudenhove-Kalergi erinnerungswürdig findet, redet er doch der Vorstellung von den Vereinigten Staaten Europas das Wort statt einem Europa, in dem selbständige Staaten auf einer Vertrauens- und Verhandlungsbasis miteinander kooperieren. Als Vordenker der Vereinigten Staaten wird Coudenhove-Kalergi in der Literatur dargestellt und geschätzt, aber die Rezeption seiner Vorstellungen ist sehr bruchstückhaft, um nicht zu sagen: bis zur Entstellung bruchstückhaft. So schreibt z.B. Murphy (1997: 231-232):

„Pan-Europeanism was skeptical of theories of race and emphasized that the unification of Europe would be based neither in race nor ethnicity but in the shared cultural heritage of the many peoples of the continent”.

Erst dann, wenn man die Bücher Coudenhove-Kalergis tatsächlich liest, statt einfach zu übernehmen, was Andere diesbezüglich behaupten, die ihrerseits vielleicht auch schon einfältigerweise einfach übernommen haben, was Andere behauptet haben, etc., zeigt sich, dass viele Darstellungen und Würdigungen – wie die Darstellung von Murphy – falsch sind. Coudenhove-Kalergi war ein Rassist, und zwar in doppeltem Sinn, einem üblichen und in einem unüblichen Sinn, wie sein Buch mit dem Titel „Praktischer Idealismus“ deutlich zeigt, das Jahr 1925 veröffentlicht wurde, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung von „Paneuropa“.

Im üblichen Sinn war er ein Rassist (in dem Sinn, in dem das Wort derzeit gewöhnlich gebraucht wird), wenn er z.B. meinte, dass

„… die Mentalität des [!] Süditalieners] und Südamerikaners orientalisch ist“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 26), dass „der Orientale“ […] [a]n Güte und Weisheit […] dem Europäer überlegen [ist] – an Tatkraft und Klugheit steht er ihm nach” (Coudenhove-Kalergi 1925: 80),

oder dass

„[d]er Germane […] zeitlich dem Wilden näher [steht] als der Chinese oder Jude; diese beiden alten Kulturvölker konnten sich gründlicher von der heidnisch-natürlichen Lebensauffassung emanzipieren, weil sie mindestens drei Jahrtausende länger dazu Zeit hatten. – H e i d e n t u m  i s t  e i n  S y m p t o m  k u l t u r e l l e r  J u g e n d – C h r i s t e n t u m  e i n  S y m p t o m  k u l t u r e l l e n  A l t e r s“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 26).

Coudenhove-Kalergi war der Auffassung, dass „Inzucht […] charakteristische Typen [schaffe]“, während „Kreuzung […] originelle Typen [schaffe]. Sein Rassismus im üblichen Sinn, seine persönliche Hubris und seine eigene Variante einer sozialen Evolutionstheorie sind die Zutaten zu seinem Rassismus eher unüblicher Art, einer speziellen Variante von Rassismus, die mit der Behauptung eines durchgängigen und grundsätzlichen Unterschiedes zwischen Land- und Stadtbevölkerung beginnt:

„Meist ist der Rustikalmensch [so nennt er die ländliche Bevölkerung] I n z u c h t p r o d u k t, der Urbanmensch M i s c h l i n g. Eltern und Voreltern des Bauern stammen gewöhnlich aus der gleichen, dünn bevölkerten Gegend; des Adeligen aus derselben dünnen Oberschicht. In beiden Fällen sind die Vorfahren untereinander blutsverwandt und daher meist physisch, psychisch, geistig einander ähnlich. Infolgedessen vererben sie ihre gemeinsamen Züge, Willenstendenzen, Leidenschaften, Vorurteile, Hemmungen in gesteigertem Grade auf ihre Kinder und Nachkommen. Die Wesenszüge, die sich aus dieser Inzucht ergeben, sind: Treue, Pietät, Familiensinn, Kastengeist, Beständigkeit, Starrsinn, Energie, Beschränktheit, Macht der Vorurteile, Mangel an Objektivität, Enge des Horizontes. Hier ist eine Generation nicht Variation der vorhergehenden, sondern einfach deren Wiederholung: an die Stelle von Entwicklung tritt Erhaltung. In der Großstadt begegnen sich Völker, Rassen, Stände. In der Regel ist der Urbanmensch Mischling aus verschiedensten sozialen und nationalen Elementen. In ihm heben sich die entgegengesetzten Charaktereigenschaften, Vorurteile, Hemmungen, Willenstendenzen und Weltanschauungen seiner Eltern und Voreltern auf oder schwächen einander wenigstens ab. Die Folge ist, dass Mischlinge vielfach Charakterlosigkeit, Hemmungslosigkeit, Willensschwäche, Unbeständigkeit, Pietätlosigkeit und Treulosigkeit mit Objektivität, Vielseitigkeit, geistiger Regsamkeit, Freiheit von Vorurteilen und Weite des Horizontes verbinden. Mischlinge unterscheiden sich von ihren Eltern und Voreltern; jede Generation ist eine Variation der vorhergehenden, entweder im Sinne der Evolution oder der Degeneration“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 20-21).

Und:

„Der Rustikalmensch ist k o n s e r v a t i v wie die Natur – der Urbanmensch ist f o r t s c hr i t t l i c h wie die Gesellschaft. Aller Fortschritt überhaupt geht von Städten und Städtern aus“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 10) – und der „Fortschritt“ führt für Coudenhove-Kalergi in den Sozialismus (dazu unten mehr) –, weshalb der „Rustikalmensch“ dem Fortschritt im Weg steht: „… so wie es auch heute das Landvolk ist, das der Verwirklichung sozialistischer Lebensform den stärksten Widerstand entgegenstellt“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 26).

„Urbanmenschen“ bzw. „Mischlinge“ (wie er selbst) sind für Coudenhove-Kalergi (1925: 21) „Mehrseelenmensch[en]“, die sich gegenüber den „Einseelenmensch[en]“ bzw. „Inzuchtmensch[en]“ dadurch auszeichnen, dass sie „vielfältig, kompliziert, differenziert“ sind. Das bedeutet nach Coudenhove-Kalergi, dass sie auch weitgehend handlungsunfähig sind:

„Je ausgeprägter die Fähigkeit und Neigung eines Menschen, die Dinge als Weiser von allen Seiten zu sehen und sich vorurteilsfrei auf jeden Standpunkt zu stellen – desto schwächer ist meist sein Willensimpuls, nach einer bestimmten Richtung hin unbedenklich zu handeln: denn jedem Motiv stellen sich Gegenmotive entgegen, jedem Glauben Skepsis, jeder Tat die Einsicht in ihre kosmische Bedeutungslosigkeit. Tatkräftig kann nur der beschränkte, der einseitige Mensch sein. Es gibt aber nicht bloß eine unbewusste, naive: es gibt auch eine bewußte, h e r o i s c h e  B e s c h r ä n k t h e i t. Der heroisch Beschränkte – und zu diesem Typus zählen alle wahrhaft großen Tatmenschen – schaltet zeitweise freiwillig alle Seiten seines Wesens aus, bis auf die eine, die seine Tat bestimmt. Objektiv, kritisch skeptisch, überlegen kann er vor oder nach seiner Tat sein: während der Tat ist er subjektiv, gläubig, einseitig, ungerecht“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 22).



Coudenhove-Kalergi tut hier nicht weniger, als die Gewissenlosigkeit und Impulsivität zur Voraussetzung, zum Maßstab „wahrhaft großer Tatmenschen“ zu machen. Solche Menschen sind für Coudenhove-Kalergi zwar weniger „herzensrein“ als „[w]ahrhafte Menschen“, aber sie sind „tapferer“:

„Es gibt kein Leben der Tat ohne Unrecht, Irrtum, Schuld: wer sich scheut, dieses Odium zu tragen, der bleibe im Reiche des Gedankens, der Beschaulichkeit, der Passivität. – Wahrhafte Menschen sind immer schweigsam: denn jede Behauptung ist, in gewissem Sinne, Lüge; herzensreine Menschen sind immer inaktiv: denn jede Tat ist, in gewissem Sinne, Unrecht. Tapferer aber ist es, zu reden, auf die Gefahr hin, zu lügen; zu handeln, auf die Gefahr hin, Unrecht zu tun … Wo Inzucht und Kreuzung unter glücklichen Auspizien zusammentreffen, zeugen sie den höchsten Menschentypus, der stärksten Charakter mit schärfstem Geist verbindet“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 22).

Der „höchste Menschentypus“ ist nach Coudenhove-Kalergi also der heroisch beschränkte „Tatmensch“, der es – wohl aufgrund seiner Fähigkeit zur geistigen Beschränktheit – schafft, sein Gewissen nach Bedarf (oder gusto) zu suspendieren, um ggf. auch unrecht handeln zu können.

Und zu diesem „höchsten Menschentypus“ gehören für Coudenhove-Kalergi Karl Marx und Friedrich Nietzsche, obwohl Marx lediglich Andere zum Handeln aufgerufen, aber selbst nicht gehandelt hat, und Nietzsche weder Andere zum handeln aufgerufen hat noch selbst gehandelt hat; beiden hat es also, obwohl sie Europäer waren, deutlich an Tatkraft gemangelt. Dennoch bringt Coudenhove-Kalergi für beide große Bewunderung auf:

„Marx und Nietzsche, die Verkünder des sozialen und des individualen Zukunftsideales, sind beide Europäer, Männer, Dynamiker. Aus der Fixierung ihrer Ideale in die Zukunft ergeben sich Wille und Notwendigkeit, sie durch Taten zu verwirklichen. Ihre dynamischen Ideale enthalten F o r d e r u n g e n: sie wollen den Menschen nicht nur belehren, sondern bezwingen[!] ; sie drehen seinen Blick nach vorwärts und wirken so als Umschöpfer der Gesellschaft und des Menschen. In ihrer Polarität spiegelt sich das Wesen des europäischen Geistes und die Zukunft des europäischen Schicksals. – Das höchste, letzte Ideal europäischer Zukunftsromantik ist: nicht Abkehr – sondern Rückkehr zur Natur auf höherer Ebene. Im Dienste d i e s e s Ideales steht die Kultur, die Ethik und die Technik. Nach hunderttausenden von Kriegsjahren soll der Mensch wieder Frieden schließen mit der Natur und heimkehren in ihr Reich; aber nicht als ihr Geschöpf – sondern als ihr Herr“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 150-151)

Das „letzte Ideal europäischer Zukunftsromantik“ ist aber nicht nur Naturbeherrschung, sondern auch Sozialismus, und es sind Städter, die der Menschheit diesen „Segen“ bringen:

„Der typische Städter verbindet christliche Moral mit irreligiöser Skepsis, rationalistischem Materialismus und mechanistischem Atheismus. Die Weltanschauung, die daraus resultiert, ist die des S o z i a l i s m u s: die moderne Großstadtreligion“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 11).

Der Sozialismus ist neben dem Christentum für Coudenhove-Kalergi ein

„… Versuch, ein Gottesreich zu errichten“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 27),

wobei er Juden zu den

„… prominentesten und überzeugendsten Vertreter[n] christlicher Ideen, die in ihrer modernen Wiedergeburt Pazifismus und Sozialismus heißen, …“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 27),

erklärt – allerdings nur bestimmte Juden:

.“Vor zwei Jahrtausenden waren die Urchristen, nicht die Pharisäer und Sadduzäer, Erben und Erneuerer mosaischer Tradition; heute sind es weder die Zionisten noch die Christen, sondern die jüdischen Führer des Sozialismus: denn auch sie wollen, mit höchster Selbstverleugnung, die Erbsünde des Kapitalismus tilgen, die Menschen aus Unrecht, Gewalt und Knechtschaft erlösen und die entsühnte Welt in ein irdisches Paradies wandeln“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 27).

Das „irdische Paradies“ des Sozialismus ist unvereinbar ,mit dem „… unfruchtbare[n] System der plutokratischen Demokratie“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 134), versteht sich. Überraschender ist vielleicht – zumindest für den nicht-sozialistischen Leser –, dass in ihm auch kein Platz für Gleichheit ist:

„Die natürliche Rangordnung menschlicher Vollkommenheit wird an die Stelle der künstlichen Rangordnung: des Feudalismus und Kapitalismus treten. Der Sozialismus, der mit der Abschaffung des Adels, mit der Nivellierung der Menschheit begann, wird in der Züchtung [!] des Adels, in der Differenzierung der Menschheit gipfeln. Hier, in der s o z i a l e n E u g e n i k [!], liegt seine höchste historische Mission, die er heute noch nicht erkennt: au s  u n g e r e c h t e r  U n g l e i c h h e i t  ü b e r  G l e i c h h e i t  zu  g e r e c h t e r  U n g l e i c h h e i t zu führen, über die Trümmer aller Pseudo-Aristokratie zu echtem, neuem Adel” (Coudenhove-Kalergi 1925: 56-57).

Dieser neue Adel ist eine „…soziale[…] Aristokratie geistiger Menschen“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 134). Auf die Frage, wer genau diese „geistige[n] Menschen“ sein werden bzw. wer ihnen mit welchem Recht diesen Status zugestehen wird, geht Coudenhove-Kalergi – wenig überraschend – nicht ein; sie müssen vermutlich stramme Sozialisten sein, und das bedeutet nach Coudenhove-Kalergis seltsamer Assoziationskette: Städter, „Mischlinge“.

Tatsächlich wird für Coudenhove-Kalergi

„[d]er Mensch der fernen Zukunft […] Mischling sein. Die heutigen Rassen [!] und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die  e u r a s i s c h – n e g r o i d e  Z u k u n f t s r a s s e, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen … Vorläufer des planetaren Menschen der Zukunft ist im modernen Europa der R u s s e als slawisch-tatarisch-finnischer Mischling; weil er, unter allen europäischen Völkern, am wenigsten Rasse hat, ist er der typische Mehrseelenmensch mit der weiten, reichen, allumfassenden Seele. Sein stärkster Antipode ist der insulare B r i t e, der hochgezüchtete Einseelenmensch, dessen Kraft im Charakter, im Willen, im Einseitigen, Typischen liegt“ (Coudenhove-Kalergi 1925: 23).

Wie wir sehen, teilt Couldenhove-Kalergi auch die alte und bis heute festzustellende Angst der europäischen Sozialisten vor dem „Charaker“ und „Willen“ „des Briten“.

Coudenhove-Kalergis nachgerade gewaltsam herbeiphantasierte Dichotomien zwischen Rustikalmenschen und Stadtmenschen, „Mischlingen“ und denjengen, die „Rasse“ haben, „Einseelenmenschen“ und „Mehrseelenmenschen“, Russen und Briten und vielen anderen, wie der zwischen „[h]eidnische[r] und christliche[r] Mentalität (Coudenhove-Kalergi 1925: 24) reflektieren für ihn allesamt die Dichotomie zwischen Weisheit und Tatkraft, die überwunden werden muss, damit der Mensch ein sozialistisches „Gottesreich“ errichten kann. Insofern ist sein Rassismus eine Funktion seiner sozialistischen „Zukunftsromantik“.

Dies alles wäre relativ einfach unter der Rubrik „Schundliteratur“ abzulegen und zu vergessen, würde Coudenhove-Kalergi in der Literatur nicht als Vater (oder einer der Väter) der europäischen Integration dargestellt, als mehr oder weniger vernünftiger Mensch mit mehr oder weniger begründeten Positionen, die auf mehr oder weniger ernstzunehmenden Prämissen beruhten. Kaum etwas könnte weiter von der Realität entfernt sein. Die Lektüre seines „Praktischen Idealismus“ ist nicht weniger mental und emotional belastend als die Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“. Selbst diejenigen, die dem romantischen, verbrämten, sozialistischen Schwulst von Coudenhove-Kalergi etwas abgewinnen können, müssten sich an seinem eklatanten Rassismus stören (und sei es nur aus strategischen Gründen).

Wie ist es dann zu erklären, dass Coudenhove-Kalergi als Autor auf der Liste der angeblich 100, aber tatsächlich 125 erinnerungswürdigen Bücher des europäischen Parlamentes geführt wird? Ist Coudenhove-Kalergis Buch „Paneuropa“ inhaltlich überhaupt nicht mit seinem „Praktische[n] Idealismus“ zu vergleichen? Es trifft zu, dass beide Bücher inhaltlich sehr verschieden sind bzw. sehr unterschiedliche Schwerpunkte setzen, aber auch in „Paneuropa“ hat Coudenhove-Kalergi seiner Auffassung, es gebe Rassen, Ausdruck verliehen; er hat festgehalten, dass

„[a]lle Völker Europas (mit Ausnahme vielleicht der Islander) […] M i s c h v ö l k e r sind: Mischlinge der nordischen, alpinen und mediterranen Rasse [!]; Mischlinge aus arischen Einwanderern und mongoloiden Ureinwohnern, aus blonden und dunklen, langschädligen und kurzschädligen Rassen[!]“ (Coudenhove-Kalergi 1923: 135).

und dass z.B. .

… die G r i e c h e n […] mit slawischem, germanischem und albanischem Blute durchmischt [sind]“ (Coudenhove-Kalergi 1923: 135-136).

Im derzeitigen ideologischen Klima gibt es keinen überzeugenden Grund dafür, Coudenhove-Kalergi anders zu behandeln als z.B. Ottfried Preussler, wenn er in in einem seiner Kinderbücher mit dem Titel „Die kleine Hexe“ von einem „Chinesenmädchen“ schreibt und das Buch daraufhin auf die schwarze Liste gesetzt bzw. politisch korrekt umgeschrieben wird. Konsequenterweise müsste sich das europäische Parlament und mit ihm am besten jede einzelne Institution der EU, vom Rassisten Coudenhove-Kalergi distanzieren. Das würde auch eine gute Gelegenheit dafür bieten, der Bevölkerung in den EU-Staaten zu versichern, dass ihr kein „Gottesreich“ eines undemokratischen, sozialistischen Europas unter Führung einer neuen Aristokratie, die sich selbst eine in ihren Augen „gerechte Ungleichheit“ genehmigt, droht.


Literatur:

Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus, 1925: Praktischer Idealismus: Adel – Technik – Pazifismus. Wien; Leipzig: Paneuropa-Verlag.
Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus, 1982[1923]: Paneuropa. Wien; Leipzig: Pan-Europa-Verlag.

Habsburg, Otto von, 1982: Der Prophet Europas. Vorwort zur Neuauflage 1982. S. v-vi in: Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus, 1982[1923]: Paneuropa. Wien; Leipzig: Pan-Europa-Verlag.

Heerfordt, Christian Frederick, 126;1927[1924}: Ein neues Europa. 2 Bände. Stuttgart: Ferdinand Enke.

Murphy, David Thomas, 1997: The Heroic Earth: Geopolitical Thought in Weimar Germany, 1918-1933. Kent, Ohio: Kent State University Press.

Orluc, Katiana, 2007: Caught between Past and Future: The Idea of Pan-Europe in the Interwar Years, S. 95-120 in: Persson, Hans-Ake & Stråth, Bo (Hrsg.): Reflections on Europe: Defining a Political Order in Time and Space. Bruxelles: Peter Lang.

Tchoubarian, Alexander, 2013[1994]: The European Idea in History in the Nineteenth and Twentieth Centuries: A View from Moscow. London. Routledge.

Wiedemer, Patricia, 1993: The Idea Behind Coudenhove-Kalergi’s Pan-European Union. History of European Ideas6(4-6): 827-33.




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