Altersstandardisierung von Sterbedaten? Nicht alles, was im Kochbuch steht, ist für die Suppe relevant

Es freut uns zu sehen, dass etliche Leser das Konzept der Standardisierung in ihren Wortschatz übernommen haben. Etwa so:

“Herr Klein, haben Sie die Verschiebung der demographischen Kurve miteinbezogen?
Evtl kommen jetzt Nachholeffekte zum Tragen, die durch Lockdown 1-3 verzögert waren?”

Solche und ähnliche Kommentare haben uns einige erreicht. Manch’ einem Kommentator war es gar ein solch’ brennendes Anliegen, auf die nach seiner Ansicht notwendige Berücksichtigung der Altersverteilung in den Alterskohorten hinzuweisen, dass er es auf unterschiedlichen Wegen und unter unterschiedlichen Namen gleich mehrfach getan hat. Das hat dazu geführt, dass selbst meine Niedrigblutexistenz auf zumeist unbekannte Schlagraten angehoben wurde, eine Situation, die nach “Relief” schreit. Und hier ist er:

Nun: Wir haben NICHT auf die Altersverteilung in den Altersgruppen standardisiert. Weil nicht alles, was man machen kann, sinnvoll ist. Ob etwas sinnvoll ist, das hängt von der Fragestellung, dem, was erklärt werden soll, ab, nicht davon, ob es in einem Lehrbuch oder anderen Sammlungen von Rezeptwissen allgemeine als bedenkenswert bewertet wurde. Dass wir hier mit Rezeptbuchwissen zu tun haben, das zeigt sich schon daran, dass keiner der entsprechenden Kommentatoren die Standardisierung nach sozialer Schicht oder nach Einkommen eingefordert hat, obschon von Einkommen und Schichtzugehörigkeit bekannt ist, dass sie sich auf die Lebenserwartung auswirken.

Warum haben wir nicht standardisiert?
Beginnen wir grundsätzlich.

Es ist für wissenschaftliche Erklärungen ELEMENTAR wichtig, dass das, was erklärt werden soll, das Explanandum, von dem, was erklären soll, dem Explanans getrennt bleibt. Unser Explanandum sieht so aus:

Wie erklärt sich die Übersterblichkeit des Jahres 2021?

Die Übersterblichkeit ergibt sich aus dem Vergleich des Jahres 2021 mit dem Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2020, ist also eine rein statistische Beobachtung, von der noch zu zeigen wäre, dass es sie in der Realität überhaupt gibt. Und weil das noch zu zeigen ist, weil man mit anderen Worten erklären muss, wie diese Abweichung in der Sterbehäufigkeit zustande kommt, deshalb kann man nicht nach der Häufigkeit von Menschen bestimmten Alters standardisieren. Denn dass es 2021 vielleicht in den für Tod besonders anfälligen Altersgruppen MEHR Menschen gab als im Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2020, das ist eine Hypothese, die man prüfen muss. Eine solche Altersverschiebung im Zeitraum von fünf Jahren wäre, dann wenn sie relevant ist, eine ERKLÄRUNG für das soziale Phänomen, die in der Abbildung oben beschrieben sind.

Warum muss man zwischen Explanandum und Explanans trennen, kann die Alterverschiebung als erklärende Variable nicht in die zu erklärende Variable einbauen? Eine solche Vorgehensweise wirkt wie ein Filter. Jeder Filter verstärkt bestimmte Merkmale der Realität und blendet andere Merkmale aus. Niemand weiß, ob die Merkmale, die durch den Filter “Altersstandardisierung” ausgeblendet werden, für die Erklärung der dargestellten Übersterblichkeit notwendig sind. Ergo lässt man, als Wissenschaftler, der an der ERKLÄRUNG der Übersterblichkeit (die, wie gesagt, ein statistisches Abbild der Realität darstellt, dessen Existenz zu belegen ist) interessiert ist, die Standardisierung SEIN.

Im ersten Post des gestrigen Tages ging es uns darum die Frage zu klären, ob die Übersterblichkeit, die wir in der Abbildung oben statistisch beschrieben haben, durch die Anzahl der mit oder an COVID-19 Verstorbenen erklärt werden kann. Das ist eine einfach zu klärende Frage, die man dadurch beantworten kann, dass man auf Basis von Monaten oder Kalenderwochen die Anzahl der an oder mit COVID-19 Verstorben von allen Verstorbenen subtrahiert. Indes wird diese Frage dann unbeantwortbar, wenn man die Sterbefälle auf Alter standardisiert hat, denn: Die Altersverteilung der an COVID-19 verstorbenen ist schief, das ist bekannt. Die Standardisierung der Sterbefälle führt eine Normalisierung durch. Um beide COVID-19 Tote und auf Alter standardisierte Sterbefälle miteinander vergleichen zu können, müsste man nun seinerseits die mit oder an COVID-19 Verstorben nach Alter standardisieren, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein 80jähriger ein höheres Sterberisiko hat als ein 75jähriger. Aber warum sollte man das tun? Was ist der Gewinn davon, der die Einfachheit der Subtraktion der an oder mit COVID-19 Verstorbenen von allen Sterbefällen aufwiegt?

Falls jemand eine Antwort weiß, nur zu.

Der zweite Post, den wir gestern veröffentlicht haben, hat den Vergleich von Sterblichkeiten nach Alter zum Gegenstand, abermals für das Jahre 2021 und den Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2020. Die Altersgruppen sind – wie das beim Statistischen Bundesamt einmal so ist, erratisch und ungleich in ihrer Größe. Sie umfassen 15 Jahre und fünf Jahre und eine unbekannte Anzahl von Jahren für die letzte Gruppe. Was die folgende Abbildung zeigt, ist eine Übersterblichkeit, die sich in allen Altersgruppen ab 55jährigen zeigt. Dass dem so ist, daran ändert auch eine Standardisierung nach Alter nichts.

Auch in diesem Fall ist sie vollkommen unnötig. Warum?
Wir vergleichen im Prinzip fünf Jahre, 2021 zu den vier Vorgängerjahren. Die Gruppenbreite ist in den meisten Fällen und für alle relevanten Altersgruppen, fünf Jahre. Im Idealfall wechseln vier von fünf Befragten einer Altersgruppe die Altersgruppe, gehen aus der Altersgruppe der 55- bis 60jährigen in die Altersgruppe der 60- bis 65jährigen über. Einfach deshalb, weil sie im Beobachtungszeitraum 5 Jahre älter werden, sofern sie nicht sterben. Wie viele Menschen sich in einer Altersgruppe befinden, hat auf dieses Dynamik keinerlei Einfluss. Geht man von normalverteilter Sterblichkeit unter den Mitgliedern der Gruppe der 55- bis 60jährigen aus, dann kann man sich diese Dynamik wie eine verdauende Schlange vorstellen, je weiter man nach hinten kommt, um so kleiner wird die Ausbuchtung.

Eine Übersterblichkeit kann man sich so ähnlich vorstellen. In absoluten Zahlen wird die Anzahl derjenigen, die versterben im Zeitverlauf immer geringer, gleichzeitig wird das Sterberisiko immer höher. Es gibt einfach weniger Menschen, die älter als 80 Jahre alt werden als es Menschen gibt, die 70 Jahre alt werden. Ergo ist die Gruppengröße der 70jährigen größer als die der 80jährigen, absolut sterben mehr 70jährige, relativ mehr 80jährige. Zwischen beiden Größen besteht ein Spannungsverhältnis, das man auch durch Standardisierung nicht beseitigen kann. Ergo versucht man, die Notwendigkeit der Standardisierung so gering wie nur möglich zu halten. Bei uns heißt das immer, wir überlegen uns eine Vorgehens- und Darstellungsweise, für die die Frage, ob 2017 weniger Menschen in der Gruppe der 70jährigen zu finden waren als 2021, so dass 2021 schon deshalb mehr Sterbefälle zu erwarten sind als 2017, weil es mehr 70jährige gibt, keine Rolle spielt. Deshalb gibt es im zweiten Post diese Abbildung:

Diese Abbildung zeigt die relativen Sterbehäufigkeiten für 2021 und den Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2020 im Vergleich der Monate Januar bis April und Mai bis September. Aus Abweichungen kann man direkt auf Übersterblichkeiten in den entsprechenden Altersgruppen schließen. Eine Altersstandardisierung, wie sie manche Leser verlangt haben, verändert das Ergebnis nur dann, wenn sie sich auf die ersten vier Monate eines Jahres anders auswirkt als auf die nächsten fünf Monate dieses Jahres und darüber hinaus zwischen den Jahren zu systematischer Verzerrung in den RELATIVEN ANTEILEN führt. Das ist so gut wie ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit für einen solchen Effekt bestünde darin, zwei Drittel der 75- bis 79jährigen im Frühjahr des Jahres 2020 zu erschießen.

Weil dem so ist, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass das absonderliche Verhalten der Altersgruppe der 75- 80jährigen ein Datenfehler oder Ergebnis einer Datenmauschelei ist. Diejenigen, die 2021 als 75- bis 80jährige gezählt werden, waren in ihrer Mehrzahl 2017 in der Gruppe der 70- bis 75jährigen. Wenn die Erklärung, die der Faktenorientierte für diese seltsame Beobachtung gegeben hat, zutreffen würde, dass der Geburtsjahrgang 1945 dafür verantwortlich ist, dann fragt sich, wo dieser Geburtsjahrgang so plötzlich hergekommen ist:

Der Faktenorientierte schreibt:

“Dem ungewöhnlichen Verhalten der Kohorte 75-79 liegt höchstwahrscheinlich kein Datenfehler zu Grunde. Diese Kohorte zeigte nämlich von Ende 2019 (3,876 Millionen) zu Ende 2020 (3,4305 Millionen) eine ganz erhebliche Abnahme (-408 392 Personen), während die meisten anderen Kohorten eine Zunahme zeigten. Diese Abnahme resultiert im Wesentlichen daraus, dass der extrem geburtenschwache Jahrgang 1945 erstmals in dieser Kohorte gezählt wurde.

Wer 1945 geboren ist, der ist 2020 75 Jahre alt.

Der Geburtsjahrgang 1945 ist in der Tat ein Jahrgang, dem weniger angehören als davor und danach. Noch 1944 wurden im Reichsgebiet rund ca. 983.000 Menschen geboren, 1945 waren es ca. 715.000, also 268.000 weniger. Zunächst: Wir suchen 408.392 Personen. Selbst wenn man annehmen würde, dass kein 1945 Geborener vor Erreichen von 75 Jahren verstorben ist, fehlten immer noch rund 268.000, die aus der Alterskohorte der 75- bis 79jährigen verschwunden sind. Hinzukommt, dass der Geburtsjahrgang 1945 nur einer von fünfen ist, die die Kohorte der 75- bis 79jährigen im Jahr 2021 konstituieren. Keiner der Jahrgänge vor und nach 1945 hat so wenige Geburten vorzuweisen. Dass es sich hier um einen Datenfehler handelt, ist “höchstwahrscheinlich”.

Fassen wir zusammen:

  • Wenn Übersterblichkeit erklärt werden soll, dann ist eine Konfundierung des Explanandums durch Altersstandarisierung einer Erklärung abträglich.
  • Eine Standardisierung der Sterbefälle auf die Häufigkeit der jeweiligen Alter ist für unsere Fragestellung (a) hinderlich und (b) irrelevant.


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