SARS-CoV-2: Herdenimmunität ist eine Illusion [Neue Studie]

Vergessen Sie alles, was Sie über Herdenimmunität gelesen haben. SARS-CoV-2 spielt in einer eigenen Klasse. Herdenimmunität ist nicht zu erreichen.

Ende April haben wir von einer deftigen Kritik berichtet, die Rainer Schnell und Menno Smid an der Art und Weise geübt haben, in der das RKI versucht, sich einen Überblick über die SARS-CoV-2 Situation in Deutschland zu machen. Schnell und Smid haben es nicht bei der negativen Kritik belassen, sie haben einen positiven Beitrag geleistet und ein Forschungsdesign entworfen, das geeignet ist, die Fragen:

  • wie weit ist das neue Coronavirus SARS-CoV-2 in Deutschland tatsächlich verbreitet?
  • wie viele Menschen haben bereits eine Infektion durchgemacht und sind jetzt zumindest für eine gewisse Zeit immun?

zu beantworten. Die wichtigsten Bestandteile dieses Forschungsdesigns wurden in einer Studie, wie man sie nur selten zu Gesicht bekommt, in Spanien verwirklich. Unter Federführung des Institute of Health Carlos III haben vom 27. April bis zum 11. Mai 29 Labore, 1.409 Gesundheitszentren und 4.400 Ärzte bzw. Pfleger eine landesweite Studie möglich gemacht, in deren Verlauf 102.562 Spanier kontaktiert wurden. Ziel des Kontakts war es, Informationen über eine eigene Erkrankung an COVID-19 zu sammeln, einen Antikörper-Test durchzuführen, um herauszufinden, ob der Studienteilnehmer IgM und IgG Immunoglobulin M und G)-Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet hat, eine Blutprobe zu entnehmen, um die Ergebnisse, der durchgeführten Schnelltests zu validieren und schließlich die Ergebnisse über einen eigens eingerichteten Server an die Wissenschaftler, die das Studiendesign entworfen haben und die Ergebnisse auswerten wollten, zu schicken.



All das geht in Spanien innerhalb von zwei Wochen. Beeindruckend.

Letztlich sitzen die Wissenschaftler um Marina Pollán, Beatriz Pérez-Goméz und Roberto Pastor-Barriuso nun auf verwertbaren Daten von 61.075 vor Ort durchgeführten Schnelltests, von denen 51.598 im Labor validiert werden konnten und für die umfangreiche Informationen zu Kontakten mit an COVID-19 Erkrankten, eigener Erkrankung, vorhandenen Symptomen bzw. durchgeführtem Test auf SARS-CoV-2 vorhanden sind. Auf einer solchen Basis kann man natürlich ganz andere Aussagen treffen, als auf Grundlage von knapp 1000 Fällen einer kleinen Gemeinde. Die Ergebnisse, die Pollán et al. nunmehr im Lancet veröffentlicht haben, und zwar unter dem Titel “Prevalence of SARS-CoV-2 in Spain (ENE-COVID): a Nationawide, Population-based Seroepidemiological Study“, müssen vor dem Hintergrund gewichtet werden, dass in Spanien mehr als 28.400 Menschen an COVID-19 verstorben sind.

Quelle. Pallón et al. (2020)

Trotz dieser hohen Zahl an Verstorbenen haben nur 5%, der spanischen Bevölkerung, wie die Ergebnisse von Pollán et al. zeigen, Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet. Wollte man eine Herdenimmunität mit einer Durchseuchung der Bevölkerung, wie dies manche vorschlagen, erreichen, dann wäre dies nur mit mindestens 397.600 Toten für Spanien alleine zu erreichen (ausgehend von mindestens 70% Durchseuchung, die für Herdenimmunität notwendig sind – es gibt Forscher, die argumentieren, dass mindestens 87% Durchseuchung notwendig wären, um Herdenimmunität zu erreichen).

Die große Fallzahl erlaubt es, eine breite Palette von Informationen darüber, welche Teile der Bevölkerung höhere, welche geringere Anteile von Personen beinhalten, die Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet haben, zu generieren. Ein paar der Ergebnisse:

Der Anteil der Personen, die Antikörper gebildet haben, ist höher in:

  • Großstädten über 100.000 Einwohner;
  • unter Ärzten und Pflegern, insbesondere unter denen, die auf Intensivstationen in Kontakt mit Personen gekommen sind, die an COVID-19 verstorben sind;
  • unter Rentnern;
  • er steigt mit dem Alter;
Quelle. Pallón et al. (2020)

Für Spanien ergeben sich zudem erhebliche Unterschiede in der regionalen Verteilung der Personen, die Antikörper gebildet haben (siehe Abbildung). Erfreulicher Weise steigt die Anzahl der Personen, die Antikörper (die Ergebnisse basieren auf IgG, den am häufigsten vorkommenden Antikörpern) gebildet haben, mit dem Abstand zum Zeitpunkt, zu dem ein Studienteilnehmer positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurde, wobei die hohe Anzahl von asymptomatischen Testteilnehmern, bei denen Antikörper festgestellt wurden, dafür spricht, dass zwischen 376.000 und 1.042.000 Infektionen mit SARS-CoV-2 alleine in Spainen unerkannt geblieben sind.

“One in three infections seems to be asymptomatic, while a substantial number of symptomatic cases remained untested. Despite the high impact of COVID-19 in Spain, prevalence estimates remain low and are clearly insufficient to provide herd immunity.”

Ein weiteres Ergebnis der Studie sei angefügt: Die Schnelltests haben sich als ebenso verlässlich erwiesen, wie eine nachträgliche Laboruntersuchung, d.h. eine Großstudie, die sich für die Verbreitung von SARS-CoV-2 in einer Bevölkerung interessiert, könnte auf Schnelltests aufgebaut werden.

Quelle. Pallón et al. (2020)

Was bedeuten die Ergebnisse aus Spanien?
Die Vorstellung von einer Herdenimmunität, es ist oben bereits angesprochen worden, ist naiv im besten Fall, gefährlich im schlechtesten Fall.

“The key finding from these representative cohorts is that most of the population appears to have remained unexposed to SARS-CoV-2, even in areas with widespread virus circulation.”

Das schreiben Isabella Eckerle und Benjamin Meyer in einem Kommentar, der im Lancet veröffentlicht wurde. Wie naiv die Vorstellung einer Herdenimmunität ist, zeigen Ergebnisse aus Schweden, wo bekanntlich sehr wenig Lockdown erfolgt ist, in der Hoffnung, die größere Exposition der Bevölkerung könne zu Herdenimmunität führen. Aktuelle Ergebnisse zeigen, wie weit Schweden dahinter zurückgeblieben ist: Eine vom Schwedischen Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass selbst in Stockholm, der von COVID-19 am meisten in Mitleidenschaft gezogenen Hauptstadt Schwedens nur 7,3% der Bevölkerung über Antikörper verfügen. Bis zur Herdenimmunität ist es noch ein sehr weiter weg, der in Schweden indes mit 547 Toten auf 1.000.000 Einwohner und damit einer der höchsten Sterberate weltweit erkauft wurde. Zum Vergleich: In Norwegen, wo schnell ein Lockdown verhängt wurde, ist die Sterberate mit 47 pro 1.000.000 Einwohner um ein Vielfaches geringer.



Der Versuch, Herdenimmunität zu erreichen, wird auch durch weitere Ergebnisse, die ebenso die Frage, wie wirksam ein Impfstoff gegen COVID-19 sein kann, betreffen, in Frage gestellt:

“The asymptomatic group had a significantly longer duration of viral shedding than the symptomatic group (log-rank P = 0.028). The virus-specific IgG levels in the asymptomatic group (median S/CO, 3.4; IQR, 1.6–10.7) were significantly lower (P = 0.005) relative to the symptomatic group (median S/CO, 20.5; IQR, 5.8–38.2) in the acute phase. Of asymptomatic individuals, 93.3% (28/30) and 81.1% (30/37) had reduction in IgG and neutralizing antibody levels, respectively, during the early convalescent phase, as compared to 96.8% (30/31) and 62.2% (23/37) of symptomatic patients. Forty percent of asymptomatic individuals became seronegative and 12.9% of the symptomatic group became negative for IgG in the early convalescent phase. In addition, asymptomatic individuals exhibited lower levels of 18 pro- and anti-inflammatory cytokines. These data suggest that asymptomatic individuals had a weaker immune response to SARS-CoV-2 infection. The reduction in IgG and neutralizing antibody levels in the early convalescent phase might have implications for immunity strategy and serological surveys.”

Das Zitat stammt aus der Arbeit einer Forschergruppe um Quan-Xin Long, die am 18. Juni den Beitrag “Clinical and immunological assessment of asymptomatic SARS-CoV-2 infections” in Nature veröffentlicht hat.

Die Ergebnisse legen eine Reihe von Schlüssen nahe:

  • Personen, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren, ohne an COVID-19 zu erkranken, bilden weniger Antikörper als Personen, die an COVID-19 erkranken;
  • Asymptomatische Träger von SARS-CoV-2 verbreiten das Virus länger und sie verbreiten es in höherer Konzentration als Träger, die Symptome zeigen;
  • Die Anzahl der Antikörper, die asymptomatische Träger von SARS-CoV-2 entwickeln, ist geringer und schneller nicht mehr nachzuweisen, als dies bei symptomatischen SARS-CoV-2 Trägern der Fall ist. Dies gilt auch für neutralisierende Antikörper, was nur den Schluss zulässt, dass asymptomatische Träger von SARS-CoV-2 jederzeit wieder zum Träger von SARS-CoV-2 werden können, mit abermals der Gewissheit, das Virus zu verbreiten und der Gefahr, an COVID-19 zu erkranken.
  • Der schnelle Abbau neutralisierender Antikörper wirft die Frage auf, ob es überhaupt eine dauerhafte Immunität gegen COVID-19 gibt. Diese eher beunruhigende Frage ist bislang unbeantwortet, die Ergebnisse weisen indes in eine eher unvorteilhafte Richtung. Wir bleiben in jedem Fall an diesem Thema.

Der aktuelle Stand der Pandemie ist übrigens:

  • 13.064.941 positiv Getestete;
  • 572.271 offiziell an COVID-19 Verstorbene;
  • Mittel- und Südamerika sind die derzeitigen Hotspots;
  • Länder wie der Südsudan oder Jemen, in denen eine ärztliche Versorgung so gut wie nicht vorhanden ist, Informationen über SARS-CoV-2 nicht weit verbreitet sind und die Lebensweise Kontakt vieler Menschen auf engstem Raum normal macht, Länder, in denen mehr oder weniger offen Krieg geführt wird, liegen derzeit außerhalb der Berichterstattung der Medien.


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