Erik H. Erikson: Die psychologischen Grundlagen des Totalitarismus
von Dr. habil. Heike Diefenbach
Weiß-Sein als Sündenfall, uferloser Hass wie er u.a. im Trump-Derangement-Syndrom zum Ausdruck kommt, Plünderungen, Brandstiftungen und sogar Morde an völlig fremden Menschen, die als Ausdruck friedlichen Protestes dargestellt werden, und so vieles andere mehr – „[d]ie ideologischen Konstrukte der Fundamentalisten und Demagogen, die Wutexplosionen und Realitätsverzerrungen, die Zerstörung jeder Art von Ordnung und Gesittung in den Extremphasen der Geschichte muten zutiefst wahnhaft an“ (Conzen 2020: 65). Mit diesem Zitat leitet Conzen seine Darstellung von Erik H. Eriksons Auffassung von Totalismus ein. Für Erikson waren die psychologischen Grundlagen des Totalitarismus Fehlentwicklungen bzw. regressive Verarbeitungen eines „normalen“ menschlichen (psychologischen) Strebens, nämlich dem Streben nach Ganzheit.
Für all diejenigen, die von Erikson noch nichts oder fast nichts gehört haben, sei einleitend berichtet, dass Erik Homburger Erikson ein Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe war, der so bekannt wie kaum ein anderer sein dürfte, vor allem aufgrund seiner Überlegungen zum Identitätskonzept bzw. seiner Identitätstheorie; er kann mit Fug und Recht als „identity’s architect“ (Friedman 1999) bezeichnet werden. Erikson wurde am 15. Juni 1902 in Frankfurt am Main geboren, absolvierte in Wien bei Anna Freud eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und wanderte im Jahr 1933 in die USA aus, wo er für Jahrzehnte praktische psychanalytische Arbeit geleistet hat und als Professor an der Universität von California in Berkeley tätig war. Er hat bis zu seinem Tod am 12. Mai 1994 in Harwich in Massachusetts eine große Anzahl von Büchern und Aufsätzen veröffentlicht, die deutlich machen, dass Erikson die enge Perspektive der Psychoanalyse, wie Freud sie geprägt hat, um eine anthropologische, soziale und historische Perspektive erweitert hat, die es ihm erst ermöglicht hat, ein umfängliches und die gesamte Lebenszeit des Menschen umfassendes Modell der psychologischen Entwicklung des Menschen zu entwerfen.
Von Erikson stammt die Idee, dass sich die Entwicklung der Persönlichkeit beim Menschen während der Kindheit und Jugend in Stufen vollzieht, der Mensch aber während seines gesamten Lebensverlaufes, also auch im Erwachsenenalter, vor bestimmte Entwicklungsaufgaben gestellt ist. Erikson unterscheidet insgesamt acht Entwicklungsstufen. Jede dieser Stufen ist durch spezifische Erfahrungen gekennzeichnet, die eine spezifische psychologische Krise herbeiführen. Je nachdem, ob oder wie sie bewältigt wird, erwirbt der Mensch bestimmte psychologische Eigenschaften. Bestimmte Ausgänge dieser psychologischen Krisen bilden nach Erikson die psychologischen Grundlagen von Totalitarismus.
Sein Stufenmodell hat Erikson ausführlich in seinem Buch mit dem Titel „Identity, Youth and Crisis“ (1968) beschrieben. (Eine Darstellung des Stufenmodells findet sich auch in deutscher Sprache, in Eriksons „Kindheit und Gesellschaft“ aus dem Jahr 1950).
Eriksons Stufenmodell ist als Heuristik gedacht. Er erhebt nicht den Anspruch, damit eine testbare Theorie (in mehr oder weniger konkreter Form) formuliert zu haben, bzw. keinen explanatorischen Anspruch (sondern lediglich einen deskriptiven). Aber er räumt ein:
„Mistaking our patients‘ gratitude for verification, we are sometimes sure that we could explain or even guide mankind if it would only consent to be our collective patient“ (Erikson 1964: 136).
Dasselbe gilt für Eriksons Überlegungen zum Totalitarismus, die er im oben genannten Buch (Erikson 1968: 74-90) anstellt. Er will nicht erklären, woher Totalitarismus kommt, wie totalitäre Systeme entstehen und sich (für eine Weile) erhalten können oder die Eigenschaften zusammenstellen, durch die sich totalitäre Systeme auszeichnen (wie das später Lifton getan hat, über den auf Sciencefiles bereits berichtet wurde); Erikson fragt sich vielmehr:
„… in what way do childhood and youth predispose man for totalitarianism?” (Erikson 1968: 75).
Sein Versuch, diese Frage zu beantworten,
„… is not an attempt at fixing the origin or cause of totalitarianism in the fact of childhood or in particular forms of childhood training. Nor shall I treat it as a transient affliction or localized epidemic; I begin with the assumption that totalitarianism is based on universal human potentialities and is thus related to all aspects of human nature, wholesome and pathological, adult and infantile, individual and social” (Erikson 1968: 78).
Damit macht Erikson klar, dass er das Phänomen des Totalitarismus im Sinn der Entstehung totalitärer Systeme nicht auf psychologische Faktoren reduzieren will. Er betont, dass totalitäre Systeme auch auf technologischen und organisatorischen Bedingungen beruht,
„… which gave rise to the fanatic idea of the total state, favor its realization in well-timed revolutionary acts, and furthermore, maintain it through the realities of power and terror. Only such historical perspective can give the proper measure of the different degrees and kinds of ideological involvement on the part of the many types that make up a totalitarian state: fanatic apostles and shrewd revolutionaries; lonely leaders and oligarchic cliques; sincere believers and sadistic exploiters; obedient bureaucrats and efficient managers, soldiers, engineers; willing followers, apathetic toilers, and paralyzed opponents; unnerved victims and bewildered would-be victims. My training and experience permit me to attempt a contribution to only one of the more basic and yet often less tangible factors in all these forms of participation, namely, the psychological prerequisites for an inspiring or paralyzing sense of the legitimacy of totalitarianism” (Erikson 1968: 78; Hervorhebung d.d.A.).
Diese psychologischen Voraussetzungen für die Akzeptanz von Totalitarismus liegen in der Persönlichkeit von Menschen, und für die Persönlichkeitsentwicklung jedes Menschen sind seine Erfahrungen in Kindheit und Jugend von erheblicher Bedeutung, und deshalb meint Erikson:
„… that [there is] something in the nature of childhood which may throw light on man’s inclination, under certain conditions, to be available for what the Germans call Umschaltung and Gleichschaltung, that sudden total realignment and, as it were, coalignment which accompany a conversionlike conviction that the state may and must have absolute power over the minds as well as the lives and fortunes of its citizens” (Erikson 1968: 78; Hervorhebung im Original).
Hier spezifiziert Erikson seine Fragestellung also etwa wie folgt: Welche Kindheitserfahrungen stehen in einem Zusammenhang mit der späteren – oft als ideologische Konversion erlebten – Bildung der Überzeugung, dass es notwendig oder zumindest legitim sei, wenn ein Staat die Gedanken, die Lebenspraxis und die Geschicke seiner Bewohner zu bestimmen versucht? Oder einfacher: Welche Kindheitserfahrungen befördern die spätere Bereitschaft, sich ideologisch um- oder gleichschalten zu lassen.
Nach Erikson wäre Um- und Gleichschaltung nicht möglich, wenn nicht alle Menschen ein Bedürfnis nach psychologischer Ganzheit hätten, denn
„[w]e discern in normal and abnormal individual histories … sudden transitions from a balanced ‘wholeness’ of experience and judgment to states of feeling, thinking, and acting ‘totally’” (Erikson 1968: 78).
Erikson meint also, dass die psychologische Grundlage des Totalitarismus ein aus dem Gleichgewicht geratenes Streben nach Ganzheit bzw. ein Streben nach Totalität statt nach Ganzheit ist. Man kann deshalb sagen, dass die psychologische Grundlage von Totalitarismus Totalismus ist. Dabei meint Erikson mit „Ganzheit“
„… an assembly of parts, even quite diversified parts, that enter into fruitful association and organization. This concept is most strikingly expressed in such terms as wholeheartedness, whole mindedness, wholesomeness, and the like. As a Gestalt, then, wholeness emphasizes a sound, organic, progressive mutuality between diversified functions and parts within an entirety, the boundaries of which are fluid. Totality, on the contrary, evokes a Gestalt in which an absolute boundary is emphasized: given a certain arbitrary delineation, nothing that belongs inside must be left outside, nothing that must be outside can be tolerated inside. A totality is as absolutely inclusive as it is utterly exclusive – whether or not the category-to-be-made-absolute is a logical one, and whether or not the constituent parts really have an affinity for one another” (Erikson 1968: 81).
Während „Ganzheit“ für Erikson also eine organische Verbindung von miteinander in Verbindung stehenden Elementen ist, ist Totalität für ihn eine Sammlung von Elementen, die vor allem deshalb eine „Totalität“ bilden, weil sie klar nach außen hin abgegrenzt sind, und weniger (oder gar nicht) deshalb, weil die Elemente untereinander in organischen Verbindungen stünden. Eben weil sie dies im Fall der „Totalität“ kaum (oder nicht) nicht tun, ist die Abgrenzung nach außen so wichtig; sie ist sozusagen das negative definitorische Element der „Totalität“, die sich nicht positiv aus sich selbst heraus bestimmen oder legitimieren kann. Sie kann nur – mehr oder weniger willkürlich – festlegen, was „dazu“ bzw. „nach innen“ gehört, was also als Element der „Totalität“ beansprucht wird, und was „nicht dazu“ oder „nach außen“ gehört und – eben deshalb – als Gegensatz zur Totalität, als sie bedrohend, anzusehen ist. Was „Ganzheit“ und „Totalität“ unterscheidet, wird vielleicht besonders deutlich, wenn Erikson schreibt:
„To have the courage of one’s diversity is a sign of wholeness in individuals and in civilization” (Erikson 1968: 90).
Psychologische Ganzheit kann es sich also leisten, augenscheinlich (zunächst) nicht miteinander Verbundenes zuzulassen oder Neues auszuprobieren und ggf. zu integrieren; Erstere wird dadurch nicht bedroht, sondern bildet – im Gegenteil – die sichere Grundlage, auf der Letzteres möglich ist. So betrachtet zeichnet sich Totalität gegenüber Ganzheit durch Unverrückbarkeit und Undurchlässigkeit der einmal festgelegten Grenzen zwischen dem, was „dazu“ gehört, und dem, was „nicht dazu“ gehört, aus bzw. durch Unversöhnlichkeit mit Bezug auf alles, was „nicht dazu“ gehört. Man könnte das m.E. auch einigermaßen treffend und in neuer psychologischer Formulierung als mangelnde Ambiguitätstoleranz bezeichnen.
Nach Erikson kann eine zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichte Ganzheit – eben wegen ihrer Offenheit – im Fall von Überforderung gefährdet sein oder zerstört werden. Zerstörte Ganzheit wird durch Totalität ersetzt:
„When the human being, because of accidental or developmental shifts, loses an essential wholeness, he restructures himself and the world by taking recourse to what we may call totalism“ (Erikson 1968: 81; Hervorhebung im Original).
Hierin besteht die Verbindung zwischen Ganzheit bzw. Totalismus und Eriksons Modell von Entwicklungsstufen: wie oben bemerkt, ist jede Entwicklungsstufe mit spezifischen Erfahrungen verbunden, die eine spezifische psychologische Krise herbeiführen. Und jede psychologische Krise bedroht oder zerstört (zumindest teilweise) die Ganzheit, die dann – temporär oder dauerhaft – durch Totalismus ersetzt wird. Totalismus ist vor diesem Hintergrund
„… an alternate, if more primitive, way of dealing with experience, and thus has, at least in transitory states[!], certain adjustment and survival value. It belongs to normal psychology. Any possible psychiatric inquiry is restricted to these questions: Can the transient means of emergency adjustment [d.h. Totalismus als “Notstrategie für den Ersatz beschädigter oder verlorener Ganzheit] be prevented from becoming fixed ends? Can totalism reverse itself when the emergency is over? Can its elements be resynthesized in a wholeness which was previously possible?” (Erikson 1968: 81).
Erikson erläutert in seinem Text nicht auf systematische Weise, wie welche spezifische psychologische Krise im Zuge der jeweiligen Entwicklungsaufgabe die psychologische Ganzheit bedroht:
„I shall not outline here the implications of each of the successive childhood stages for the ideology of totalitarianism. The original alternative of a ‘whole’ solution in the form of basic trust and a ‘total’ solution in the form of basic mistrust … is followed on each step by analogous alternatives …” (Erikson 1968: 85).
Die im Zitat angesprochene “original alternative” entsteht als Folge der ersten krisenhaften Entwicklung, die Erikson im Lebensverlauf jedes Menschen verortet, nämlich als Folge der Trennung des Kleinkindes von der Mutter (Erikson 1968: 86), die mit der Entwöhnung des Säuglings beginnt und sich in der zunehmenden Rückkehr der Mutter zu einem eigenen Leben, d.h. zu anderen Tätigkeiten als dem ständigen Umgang mit dem Kind, fortsetzt (Erikson 1968: 101).
„It is against the combination of these impressions of having been deprived, of having been divided, and of having been abandoned, all of which leave a residue of basic mistrust, that basic trust must establish and maintain itself“ (Erikson 1968: 102).
Inwieweit dies gelingt, hängt von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung insgesamt ab bzw. davon, inwieweit es der Mutter gelingt,
„[…] sensitive care of the baby’s individual needs and a firm sense of personal trustworthiness within the trusted framework of their community’s life style [zu kombinieren]” (Erikson 1968: 103).
Immerhin ist
“[t]he mother, of course, … not only a parturient creature but also member of a family and society. She, in turn, must feel a certain wholesome relation between her biological role and the values of her community. Only thus can she communicate to the baby, in the unmistakable language of somatic interchange, that the baby may trust her, the world, and – himself” (Erikson 1968: 82).
Die erste psychosoziale Krise, die das (dann jedenfalls noch unbewusste) Ganzheitsempfinden des Kindes zerstören kann, stellt sich also zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Leben jedes Kindes ein, und sie hinterlässt ihre Spuren im Erwachsenen:
„There is ‚orality‘ as a normal substratum in all individuals, a lasting residuum of this first period of dependency on powerful providers … The integration of the oral stage with all the following ones results, in adulthood, in a combination of faith and realism” (Erikson 1968: 102).
„Oral pessisim“ (Erikson 1968: 102) bzw. ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Welt bzw. denen, die sie bevölkern, ist ein möglicher Ausgang dieser Entwicklungsphase. Sie kann in tiefsitzenden (Verlust-/Deprivations-)Ängsten resultieren, die ihrerseits zu dem führen können, was in der Psychoanalyse „oral sadism“ (Erikson 1968: 102) genannt wird, d.h. zu
„… a cruel need to get and to take in ways harmful to others or to oneself” (Erikson 1968: 102).
Die zweite krisenhafte Entwicklung im Lebensverlauf, in deren Zug nach Erikson Ganzheit verlorengehen kann und die von Erikson explizit in diesem Zusammenhang angesprochen wird, ist der “inner split” (Erikson 1968: 86), der erfolgt, wenn ein Kind – etwa im Alter von 5 Jahren – ein Gewissen entwickelt, das in der Psychoanalyse als Super-Ego bezeichnet wird und dem Ego des Kindes, seinen Zielen und seinen Mitteln der Zielerreichung, innere Grenzen setzt.
„Only a combination in parents of true tolerance and firmness can guide an infantile process which otherwise falls prey to the cruelly ‚categoric‘ attitude employed by a strict conscience which first turns against the self, but in one way or another later focuses on the suppression of others. This inner split, then, is the second great inducement … to ‚total‘ solutions in life which are based on the simple and yet so fateful proposition that nothing is more unbearable than the vague tension of guiltiness. For this reason, then, some individuals sometimes try to overcome all moral vagueness by becoming totally good or totally bad – solutions which betray the ambivalent nature in that the totally ‘good’ may learn to become torturers ad majorem Dei gloriam, while the totally ‘bad’ may develop decided loyalties to leaders and cliques” (Erikson 1968: 86; Hervorhebung im Original).
Was Erikson hier an die Hand gibt, ist nicht nur eine Interpretation psychologischen Totalismus als Ergebnis einer unzureichenden Integration von Ego und Superego. Darüber hinaus bietet er damit eine Möglichkeit, die Typen der Mitläufer und Vorauseilend-Gehorsamen einerseits und der „Propheten“, Inquisitoren und Umerzieher andererseits, auf denen jedes totalitäre System beruht, als zwei Ausprägungen des gleichen missglückten Integrationsversuchs von Ego und Superego zu betrachten. Dies steht im Einklang mit Befunden aus empirischen Studien, die zeigen, dass kaum ein nennenswerter psychologischer Unterschied zwischen Menschen am rechten Rand des ideologischen Spektrums und solchen am linken Rand des ideologischen Spektrums besteht (Alizadeh et al. 2019; Benjamin 2014; Brandt, Reyna, Chambers et al. 2014; Crawford & Pilanski 2014; Lammers, Koch, Conway & Brandt 2017; Lindner & Nosek 2009; Tetlock, Armor & Peterson 1994; Thorisdottir et al. 2007; Van Hiel, Duriez & Kossowska 2006; Van Prooijen, Krouwel & Emmer 2018). Die Unterschiede bestehen weit mehr in den Inhalten als in den psychologischen Grundlagen. In der Terminologie Eriksons sind Links- und Rechtsextreme gleichermaßen psychologisch Totale, wobei Rechtsextreme tendenziell den Typus repräsentieren, den Erikson die „totally bad“ nennt, während Linksextreme den Typus repräsentieren, den Erikson die „totally good“ nennt, wobei – es sollte eigentlich überflüssig sein, dies zu betonen, aber man weiß ja nie, wer warum was wie misszuverstehen geneigt ist – „totally good“ und „totally bad“ hier nicht als Werturteile Eriksons zu verstehen sind, sondern sozusagen als zwei Seiten derselben Medaille: die „totally bad“ lösen moralische Ambiguität auf, indem sie Verantwortung mehr oder weniger komplett abtreten (an den Führer, die Partei …), und die „totally good“ lösen moralische Ambiguität auf, indem sie jedes Mittel für akzeptabel erklären, wenn es nur im Dienst der „guten“ Sache steht.
Erikson schreibt weiter:
„The end of childhood seems to me the third, and more immediately political, crisis of wholeness. Young people must become whole people in their own right, and this during a developmental stage characterized by a diversity of changes in physical growth, genital maturation, and social awareness” (Erikson 1968: 87).
Junge Menschen müssen am Ende der Kindheit also Ganzheit als Sinn für die eigene, innere Identität entwickeln, und dies angesichts einschneidender physischer Veränderungen und erhöhter Aufmerksamkeit für die soziale Welt (Erikson 1968: 87). Um Ganzheit als innere Identität herstellen zu können, müssen junge Menschen eine Kontinuität zwischen dem herstellen, was sie während der Kindheitsjahre geworden sind, und dem, was sie in der Zukunft sein können oder wollen, sowie zwischen dem, was sie in Zukunft sein können oder wollen, und dem, was sie meinen, dass Andere in ihnen sehen (Eriksen 1968: 87). Von einem Ende der Jugendphase kann man im entwicklungspsychologischen Sinn nur dann sprechen, wenn ein gefestigter Sinn für die eigene innere Identität entwickelt wurde (Erikson 1968: 88), und dieser Sinn für die eigene innere Identität ist der notwendige Ausgangspunkt für „truly individual maturation“ (Erikson 1968: 89).
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Die Suche nach Ganzheit als Sinn für eine eigene innere Identität erfolgt nach Erikson vor allem durch
„… the persistent adolescent endeavour to define, overdefine, and redefine themselves, and each other in often ruthless comparison, while a search for reliable alignments can be recognized in the restless testing of the newest in possibilities and the oldest in values. Where the resulting self-definition … becomes too difficult, a sense of role confusion results: the young person counterpoints rather than synthesizes his sexual, ethnic, occupational, and typological alternatives and is often driven to decide definitely and totally for one side or the other” (Erikson 1968: 87).
Auch oder gerade am Ende der Kindheit neigen junge Menschen angesichts von Rollenkonfusion bzw. einem Überangebot an Alternativen – und besonders, wenn sie auf früheren Entwicklungsstadien Überbleibsel von Totalität oder sagen wir der Einfachheit halber: dem Blick auf die Welt in Schwarz-Weiß – Totalität an die Stelle noch nicht erreichter Ganzheit zu setzen.
Nach Erikson hat die Gesellschaft im Zusammenhang mit der psychologischen Krise am Ende der Kindheit der nachwachsenden Gesellschaftsmitglieder eine wichtige Funktion zu erfüllen, nämlich
„… the function of guiding and narrowing the individual’s choices“ (Erikson 1968: 87),
und diese Funktion erfüllen Gesellschaften durch Initiationen oder Übergangsrituale (Erikson 1968: 87). Wo sie fehlen oder eine großer Anteil der Jugendlichen an keinem Übergangsritual teilnimmt (bzw. teilnehmen muss), bleiben die (entsprechenden) Jugendlichen auf sich selbst gestellt. Die spontane Selbst-Standardisierung von Jugendlichen durch Kleidungsstile, Frisuren, die Art zu sprechen u.v.m. ist im Stande, sie zeitweise psychologisch „zu verorten“, aber sie verortet die Jugendlichen als Jugendliche in Cliquen von Gleichaltrigen, aber nicht in der Gesellschaft, und kann deshalb kein Ersatz für eine stabile innere Identität sein, die den jungen Menschen ins Erwachsenenalter hinein „trägt“.
Bei der Entwicklung einer stabilen inneren Identität benötigt der junge Mensch also die Unterstützung durch die Gesellschaft. Eine Variante derselben besteht im
„… collective sense of identity characterizing the social groups significant to him: his class, his nation, his culture … Where historical and technological development, however, sincerely encroach upon deeply rooted or strongly emerging identities … on a large scale, youth feels endangered, individually and collectively, whereupon it becomes ready to support doctrines offering a total immersion in a synthetic identity … and a collective condemnation of a totally stereotyped enemy of the new identity. The fear of loss of identity which fosters such indoctrination contributes significantly to that mixture of righteousness and criminality which, under totalitarian conditions, becomes available for organized terror and for the establishments of major industries of extermination. And since conditions undermining a sense of identity also fixate older individuals on adolescent alternatives, a great number of adults falls in line or are paralyzed in their resistance” (Erikson 1968: 89).
Erikson hat zwar selbst nicht von “Globalisierung” geschrieben, weil der Begriff in den 50er- und 60er-Jahren noch nicht verbreitet war, aber er hat von „…a more universal identity” (Erikson 1968: 90) geschrieben und festgehalten, dass abzuwarten bleibt, ob sie im Stande sein wird,
„… to embrace all the diversities and dissonances, relativities and mortal dangers which emerge with technological and scientific progress“ (Erikson 1968: 90).
Inzwischen sind mehrere Jahrzehnte vergangen. Wie würde Erikson diese Frage beantworten, wenn er heute (noch) leben würde?
Wir können darüber nur spekulieren. Festgehalten werden kann aber, dass es eine Reihe von Autoren gibt, die sich in der Nachfolge von Erikson verorten und sich vor dem Hintergrund seiner Arbeiten um eine Antwort auf diese Frage bemühen bzw. sich Gedanken machen, um „The Future of Identity“ auf der Basis von „Reflections on the Legacy of Erik Erikson“ (Hoover 2004) machen.
So ist beispielsweise Kinnvall (2004: 115) der Auffassung, dass die „ontologische Sicherheit“ als ein tief empfundenes Gefühl eigener Sicherheit in der Welt und eines Grundvertrauens in andere Menschen – wie es sich nach Erikson bei geglückter Überwindung der ersten psychologischen Krise im Kleinkindalter einstellt – angesichts realer Folgen von „… globalization, diaspora, refugees, and migration …“ (Kinnvall 2004: 115) schwieriger zu entwickeln und – vor allem – zu erhalten ist als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war:
„Globalization as a technological annulment of temporal/spatial distances does not … so much homogenize the human condition as it tends to polarize it” (Kinnvall 1968: 118),
und in psychologischer Hinsicht bedeutet Polarisierung Totalismus.
„The search for one stable identity … is a way to cope with an increasingly globalized world. In this process the need to construct an ‘other’ who can be turned from stranger into enemy becomes a way to confirm the identity of oneself” (Kinnvall 1968: 121).
Hinzu kommt, dass jungen Menschen heute eine schier unüberblickbare Anzahl von Identitäten, Erikson würde – treffender – sagen: Rollen angeboten werden, aber sehr wenige von ihnen
„… opportunities for or sense of contribution, participation and growth at either a personal or a societal level …” (Kinnvall 2004: 122)
bieten.
Die Ausweitung des Moratoriums der Jugend bis ins mittlere Erwachsenenalter, die Inflationierung von Bildungsabschlüssen und damit von Ansprüchen auf white-collar-Arbeitsplätze, die Aushöhlung des Leistungsprinzips, die Akzeptanz von Transfer-Existenzen, dies alles (und vieles Weitere) dürfte plausiblerweise dazu beigetragen haben, dass ein Sinn dafür, einen Beitrag zu irgendetwas Nennenswertem geleistet zu haben, kaum mehr in der Realität festzumachen ist, sondern in eine Welt der Worte und des symbolischen Handelns abgedrängt wird. Gegenseitige Anerkennung hat dann keine reale Basis mehr, sondern wird zur Geschmacksfrage, und sie kann mehr oder weniger willkürlich gegeben werden – oder vorenthalten, worauf hin sich Frustration einstellt, und
„frustration is likely to lead to resentment and hostility …“ (Kinnvall 2004: 122).
Enttäuschenderweise fällt Kinnvall als „Lösung“ für diese Lage, in der es schwierig ist, eine stabile innere Identität zu entwickeln und psychologisch erwachsen zu werden, lediglich ein, sich weiterhin in einer Wort- und Phantasiewelt zu verlieren und den Wunsch nach einer stabilen inneren Identität aufzugeben, konkret,
„…. to unveil the power structures involved in the appeal to one and only one inclusionary identity” (Kinnvall 1968: 133),
d.h. – in typisch kommunistischer Manier – ein Exemplar eines utopischen neuen Menschen zu werden, der unbefriedigbare Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach psychologischer Ganzheit, nach einer stabilen inneren Identität, die einen auch durch ein wechselhaftes Leben hindurch „trägt“, idealerweise einfach nicht hat, oder – zumindest – zu versuchen, sich selbst in einen solchen utopischen Menschen umzuamputieren. Es ist auch nicht schwierig abzusehen, dass die Beschäftigung mit „power structures“ – besonders im Jugendalter – eine ohnehin vorhandene Tendenz zum Totalismus, zum dichotomen Denken und Empfinden, eigentlich nur stärken kann und insofern alles andere als konstruktiv ist. Und deshalb muss m.E. für Kinnvall – wie für so viele und m.E. zu viele andere Wortakrobaten mit kommunistischen Neigungen – gelten:
„Uneasiness with liberal values, discomfort with uncertain identities, and resentment of the privileged are perennial problems in modern societies. What is new today is that radical leaders are using the tools of globalization to construct new, transnational identities based on death cults, turning grievances and alienation into powerful weapons” (Stern 2003: 39-40),
auch, wenn zugegebenermaßen der Begriff “leader” in diesem Zusammenhang unangemessen ist.
Was wir angesichts dieser Lage tun können und müss(t)en, ist zuallererst, Letzeres zu verhindern, also zu verhindern, dass solche Extremisten „Identitäten“ anbieten, die die Neigung junger Menschen zur Totalität bestärken und ihnen damit die Entwicklung psychologischer Ganzheit – einer psychologischen Synthese, die auch moralische Ambiguitäten ertragen kann – bis auf Weiteres unmöglich macht.
Dabei könnten gesellschaftliche Institutionen eine wichtige Rolle spielen:
„Every tired human being may regress temporarily to partial mistrust whenever the world of his expectations has been shaken to the core. Yet social institutions seem to provide the individual with continuing collective reassurances in regard to such anxieties as have accrued from his infantile past” (Erikson 1968: 83).
Es gilt daher, deutlich zu erkennen, welche gesellschaftlichen Institutionen ihre Funktionen (noch) erfüllen und welche dies nicht tun, sondern ihrerseits zu Propaganda-Einrichtungen geworden sind, und ggf. Institutionen neu zu schaffen oder solche zu unterstützen, die die „alten“ (psychologischen) Funktionen erfüllen können und wollen.
Konkret bedeutet das z.B., dass Eltern wie ihre jugendlichen Kinder akzeptieren, dass Universitäten – teilweise ganz, teilweise nur in bestimmten Fakultäten – längst nicht mehr Einrichtungen für den Erwerb von Bildung und auf Leistung beruhender Qualifikation sind, aber es Institutionen gibt, die diese Funktionen noch oder neuerdings wieder erfüllen, so dass es nicht „Schicksal“ junger Menschen sein muss, von diesem Element einer stabilen Identität, die sie in die Zukunft hinein und durch die Zukunft hindurch tragen kann, depriviert zu werden oder zu bleiben.
Literatur:
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Brandt, M. J., Reyna, C., Chambers, J. R., Crawford, J. T., Wetherell, G., 2014: The Ideological-conflict Hypothesis: Intolerance among Both Liberals and Conservatives. Current Directions in Psychological Science 23(1): 27–34.
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Friedman, Lawrence J., 1999: Identity’s Architect: A Biography of Erik H. Erikson. London: Free Associations.
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Lustig in dem Zh. ist ja, daß Erkisons Kollege Maslow mit seiner Motivhierarchie ähnliches sagt (was kaum bekannt ist): Wirklich gesunde und in sich ruhende Menschen müssen ganz oben auf der Pyramide hocken; dann ist man Anarchist (wie Maslow auch) und braucht keine Regierung und keine Kommandos mehr. Wer weiter unten ist, ist nicht ganz reif und brauch noch all diese bösen Dinge wie Nation, Geld, Kapitalismus…
OK, Maslows Theorie ist insofern Blödsinn. Erikson hingegen sieht das Problem der Entwicklungsverzögerung bzw. ewigen Infantilität schon voraus, das die Narzißmus-Forscher der letzten 20 Jahre aufgedeckt haben.
Interessanterweise BRAUCHEN wir Menschen auch “böse” Erfahrungen wie Unterordnung oder streß, um erwachsen zu werden. Die jungen Linken der westlichen Länder hingegen haben ja gar keine schlechten Erfahrungen gemacht, das ist das Problem.
Und wieder andere von denen, wohl die ganzen männlichen Antifaschläger, haben hingegen Probleme mit ihrer Vaterfigur, die teils schon fehlt.
Die überbehüteten Mädchen der Bürgerschicht hingegen werden erstaunlicherweise auch recht aggressiv, wie die FFFler um Vielflieger-Luisa und Lilith Rein zeigen: https://www.youtube.com/watch?v=EOUovAzR2fg
Was Erikson und den Narzissmus betrifft kann ich Ihnen nur zustimmen;
Neuere Arbeiten widmen sich ausführlich dem zunehmenden Narzissmus (in der grandiosen wie der verunsicherten Variante), und in mancher Hinsicht sind diese Arbeiten direkt anschlussfähig an Eriksons Überlegungen, obwohl sie meist nicht explizit an sie anschließen (manchmals aber sozusagen ersatzweise an Bowlby bzw. seine Bindungstheorie), vermutlich schon deshalb, weil Erstere meist einer quantitativ-empirischen Wissenschaftstradition angehören, die mit Psychoanalyse gewöhnlich einige Schwierigkeiten hat.
Maslow auf die Bedürfnispyramide zu reduzieren, was leider in vielen Lehr- und Schulbüchern geschieht, tut ihm Unrecht. Maslow hat die Transpersonale Psychologie mitbegründet, und diese bedeutet einen Quantansprung in der Sicht auf die Entwicklung menschlicher Persönlichkeit. Die Anarchie ist Ihre Interpretation.
Wenn man Maslow schon auf etwas reduzieren möchte, dann auf diesen Satz: “Wissenschaft ist die einzige Art und Weise, die Wahrheit in ein widerspenstiges Gehirn einzutrichtern.” Ambitioniert, aber gut.
Beim Begriff der “Totalität” denke ich besonders an Adorno, der meinte, dass man die gesellschaftliche Realität nur total denken könne (ich habe den nie gelesen, das schafft man nicht, aber immer wieder solche Aussagen gelesen).
Nur was ist die “totale Methode”. Ja das ist eben die ausgezeichnete Methode, die genau die Ergebnisse bringt, die der eigenen totalen Ideologie genüge sind.
Man muß allerdings sagen, dass Adorno gleichzeitig aber auch jedes methodische Vorgehen abgelehnt hat, das war ja bereits die Ideologie die er ablehnte.
Also er was sich klar darüber, dass man rational keine bessere Gesellschaft schaffen könne, aber das Totale denken muß (und total denken muß), so dass sich das Richtige einstellen kann,
Rationales Vorgehen vergewaltigt das einzigartig menschliche, dass nur durch die Totalität zu erfassen ist und dann von selbst Erkenntnis und Realität in Übereinstimmung bringt. Nur wer das Totale a priori erfaßt gehört zu den Erleuchteten.
Den vulgärmarxistischen Studenten war das (verständlicherweise) zu abstrakt (auch ich hätte damit nichts anfangen können) und deshalb mußte Adorno einen Protest gegen sich von der Polizei räumen lassen. Die Studenten hatten sich (verständlicherweise) Konkreteres erhofft.
Habermas konnte die vulgären (aber auch suchenden) Studenten dann “Linksfaschisten” nennen. Die Studenten hatten keine konkrete Anleitung mehr.
Habermas hat dann mit unglaublichem Geschwafel (Anstrengung des Begriffs) dann eine methodische Synthese aus Vulgärmarxismus und Adornos Diktum des Nicht-Konkreten gebastelt. Auch reine Ideologie, die eigentlich keine Folgen mehr hatte. Denn durchgesetzt hat sich der ideologische Primitivismus.
… ach, Adorno, Habermas …
Ich habe von Adorno einiges gelesen (woraus ich teilweise sogar Sinn machen konnte), vieles aber nicht, manches begonnen, aber wegen mentaler Unzumutbarkeit nicht zu Ende gelesen, und Habermaas fand ich einfach nur trivial; er hat m.W. zu nichts irgendetwas neues oder konstruktives geschrieben. Ich konnte bei Adorno noch eine gewisse Ernsthaftigkeit mit Bezug auf die Behandlung seiner Themen feststellen, aber bei Habermaas nicht. Er ist nun wirklich nicht einmal in die Nähe eines Sozialwissenschaftlers zu bringen, sondern bloß das, was man hier bei uns auf der Insel einen “pundit” nennt, eine Art Butterwegge der 60er.
Ich finde Adorno teilweise nachvollziehbar teilweise wirr (er ist, glaube ich, mit einigen Dingen einfach nicht so richtig fertiggeworden…), Habermaas uninteressant und stellenweise dümmlich, aber immer noch ieinigermaßen harmlos im Vergleich z.B. zu Marcuse.
Wie auch immer – Eriksons fasst den Versuch, bedrohte oder verlorene Ganzheit durch Totalismus zu ersetzen, immer, per se als regressiv auf. Er gesteht zu, dass eine solche Regression in einer konkreten Situation eine Schutzfunktion haben kann, betont aber an vielen Stellen, dass eine Regression ins Totale nicht “fixiert” (in meiner Sprache wäre das wohl: dauerhaft) werden darf, wenn sie nicht ins Pathologische führen soll.
Bei Erikson ist Totalismus jedenfalls immer eine Regression ins Primitive(re).
Ich habe eine gewisse Schwäche für die minima moralia. Ich sehe A. mehr als philosophischen Aphoristiker denn als Wissenschaftler. Ich glaube er war eher Künstler/Schriftsteller mit einer zu hohen Dosis an Hegel und Marx. Das hat ihn, auch stilistisch, ruiniert. Mein Zugang zu Adorno lief über die Musik Arnold Schönbergs, die ich für eine ganz große halte.
Zum Thema: ich finde an dem Modell von Erikson reizvoll und plausibel, Entwicklung geschähe in Sprüngen und unter Stress. Das stützt meine stark “biologistische” Sicht auf das menschliche Treiben.
Wichtig ist auch die Frage, wie gesellschaftliche Institutionen sozusagen “sauber” gehalten werden können, so dass sie den Menschen ermöglichen, Ganzheit zu erreichen, und plötzliche gesellschaftliche/soziale Schocks so verarbeiten zu können, dass sie nicht in Totalität verfallen. Konkret fällt mir die Institution “Religion” und die dazugehörigen religiösen Organisationen ein, die den Menschen vermittels Kultus und Ritus, die jedes Jahr wiederholt werden (Jahreskreis), eine grundlegende psychologische Stabilität verleihen können. Aber wie man immer deutlicher sehen kann, sind die für den Westen maßgeblichen christlichen Kirchen vom linken Zeitgeist unterwandert worden, und auch die Kirchengeschichte zeigt, dass totalitäre Typen immer wieder auftauchen, und die christliche Lehre auf den Kopf stellen. Das war auch die Sichtweise der Protestanten und der Siebten-Tags-Adventisten gewesen, die im Papsttum den Antichristen und im Weltmachtstreben der Katholischen Kirche “zur größeren Ehre Gottes” das Tier der Johannes-Offenbarung erkannt haben. Erst mit der Ökumene haben die Protestanten sich für Martin Luther entschuldigt und die Bezeichnung des Papstes als Antichristen zurückgenommen. Es scheint also so zu sein, dass keine Institution sicher ist, dementsprechend ist es hochinteressant, herauszufinden, wie Institutionen vor Totalität geschützt werden können.
Nachtrag: wenn man davon ausgeht, dass sich Linke und Rechte zu psychologisch Totalen entwickeln können, dass also die Erzählung vom guten Linken und vom bösen rechten umgekehrt erzählt auch falsch ist, dann dürfte es wohl auch nur eine Frage der Zeit sein, bis es zu einer rechten Unterwanderung der Institutionen kommt. Vielleicht liegt eine Antwort auf die Fragen “welche gesellschaftliche Institutionen noch funktionieren” und “wie man Institutionen vor der Übernahme durch Totalitäre schützen kann” darin, dass das System, in dem es ein “links” und ein “rechts” gibt, reformiert oder beendet wird.
Kurze Antwort hierauf:
Ich denke, ein “rechts” und ein “links” (in irgendeinem Sinn) wird und darf es geben. Es muss nur ein relatives “rechts” und “links” sein. Was sich ein System nicht dauerhaft leisten kann, sind Extremisten, Unversöhnliche, Unkooperative, Absolutisten, Totalisten, wie auch immer man sie nennen möchte. Die wirklich interessante und relevante Unterscheidung ist deshalb “Gemässigte (Linke oder Rechte oder sonst etwas) vs. Extreme jeglicher Ausprägung.
In der entsprechenden Literatur wird das auch immer deutlicher herausgearbeitet bzw., es gibt immer mehr Studien (von denen ich eine Reihe im meinem Text oben zitiert habe), die Belege dafür erbringen, dass Rechtsexteme und Linksextreme sehr viel miteinander gemeinsam haben (und weniger mit ihren jeweils gemässigten “Lagergenossen”).
Es gibt eine (psychologisch oder soziologisch) natürliche Grenze für das Ausmaß an Extremismus, ab der/oberhalb derer menschliches Zusammenleben nicht mehr möglich ist – oder für eine Weile nur unter Anwendung extremer Gewaltandrohung möglich ist, was seinerseits aus verschiedenen Gründen nicht dauerhaft sein kann (die ich jetzt nicht nennen kann, sonst schreibe ich hier am Ende noch eine mehrbändige Abhandlung), auch wenn einige extrem extreme Kommunisten/Marxisten sich solcher Utopien hingeben mögen.
Und was die “Übernahme” von Institutionen betrifft: s.u.
Sie brauchen keinen Schutz vor “Übernahme”; sie erledigen sich von selbst, und die Funktionen, die sie nicht mehr erfüllen, werden von anderen/neuen Institutionen übernommen.
… ja, just die organisierte Religion spricht Erikson in seinem Text (auf S. 83) auch an als Beispiel für eine Insitution an, die
“….the individual with continuing collective reassurances in regard to such anxieties as have accrued from his infantile past” versorgen kann.
Er schreibt:
“There can be no question but that it is organized religion which systematizes and socializes the first and deepest conflict in life: it combines the dim images of each individuals’s first providers into collective images of primeval superhuman protectors; it makes comprehensible the vague discomfort of basic mistrust by giving it a metaphysical reality in the form of defined Evil; and it offers to man by way of rituals a periodic collective restitution of trust which in mature adults ripens to a combination of faith and realism … Religion restores, …. a new sense of wholeness, of things rebound”.
Und in einem Kapitel desselben Buches (“Identity, Youth, and Crisis”), in dem es nicht um Totalismus geht, schreibt er kurz über “law und order”:
“Man’s basic need for a delneation of his autonomy seems to have an institutional safeguard in the principle of law and order” (S. 113).
Also ja, Erikson ist anscheinend der Auffassung, dass bestimmte Funktionen durch Institutionen erfüllt werden (müssen), um Menschen das Zusammenleben in einer Gesellschaft bzw. Gesellschaft (also auf der individuellen wie der kollektiven Ebene) zu ermöglichen.
Das ist nicht überraschend, hat Erikson sich doch für Ethnologie interessiert (und in den USA Kindererziehung unter den Oglala Sioux beobachtet), und in der Ethnologie ist die Vorstellung, dass Institutionen bestimmte notwendige Grundfunktionen für Menschen bzw. ihr Zusammenleben erfüllen (müssen).
Wenn bestehende Institutionen dies nicht (mehr) tun, dann geraten sie entweder unter Reformdruck, oder es entstehen neue Institutionen, die die Funktion erfüllen, die die entspechende vorher bestehende Institutionen nicht (mehr) erfüllt.
Das ist gerade der Witz an der Idee von den notwendigen Grundfunktionen, die Institutionen erfüllen müssen:
Wenn die Idee richtig ist, dann ist es gesellschaftlich betrachtet kein echtes Problem (wenn auch für jeweils Betroffene ggf. ziemlich enttäuschend oder ärgerlich), wenn bestimmte Institutionen aufhören, ihre Funktion zu erfüllen, denn GENAU DANN, wenn die Funktion tatsächlich notwendige sind, werden neue/andere Institutionen entstehen, die die Funktion übernehmen.
Und ich denke, dass wir diesen Prozess täglich beobachten können (und ich würde nicht nur psychologische Gründe für diesen Prozess annehmen, sondern auch handfeste praktische):
Die Leute wenden sich von den “alten” Medien an, weil sie nicht mehr faktisch (zu) berichten (versuchen).
Sie wenden sich von den etablieren Kirchen ab, treten anderen Religionen als dem Christentum bei oder gründen ersatzweise spirituelle Vereinigungen o.ä.
Qualitätvolle oder am Arbeitsmarkt nachgefragte Ausbildung wird nicht mehr (oft oder normalerweise) von Universitäten oder Hochschulen geleistet, sondern wird zunehmend von privaten Anbietern bereitgestellt, oder die Unternehmen übernehmen sie selbst durch training on the job …. All diese Insitutionen, die ihrer Funktionen nicht mehr erfüllen
Gerichte und Anwälte sind eine etwas andere Sache: sie können nicht einfach durch Unzufriedenheit der Leute mit ihren Leistungen ersetzt werden, aber sie sind derzeit mitten in einem Prozess der Delegitimierung (“Gutachten bestellen”, “ideologische Rechtsprechung” etc.), und ich bin sicher, dass sie zunehmend unter Druck geraten werden, wieder so etwas wie Rechtstaatlichkeit zu etablieren, oder die Leute nehmen die Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Schutz des Lebens, Gerechtigkeit, Verlässlichkeit von Verträgen etc. selbst in die Hand.
Immerhin sehen wir schon in den USA, wie die Polizei, wenn sie an der Erledigung ihrer Arbeit systematisch gehindert wird, durch andere Gruppen ersetzt wird, die zumindest einen Teil ihrer Funktionen übernimmt. Diese Gruppen werden sich dementsprechend (weiter) insitutionalisieren, wenn die öffentliche Verwaltung sich weiterhin weigert, der Polizei die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen.
Und deshalb pflege ich zu sagen:
man kann Insitutionen nicht “übernehmen”, jedenfalls nicht im ideologischen Sinn, denn die notwendigen Funktionen müssen erfüllt sein (sonst wären sie nicht NOTWENDIG), und wenn eine Ideologie just dies nicht leisten kann oder will, dann sind ihre Institutionen bestenfalls delegitimiert und überflüssig, und es entstehen neue, die nun die “alten” Funktionen übernehmen (und sei es im Untergrund).
Es wundert mich aber nicht, dass gerade Konstruktivisten und Relativisten das nicht durchschauen können, denn es ist ja Bestandteil ihrer Weltsicht, dass nichts oder kaum etwas NOTWENDIG ist (bis hin zur biologischen Verankerung wie sie in der Notwendigkeit, sich zu ernähren, erkennbar wird), sondern alles wählbar, beliebig gestaltbar, mit Beliebigem füllbar ….
In der realen Welt kann das natürlich nicht funktionieren.
ggf. Institutionen neu zu schaffen oder solche zu unterstützen, die die „alten“ (psychologischen) Funktionen erfüllen können und wollen.
Ja, das ist das Elend seit langem. Lehre und Arbeit im erlernten Beruf bot einen solchen Rahmen, Jugendliche kamen mit Erwachsenen zusammen und auch unter sich, und es wurden auch Anforderungen gestellt.
Gibt es da Ueberschneidungen mit ‘attachment theory’? Ganzheit korreliert mit secure attachment, Totatlitaet mit insecure oder avoidant attachment?
@Kiwi
Ja, es gibt Verbindungen zwischen Eriksons Identitätstheorie (und so vermittelt auch zwischen Totalismus) und Bowlbys Bindungstheorie, die mehr oder weniger offentsichtlich sind, wenn man Eriksons Arbeiten und die Arbeiten von Bowlby und Ainsworth kennt. Und deshalb haben das natürlich auch andere Leute nicht nur bemerkt, sondern einige haben sich auch direkt dazu gäußert bzw. die Überschneidungen/Verbindungen, die sie sehen, diskutiert, so z,B.
Pttman, Joe F. et al,, 2011: Attachment, Identity, and Intimacy: Parallels Between Bowlby’s and Erikson’s Paradigms. Journal of Family Theory & Review 3(1): 32-46
und
Fonagy, Peter, 1999: Points of Contact and Divergence Between Psychoanalytic and Attachment Theories: Is Psychoanalytic Theory Truly Different? Psychoanalytic Inquiry 19(4): 448-480
und
Kerpelman, Jennifer L. & Pittman, Joe F., 2018: Erikson and the Relational Context of Identity: Strengthening Connections with Attachment Theory. Inquiry 18(4): 1-9.
Es gibt auch einige empirische Arbeiten, die die Brücke zwischen Erikson und Bowlby schlagen (z.B. im Bereich der Narzissmusforschung), aber die habe ich jetzt nicht spontan in meiner Erinnerung parat.
Danke, war mir als Laie nicht sicher ob ich da was missverstanden hatte. Mary Ainsworth kam in Caregiver-Seminaren prominent vor, an Erikson (und insbesondere eine dort vermutete Grundlage des Totalitarismus) kann ich mich nicht erinnern. Ginge vielleicht auch zu weit, Gruende fuer eine Intervention bei insecure attachment gibt’s auch so genug.
Werde Pittman (2011) mal in Ruhe durchlesen.