Politiker in Begründungsnöten: Politiker sind weniger vernünftig als Menschen aus der „Normal“-Bevölkerung [neue Studie]

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Die Erzählung von der repräsentativen Demokratie sieht in etwa so aus: Die Menschen in der Bevölkerung wählen aus dem Angebot der Bewerber um politische Ämter denjenigen aus, der ihre Wünsche und Interessen am besten repräsentiert. Weil die Inhaber politischer Ämter „ihren“ Wählern verantwortlich sind, werden sie versuchen, „ihre“ Politiken gegenüber anderen Inhabern politischer Ämter durchzusetzen, was voraussetzt, dass sie sie von den Vorteilen „ihrer“ Politiken überzeugen können. Da dies alle Repräsentanten „ihrer“ jeweiligen Wähler tun werden, kommt es zu einem Abwägungsprozess zwischen diversen Wünschen und Interessen, immer vor dem Hintergrund dessen, was angesichts realer Möglichkeiten und Beschränkungen möglich ist.

In der Realität gibt es mit dieser Erzählung eine ganze Reihe erheblicher Probleme. Eines davon ist, dass die vermeintlichen Repräsentanten von Wählern eigene Interessen haben, eigene Interessen, die in einem demokratischen System, das ein Berufspolitikertum zulässt, amplifiziert werden. Dieses Problem besteht nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich, wie eine brandneue empirische Studie von Bailer et al. (2021), die ich in meinem letzten Beitrag für Sciencefiles vorgestellt habe, gezeigt hat.

Während der letzten Jahrzehnte ist die Vorstellung vom Politiker als Repräsentanten von Wähler(gruppen)interessen aber in den Hintergrund getreten gegenüber der Vorstellung vom Politiker als einer Art „Weltweisen“, der sich nicht mehr damit begnügt, partikulare Interessen „seiner“ Wähler zu vertreten, sondern zu wissen meint, welche Art zu leben für „den“ Menschen die beste ist, was seiner Gesundheit, seinem Glück, seiner Zukunft, seinem Wohlergehen schlechthin, am meisten zuträglich ist. Dieser Politiker ist – zumindest nach außen hin – weniger ein Repräsentant partikularer Interessen, sondern geriert sich als ein Führer, dem möglich und in einer Art göttlichem Auftrag aufgegeben ist, „die“ Menschen – oft als „einfach“, vergleichsweise ungebildet und nicht urteilsfähig, nicht einmal mit Bezug auf ihr eigenes Leben, wenn nicht sogar „deplorable“, wie Hilary Clinton einst sagen zu müssen glaubte, konstruiert – zum Heil zu führen, das im übrigen nicht in erster Linie ein individuelles Heil ist, sondern ein kollektives Heil.

Das wiederum bedeutet, dass der Politiker die Politiken, für die er eintritt, nicht mehr nur als durch das jeweils entsprechende Interesse rechtfertigen kann. In der Rolle des elitären, quasi von eigenen Gnaden auserwählten „Weltweisen“ muss er diese Politiken vor all denjenigen begründen und rechtfertigen, die seinen „Weisungen“ unterworfen sind oder werden können. Gleichzeitig und besonders als Berufspolitiker ist er darauf angewiesen, dass seine Politiken durchsetzbar sind, d.h. er seine Politiken anderen Politikern schmackhaft machen kann, sie also anderen Politikern gegenüber als sinnvoll und machbar begründen muss.

Vor diesem Hintergrund hat die sogenannte evidenz-basierte Politik Einzug gehalten in Verwaltungen aller Ebenen, dies es jedem Politiker auferlegt, sich mit Hilfe einer regelrechten Informations-Industrie, bestehend aus Sachverständigen, speziellen Komitees, Gutachtern u.v.m., möglichst gut über die infrage stehende Angelegenheit zu informieren. Der Anspruch ist, „to go with the science“, wobei oft so getan wird, als würde Wissenschaft mit ihrer Aufklärung über Sachfragen und zu erwartende Effekte die als wünschenswert angestrebten Ziele gleich mitliefern und quasi durch sich selbst legitimieren.



Selbst dann, wenn man davon ausgehen will, dass die Etablierung dieser Informations-Industrie nicht sehr schnell zum Legitimations-(und ggf. Korruptions-)Netzwerk degeneriert, dass sie tatsächlich in umfassender Weise verlässliche Informationen bereitzustellen im Stande oder willens sei, stellt sich die Frage, wie die bereitgestellten Informationen von Politikern wahrgenommen, interpretiert, genutzt (oder ob sie von ihnen überhaupt beachtet) werden. Oder anders gesagt: evidenz-basierte Politik besteht nicht nur aus der Bereitstellung und systematischen Sammlung von Informationen, sondern auch aus konkreten politischen Handlungsentscheidungen, die auf diesen Informationen in logisch korrekter Weise aufbauen.

Verschiedene empirische Untersuchungen aus den letzten Jahren haben gezeigt, dass Politiker trotz der aufgebauten Informations-Industrie vor allem für Politiken eintreten, die mit ihrer politischen Ideologie oder ihrer politischen Identität (z.B. als „Grüner“) übereinstimmen (s. Baekgaard et al. 2019; Christensen et al. 2018).

Das ist insofern einigermaßen überraschend als sozialpsychologische Forschung gezeigt hat, dass die Denk- und Urteilsprozesse von Menschen komplexer werden und kognitive Verzerrungen überwinden, wenn sie unter Begründungsdruck stehen (Aleksovska et al. 2019; Green et al. 2000; De Zoort et al. 2006), und man würde meinen, dass Politiker dauernd unter Begründungsdruck stehen (s.o.).

Julian Christensen von der Aarhus-Universität in Dänemark und Donald P. Moynihan von der Georgetown-Universität in Washington, DC, haben eine im Jahr 2020 publizierte Studie durchgeführt, in der sie sich dieser „Anomalie“ widmen. Konkret wollten sie die Frage beantworten:

„Do politicians and members of the general public alter their reasoning about policy information when they are required to justify their evaluation of the information?“ (Christensen & Moynihan 2020: 2),

oder: Verändern Politikern und Menschen aus der allgemeinen Bevölkerung bzw. Nicht-Politiker (gleichermaßen) ihren Umgang und ihre Bewertung von Information, wenn sie sie begründen müssen?

Die Richtung, in die die Veränderung gehen sollte, wird wie gesagt durch frühere sozialpsychologische Forschung nahegelegt: Die Aussicht, seine Bewertungen von Informationen begründen zu müssen, sollte dazu führen, dass Informationen genauer betrachtet oder mehr von ihnen gesammelt werden, und die Informationen sollten die vorgenommene Bewertung oder Einschätzung auch wirklich – den Regeln des logischen Denkens entsprechend – begründen können. Informationen sollten jedoch nicht nur dann zur Kenntnis oder ernstgenommen werden, wenn sie einer vorgefassten Einschätzung oder Meinung entsprechen. Auf den Punkt gebracht: Die Aussicht, eigene Einschätzungen begründen zu müssen, sollte dazu führen, dass die eigene Einschätzung auf faktischer Richtigkeit basiert und nicht auf Übereinstimmung mit vorgefassten Meinungen oder emotional begründeten Vorlieben.

Für sozialpsychologisch Interessierte: Das ist die Unterscheidung, die in der „theory of motivated reasoning“ gewöhnlich al Unterscheidung zwischen „accuracy goals“ und „directional goals“ gemacht wird, und auch Christensen und Moynihan (2020) wählen diese Terminologie in ihrer Studie. Bei Baumeister und Newman (1994) heißt das Gegensatzpaar (auf den Seiten 4-5) „Specific Versus Accurate Conclusions“, und Kruglanski et al. (2010) sprechen (auf Seite 941) von „accuracy concerns“ und einem „need for closure“.

Im Einzelnen formulieren Christensen und Moynihan (2020: 4; 6) drei Hypothesen. Sie lauten ins Deutsche übersetzt:

  1. Sowohl bei Politikern als auch bei der allgemeinen Öffentlichkeit (d.h. Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit) wird die Einschätzung von Informationen über Politiken von ihren politischen Ideologien/Orientierungen beeinflusst.
  1. Wenn sie aufgefordert werden, ihre Einschätzungen zu begründen, geben sich sowohl Politiker als auch Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit mehr Mühe bei der Suche nach und der Verarbeitung und Würdigung von Informationen über Politiken.
  1. Wenn sie aufgefordert werden, ihre Einschätzungen zu begründen, treten sowohl bei Politikern als auch bei Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit bei der Einschätzung von Informationen über Politiken ihre politischen Ideologien/Orientierungen in den Hintergrund.

Um ihre Frage zu beantworten, generieren und nutzen Christensen und Myonihan verschiedene Datensätze:

„We study how Danish local politicians, and the public they serve, interpret information about local public services within their policy portfolio – elder care and schools. A randomized survey experiment and a decision board experiment asked subjects to evaluate public and private service providers, allowing us to separate the effects of policy information about provider performance from that of political beliefs” (Christensen & Moynihan 2020: 2).

Die Hypothesen 1 und 3 haben die Autoren anhand ihres randomisierten Experimentes getestet, die Hypothese 2 wurden anhand eines Entscheidungsexperimentes getestet, das online durchgeführt wurde.

Die dänischen Politiker, auf deren Daten die Studie beruht, waren „city councilors“ der 98 Gemeinden bzw. Kommunen, die in Dänemark existieren. Sie werden jeweils für vier Jahre gewählt und repräsentieren die Parteien im nationalen Parlament insofern als 95 Prozent der „councilors“ einer der Parteien, aus denen sich das nationale Parlament zusammensetzt, angehören. „Councilors“ sind verantwortlich für öffentliche Dienstleistungen in ihrer Kommune, darunter Kinderbetreuung, Bildung und die Versorgung alter Menschen (Christensen & Moynihan 2020: 6). Auf dieser politischen Ebene ist die Anzahl im Prinzip befragbarer „real-world“ (Christensen & Moynihan 2020: 7) Politiker groß genug, um eine statistisch ausreichende Datenbasis zu erhalten: Von den Einladungen, die die Autoren an 2.445 „councilors“ verschickten, haben 889 am randomisierten Experiment teilgenommen, anhand dessen die Hypothesen 1 und 3 getestet wurden, und 718 haben am online-Entscheidungsexperiment zum Test von Hypothese 2 teilgenommen.

Personen aus der dänischen allgemeinen Öffentlichkeit im Alter von 18-75, die an denselben Experimente wie die Politiker teilgenommen haben, wurden durch das Online-panel von YouGov rekrutiert und in ihren Anteilen mit Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort den entsprechenden Anteilen in der Gesamtbevölkerung ausgewählt. 2.109 Personen aus der dänischen allgemeinen Öffentlichkeit nahmen am randomisierten Experiment teil, anhand dessen die Hypothesen 1 und 3 getestet wurden, und 1.063 am online-Entscheidungsexperiment zum Text von Hypothese 2 (Christensen & Moynihan 2020: 7).

Im randomisierten Experiment zum Test der Hypothese 1 wurden den Probanden jeweils eine von vier verschiedenen Varianten von Informationen über jeweils zwei Anbieter von Betreuung für alte Menschen vorgelegt, von denen sie den besten Anbieter auswählen sollten. In den Varianten A und B wurden den Probanden jeweils eine Kreuztabelle vorgelegt, in der für beide Anbieter die Anzahl der zufriedenen und die der unzufriedenen Anbieter in absoluten Zahlen angegeben war. Zwar mussten die absoluten Zahlen von den Probanden in prozentuale Anteile umgerechnet werden, um den besten Anbieter, d.h. denjenigen, der mehr zufriedene Kunden auszuweisen hatte, festzustellen, aber auf dieser objektiven Basis war es sehr einfach zu beantworten, wer der bessere Anbieter war. In den Varianten C und D wurde den Kreuztabellen eine Information hinzugefügt, nämlich die, dass es sich bei dem einen Anbieter um einen öffentlichen Anbieter handelt, bei dem anderen um einen privaten Anbieter. Die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Anbietern ist in Dänemark ebenso wie in Deutschland eine politisch relevante, und deshalb sollte sie dazu geeignet sein, bei den Probanden ggf. politische Ideologien/Orientierungen kognitiv anzusprechen. Die politische Ideologie/Orientierung der Probanden wurde anhand von drei Fragen gemessen, die sich auf die Einstellungen der Probanden zur privaten oder zur öffentlichen Bereitstellung von Dienstleistungen bezogen (Christensen & Moynihan 2020: 9). Die Varianten C und D der Kreuztabellen waren also die eigentlichen Testtabellen, während die Varianten A und B als Kontrollgruppen fungierten.

Design des Experiments; Quelle: Christensen & Moynihan (2020: 8);

Das Ergebnis, das durch dieses Experiment mit Bezug auf Hypothese 1 erzielt wurde, hat die Hypothese bestätigt: Sowohl Politiker als auch Personen aus der allgemeinen Bevölkerung haben die Informationen in Form des Zahlenmaterials in ihrer jeweiligen Kreuztabelle – und damit die Frage, wer der bessere Anbieter ist – häufiger korrekt eingeschätzt, wenn das Zahlenmaterial für denjenigen Anbieter, also den privaten oder den öffentlichen, sprach, für den die Probanden eine allgemeine Präferenz aufgrund ihrer politischen Ideologie/Orientierung hatten.

Politiker und Personen aus der allgemeinen Öffentlichkeit unterschieden sich insgesamt gesehen nicht statistisch signifikant voneinander mit Bezug auf ihre häufigere korrekte Einschätzung des besseren Anbieters, wenn dieser Anbieter ihren allgemeinen politischen Ideologien/Orientierungen entsprach (Christensen & Moynihan 2020: 10).

Hypothese 2 besagt, dass sich Politiker ebenso wie Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit mehr Mühe bei der Suche nach und der Verarbeitung und Würdigung von Informationen über Politiken geben, wenn sie aufgefordert werden, ihre Einschätzungen (später) zu begründen. Die Prüfung dieser Hypothese erfordert die Beobachtung des Verhaltens der Probanden, und deshalb wurde die Hypothese durch ein online-Entscheidungsexperimente geprüft. Bei diesem Experiment sollten sich die Probanden durch eine Reihe von Boxen (insgesamt 10) klicken, die Informationen über verschiedene Leistungen zweier Schulen enthielten, von denen eine als eine öffentliche Schule, die andere als eine private Schule gekennzeichnet war, dies alles mit dem Ziel zu entscheiden, welche Schule die bessere sei. Die verschiedenen Leistungen, die in den Boxen thematisiert wurden, bezogen sich auf die von den Schülern erreichten Noten in Dänisch und in Mathematik, aber u.a. auch auf den Anteil der Schüler, die sich in der Schule wohlfühlen und gerne in diese Schule gehen. Die Probanden konnten selbst entscheiden, wie viele Boxen sie aufklicken bzw., wann sie meinten, hinreichende Informationen über die beiden Schulen gewonnen zu haben, um zu entscheiden, welche Schule die bessere sei.

Im Ergebnis zeigte sich, dass die Ankündigung, dass die Probanden später ihre Einschätzung begründen müssten, keinen Effekt auf die Mühe hatte, mit der die Probanden Informationen suchten. D.h. die Anzahl der angeklickten Informationsboxen war nicht statistisch signifikant höher bei der Interventions- oder Testgruppe, also denjenigen, denen angekündigt worden war, dass sie ihre Einschätzung später begründen müssen, als bei der Kontrollgruppe (der dies nicht angekündigt worden war).

Aber die Ankündigung hatte einen statistisch signifikanten Effekt auf die Verarbeitung der zur Kenntnis genommenen Informationen insofern als die Probanden mehr Zeit mit der Verarbeitung der Informationen in denjenigen Boxen verbrachten, die sie geöffnet hatten. Bei den Politikern war der Effekt statistisch hochsignifikant (auf dem 0.1%-Niveau), bei den Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit verfehlte der Effekt das statistische Signifikanz-Niveau von 5% knapp (Christensen & Moynihan 2020: 13). Im Vergleich zwischen Politikern und Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit ließ sich allerdings kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen ihnen feststellen.

Gemäß Hypothese 3 sollte sowohl bei Politikern als auch bei Probanden aus der allgemeinen Öffentlichkeit die politische Ideologie/Orientierung bei der informationsbasierten Entscheidung in den Hintergrund treten, wenn sie aufgefordert werden, ihre Einschätzungen zu begründen. Zur Prüfung dieser Hypothese wurden die vier Varianten von Kreuztabellen, die zum Test von Hypothese 1 herangezogen wurden, zwei weitere Varianten hinzugefügt, nämlich die Varianten E und F. Diese beiden Varianten waren was die Kreuztabellen betrifft identisch mit den Testvarianten C und D, aber in den Varianten E und F wurde den Probanden angekündigt, dass sie später eine kurze schriftliche Begründung für ihre Wahl des besseren Anbieters von Betreuungsleistungen für alte Menschen geben müssen, und zwar mit den Worten.

Furthermore, we will ask you to formulate an argument for your evaluation. Your argument should be suitable for discussion with a person who thinks that the other supplier performs best” (Christensen & Moynihan 2020: 14; Hervorhebung im Original).

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Damit wurden Probanden explizit aufgefordert, eine Begründung vorzubringen, die dazu geeignet wäre, jemanden mit einer anderen Einschätzung umzustimmen. Die Autoren betonen, dass es wichtig war, dies explizit zu machen, weil in anderen Studien herausgefunden worden war, dass Begründungen in Diskussionen mit Personen derselben Meinung dazu führten, dass verstärkt auf die geteilten politischen Überzeugungen rekurriert wurde und insofern keine Überzeugungsarbeit durch gute Gründe geleistet werden musste – und wurde.

Gemäß Hypothese 3 sollte es bei den Probanden mit den Varianten E und F eine geringere Rolle spielen, ob der objektiv bessere Anbieter ein öffentlicher oder privater Anbieter ist bzw. als solcher der allgemeinen politischen Überzeugung des Probanden entspricht, als bei den Probanden mit den Varianten C und D (eben weil Letzteren im Gegensatz zu Ersteren nicht angekündigt wurde, dass sie ihre Einschätzung würden begründen müssen).

Bei den Probanden aus der allgemeinen Bevölkerung ergibt sich der erwartete Zusammenhang tendenziell, ist aber schwach ausgeprägt, aber bei den Politikern ergibt sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang, der allerdings in die Richtung geht, in die er gemäß der Hypothese nicht hätte gehen sollen. D.h.

„… among politicians, the justification requirement seems to have bias-strengthening instead of debiasing effects“ (Christensen & Moynihan 2020: 15),

denn bei Politikern spielt die Übereinstimmung des objektiv besseren Anbieters mit dem aufgrund der politischen Ideologie des Politikers präferierten Anbieter eine größere und nicht wie erwartet eine geringere Rolle, wenn angekündigt wird, dass sie ihre Einschätzung werden begründen müssen, und zwar so, dass die Begründung geeignet ist, jemanden zu überzeugen, der diese Einschätzung nicht teilt.

Man sollte meinen, dass der Druck, den aufgrund der Leistungsdaten in der Kreuztabelle objektiv besseren Anbieter, auch als solchen einzuschätzen, sich also den belastbaren objektiven Daten zu unterwerfen, auch dann, wenn sie nicht dem entsprechen, wie der Politiker es aufgrund seiner politischen Ideologie gerne haben würde, in dieser Situation besonders hoch ist. Sofern dieser Druck von den Politikern als solcher wahrgenommen wird, kann man das Ergebnis schwerlich anders interpretieren denn als eine Art trotzigen Rückzug auf bewährte Denk-Formeln.

Dieser muss dann als eine Art Berufskrankheit gelten, denn „

„[a]dditional analysis … show that the difference between the politicians and non-politicians with regard to H3 [Hypothese 3] is statistically significant, controlling for age, gender and education, and regardless of the inclusion of inattentive respondents“ (Christensen & Moynihan 2020: 15).

Aufgrund dieses statistisch signifikanten Unterschiedes zwischen Politikern und Probanden aus der allgemeinen Bevölkerung kommen die Autoren zu dem Schluss, dass

„[w]hile lending some support to the potential to debias citizens, we find that politicians become more inclined to engage in politically motivated reasoning when required to justify their evaluations“ (Christensen & Moynihan 2020: 16).

„Normalbürger” sind also eher bereit oder fähig als Politiker, sich in ihrem Urteil von objektiven Gegebenheiten leiten zu lassen und ihre politischen Voreingenommenheiten beiseite zu lassen, wenn die Erwartung an sie gerichtet wird, dass sie ihr Urteil begründen. Diese Erwartung führt bei „Normalbürgern“ also dazu, dass sie vernünftiger urteilen, während sie bei Politikern dazu führt, dass sie unvernünftiger urteilen.

Warum sollte das so sein? Diese Frage stellen auch Christensen und Moynihan.

Die Antwort liegt jedenfalls nicht darin, dass Politiker eben besonders stark politisch interessiert sind, denn in diesem Fall müsste sich ein ähnlicher Effekt bei den besonders politisch Interessierten unter Probanden aus der allgemeinen Bevölkerung beobachten lassen (die Autoren verfügen über das entsprechende Datum für ihre Probanden), aber tatsächlich lässt er sich nicht beobachten – im Gegenteil:

„The respondents who are most interested in politics, and who should therefore … be expected to react most like politicians, are the ones who drive the overall debiasing effect on non-politicians’ reasoning, meaning that they are the one who behave least like politicians in reaction to justification requirements” (Christensen & Moynihan 2020: 16; Hervorhebung im Original).

Als alternativen Erklärungsvorschlag führen die Autoren die Möglichkeit an, dass es die Tätigkeit als Politiker selbst ist, die die Art und Weise, wie jemand auf Begründungsdruck reagiert, verändert:

„Another possibility is that the politicians’s role changes how people respond to justification requirements … where [z.B.] a judicial professional is expected to set aside political attitudes and partisan identities, it is a politician’s job to be a partisan … and to avoid punishment from an external audience that values credible commitments … Politicians are trained to treat inconsistency as a sign of weakness … Thus, their professional role gives politicians an incentive to treat justification requirements not as an opportunity to examine and nuance their own reasoning, but to construct arguments in favour of preselected conclusions” (Christensen & Moynihan 2020: 17).

Was Christensen und Moynihan hier argumentieren, ist nicht mehr und nicht weniger als dass es zur Rolle des Politikers gehört, nach dem Motto „Wer einmal gelogen hat, muss weiterlügen“ oder „Wer sich einmal geirrt hat, muss dem Irrtum weiterhin frönen und ihn als Wahrheit zu verkaufen versuchen“ zu verfahren – und zwar im Interesse der Konsistenz der politischen Botschaften, die man als Politiker verbreitet, und in der Annahme, dass es das sei, was „an external audience“ von einem Politiker erwarte.

Die Autoren leiten aus dieser Argumentation die Erwartung ab, dass der gefundene Effekt, nach dem Politiker unter Begründungsdruck (aber nicht Probanden aus der allgemeinen Bevölkerung) Einschätzungen unvernünftig vornehmen, d.h. nicht auf der Basis der Tatsachen, sondern auf der Basis ihrer politischen Ideologie, vor allem auf Politiker zurückzuführen sein müsste, die schon länger im politischen Geschäft sind, und nicht bei Anfängern im politischen Geschäft, und zwar deshalb, weil Politiker, die schon länger im politischen Geschäft sind, der Norm der Konsistenz der politischen Botschaften länger ausgesetzt waren als politische Anfänger:

„If the bias-strengthening effect of justification requirements is due to politician-specific norms, we would expect the effect to be stronger among those who have been more exposed to these norms over time“ (Christensen & Moynihan 2020: 17).

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Die Daten erlauben es den Autoren, Politiker, die erstmals im vorherigen Jahr gewählt wurden, von denjenigen zu unterscheiden, die schon seit fünf oder mehr Jahren „councilors“ sind (zur Erinnerung: Kommunalwahlen finden in Dänemark alle vier Jahre statt). Ein Vergleich dieser beiden Gruppen von Politikern auf ihre Einschätzungen unter Begründungsdruck hin zeigt, dass die Autoren mit ihrer Erwartung Recht behalten und „… the bias-strengthening effect … driven by experienced politicians [ist]“ (Christensen & Moyninhan 2020: 17).

Die Frage, die in diesem Zusammenhang leider unbeantwortet bleiben muss, ist, wer die „external audience“ ist, die die Konsistenznorm an Politiker heranträgt. M.E. ist es plausibel zu vermuten, dass es vor allem die politischen Kollegen sind, die (zumindest nach außen hin) Konsistenz der politischen Botschaften erwarten, und weniger die breite Öffentlichkeit, denn von der Konsistenz der politischen Botschaften, die ein Politiker von sich gibt, hängt es ab, ober er von Parteikollegen als „unsicherer Kandidat“ angesehen wird oder nicht, und nur, wenn er nicht als solcher angesehen wird, also vorhersagbar im Sinn der mehr oder weniger geteilten politischen Ideologie agieren wird, kommt er für politische Ämter innerhalb der Partei in Frage. Man kann sich leicht vorstellen, dass gerade erst gewählte Politiker die Wichtigkeit parteipolitischer Stromlinienförmigkeit für ihre parteipolitische Zukunft noch nicht in dem Ausmaß erkannt haben bzw. ihr entsprechend zu agieren gelernt haben wie Politiker, die seit mehreren Jahren ein politisches Amt haben.

Das schließt keineswegs aus, dass Politiker selbst meinen, dass „die Öffentlichkeit“ außerhalb der politischen Netzwerke hohe Konsistenz ihrer politischen Botschaften erwartet und insofern meinen, der Erwartung „der Öffentlichkeit“ gemäß zu handeln. M.E. weisen die Ergebnisse von Christensen und Moynihan dahin, dass dies ein Irrtum ist, denn es gibt m.E. keinen guten Grund anzunehmen, dass auch unter Begründungsdruck vernünftig einschätzende Menschen aus der breiten Bevölkerung von Politikern erwarten sollten, dass gerade sie als letztliche Entscheidungsträger und gerade unter Begründungsdruck, der oft genug ja auch gerade aus der Bevölkerung kommt, eher unvernünftige Einschätzungen vornehmen bzw. Einschätzungen auf der Basis ihrer politischen Ideologie vornehmen, nur um deren Konsistenz willen.

Wie dem auch sei – die Vorstellung, dass gerade Politiker, die länger im politischen Geschäft sind, unter Begründungsdruck Treue zur Linie der politischen Ideologie zeigen, muss nicht durch verinnerlichte Konsistenznormen erklärt werden, sondern kann eine vernünftige Entscheidung sein, allerdings nicht vernünftig im Hinblick auf die in der Sache zur Verfügung stehende Information, sondern vernünftig im Sinn von ihrem Eigeninteresse entsprechend, wie oben mit Bezug auf die politische Zukunft von Poltikern argumentiert. Wie der regelmäßige Leser von Sciencefiles sich vielleicht erinnert, haben die Autoren der von mir zuletzt vorgestellten Studie (Bailer et al. 2021) das Verhalten von Politikern ebenfalls durch deren Interesse an der eigenen politischen Karriere erklärt.

Beide Argumentation, diejenige von Christensen und Moynihan und die von mir vorgeschlagene alternative Argumentation, würden einen Grund dafür darstellen, den Zeitraum, für den Personen politische Ämter einnehmen können, stark zu beschränken oder das Berufspolitikertum gänzlich abzuschaffen (wofür es eine ganze Reihe weiterer guter Gründe gibt, aber dies kann hier nicht weiter vertieft werden). In jedem Fall haben Christensen und Moynihan (2020: 18) festgestellt, dass

„… experienced polticians tended to base their justifications on the tables‘ data [d.h. auf die für eine Einschätzung relevanten objektiven Daten], when this was attitude-congenial. However … when the data were uncongenial, the experienced politicians more often based their justifications on specific conditions of local government …”.

Politiker, die schon länger im politischen Geschäft sind, benutzen objektive Daten also (noch) häufiger als Anfänger in der Politik dazu, ihre vorgefasste Meinung zu stützen, wenn die Daten das ermöglichen, und finden gleichzeitig Wege, ihre Relevanz zu relativieren oder gänzlich wegzureden, wenn die Daten ihrer vorgefassten Meinung entgegenstehen. Es mag sein, dass dies den Eigeninteressen der Politiker entspricht und den Erwartungen ihrer politischen Kollegen, vielleicht sogar den Erwartungen eines Teils der Öffentlichkeit, aber jedenfalls liegt dies nicht im Interesse der breiten Öffentlichkeit. Vielmehr wäre es in deren Interesse, dass Politiker in ihrer Eigenschaft als Entscheidungsträger möglichst vernünftige Entscheidungen treffen – vernünftig im Sinn von „der in Frage stehenden Sache und der Informationslage zur Sache entsprechend“.

Man kann daher festhalten:

Die Ergebnisse von Christensen und Moynihan sprechen dafür, den Zeitraum, über den hinweg Personen politische Ämter innehaben können, stark zu beschränken. Gerade dann, wenn der Anspruch auf evidenz-basierte Politik erhoben wird, wäre dies sachdienlich, weil sich gerade „erfahrene“ Politiker unter Begründungsdruck auf ihre politische Ideologie zurückziehen, statt sich an den objektiven Daten zu orientieren. Ggf. bestehende „Expertise“ auf Seiten bestimmter erfahrender Politiker wäre angesichts der umfassenden Informationsindustrie, auf die Politiker zurückgreifen können, leicht verzicht- bzw. ersetzbar –immer vorausgesetzt, dass nicht schon die präsentierte Evidenz einseitig ist.

Unabhängig hiervon haben Christensen und Moynihans gezeigt, dass Politiker keine „besseren“ bzw. vernünftigeren Einschätzungen in Sachfragen treffen als Personen aus der allgemeinen Bevölkerung. Und sie haben gezeigt, dass von den Einschätzungen von Politikern gerade dann nicht angenommen werden kann, dass sie vernünftig sind, wenn es um stark umstrittene Politiken geht, weil für stark umstrittene Politiken ein besonders hoher Begründungsdruck besteht, und Christensen und Moynihan haben ja eine Tendenz von Politikern beobachtet, gerade unter Begründungsdruck unvernünftige Einschätzungen zu propagieren bzw. sich in unvernünftige, ideologisch basierte, Entscheidungen zu flüchten.

Weil dieser Effekt gemäß der Ergebnisse von Christensen und Moynihan in der allgemeinen Bevölkerung nicht zu beobachten ist, sondern umstrittene Politiken mit hohem Begründungsdruck in der allgemeinen Bevölkerung dazu führen, dass Einschätzungen eher aufgrund belastbarer Daten als aufgrund politischer Orientierungen bzw. Voreingenommenheiten erfolgen, muss man festhalten, dass das Urteilsvermögen in der allgemeinen Bevölkerung mit Bezug auf umstrittene Politiken insgesamt größer ist als dasjenige unter Politikern. Dies legt z.B. die Vermutung nahe, dass mit Bezug gerade auf stark umstrittene Politiken Volksentscheide zu vernünftigeren Ergebnissen führen würden als Entscheidungen, die von Politikern vorgenommen werden.

Zweifellos steht die Frage im Raum, inwieweit die Ergebnisse von Christensen und Moynihan auf Politiker in anderen Ländern als Dänemark und auf anderen Ebenen als der Kommunalverwaltung übertragbar sind, aber mit Studien wie derjenigen von Christensen und Moynihan und derjenigen von Bailer et al. (2021) verdichten sich die Belege dafür, dass die westlichen repräsentativen (mehr oder weniger) demokratischen Systeme nicht das erfüllen, was sie versprechen und die Erzählung, auf deren Basis sie begründete und legitimiert werden, in vieler Hinsicht nicht haltbar ist.

So zeigt bisher vorliegende empirische Forschung, dass Politiker (natürlich, wie jeder andere Mensch!) eigeninteressiert handeln und eben nicht „Repräsentanten“ der Bevölkerung sind, ja nicht einmal bestimmter Gruppen, für die sie zu sprechen vorgeben (s. die Studie von Bailer et al. 2021), und dass sie keine vernünftigeren Entscheidungen treffen als es Personen aus der allgemeinen Bevölkerung tun (teilweise im Gegenteil!).

Politiker, die es mit evidenz-basierter Politik ernst meinen oder konsistent sein oder erscheinen wollen, können das politische System als Gegenstand evidenz-basierter Reformpolitik nicht ausnehmen.


Literatur:

Aleksovska, Marija, Schillemans, Thomas, Grimmellikhuijsen, 2019: Lessons from Five Decades of Experimental and Behavioral Research on Accountability: A Systematic Literature Review. Journal of Behavioral Public Administration 2(2): 1-18.

Baekgaard, Martin, Christensen, Julian, Dahlmann, Casper Mondrup, et al. 2019: The Role of Evidence in Politics: Motivated Reasoning and Persuasion among Politicians. British Journal of Political Science 49(3): 1117-1140.

Bailer, Stefanie, Breunig, Christian, Giger, Nathalie & Wüst, Andreas W., 2021: The Diminishing Values of Representing the Disadvantages: Between Group Representation and Individual Career Paths. British Journal of Political Science: 1-18. .doi:10.1017/S000712340000642.

Baumeister, Roy F., & Newman, Leonard S., 1994: Self-Regulation of Cognitive Inference and Decision Processes. Personality and Social Psychology Bulletin 20(1): 3-19.

Christensen, Julian, & Moynihan, Donald P., 2020: Motivated Reasoning and Policy Information: Politicians are More Resistant to Debiasing Interventions Than the General Public. Behavioural Public Policy, 1-22. doi:10.1017/bpp.2020.50

Christensen, Julian, Dahlmann, Casper Mondrup, Mathiasen, Asbjørn Hovgaard, et al., 2018: How Do Elected Officials Evaluate Performance? Goal Preferences, Governance Preferences, and the Process of Goal Reprioritization, Journal of Public Administration Research and Theory 28(2): 197–211.

De Zoort, Todd, Harrison, Paul, & Taylor, Mark, 2006: Accountability and Auditors‘ Materiality Judgments: The Effects of Differential Pressure Strength on Conservatism, Variability, and  Effort. Accounting, Organizations and Society 31(4-5): 373-390.

Green, Melanie, Visser, Penny, & Tetlock, Philip, 2000: Coping With Accountability Cross-pressures: Low-effort Evasive Tactics and High-effort Quests for Complex Compromises. Personality and Social Psychology Bulletin 26(11): 1380-1391.

Kruglanski, Arie W., Orehek, Edward, Dechesne, Mark, & Pierro, Antonio, 2010: Lay Epistemic Theory: The Motivational, Cognitive, and Social Aspects of Knowledge Formation. Social and Personality Psychology Compass 4(10): 939-950.



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