Parteipolitische Kolchosivierung statt Demokratie: Wahlrecht und Wettbewerb wird kollektiviert

Es war schon immer ein sensibles Verhältnis, das Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten in der Bonner Demokratie, die, seit sie nach Berlin geflüchtet ist, die alte mit Berlin verbundene anti-demokratische Tradition wieder aufgenommen hat. Das seltsame Nebeneinander einer Erst- und einer Zweitstimme, wie es bislang im Bundeswahlgesetz vor allem in seinen Artikeln 4 bis 6 festgeschrieben ist, es dient mehr oder weniger dazu, den Hauch eines plebiszitären Elements in die Wahl zu bringen und dem totalen Herrschaftsanspruch den Parteien über das politische System beanspruchen, gegenüber zu stellen.

Folgen Sie uns auf TELEGRAM

Eine Erststimme ermöglicht es Wählern, so die Idee, einen Abgeordneten unabgängig von der Partei, für die er steht, sofern er für eine steht, ob seiner persönlichen Leistung, Statur zu wählen. Eine idealtypische Beschreibung, bei der es vornehmlich darum geht, dass die Möglichkeit vorhanden ist, nicht darum, ob sie von Wählern genutzt wird, denn de facto kann die Möglichkeit, Erst- und Zweitstimme an unterschiedliche Parteien(vertreter) zu vergeben, dazu genutzt werden, den Parteien, die zur Wahl stehen, eine Nachricht zu schicken: Wir wählen Euren Kandidaten, aber nicht eure Partei.

Damit hat es nun ein Ende.
Der deutsche Bundestag hat die parteipolitische Kolchosivierung und damit die Zerstörung der demokratischen Reste, die im Parteiensumpf überlebt haben, beschlossen. Wir sprechen deshalb von einer Kolchosivierung, weil nunmehr die parteipoplitische Monokultur noch ungehinderter spriesen wird, als bislang, denn nur ein Kandidat, der sich parteikonform verhält, hat eine Chance auf einen sicheren Listenplatz, über den er in den Bundestag einziehen kann. Der Weg über die Erststimme, die ein erfolgreicher Politiker, der wegen seiner Fähigkeit, nicht wegen seiner Anpassungsleistung an Parteivorgaben gewählt wird, nutzen kann, um innerparteilichen Widerstand zu leisten, er ist nun versperrt. Ab sofort regiert der Parteikommissar, wird von Parteispitzen vorgegeben.

Stalin hätte seine helle Freude.
Für den Reformentwurf der Bundesregierung haben die drei Parteien der Regierungskoalition gestimmt, womit die FDP endgültig ins stalinistische Lager übergewechselt und aus der Gilde der demokratischen Parteien ausgeschieden ist.

Konkret wurde so abgestimmt:

Diese Darstellung des Wahlergebnisses in der Fingerfarbenromantik der Bundestagsverwaltung beantwortet die Frage, ob man diese Leute ernstnehmen kann, in ausreichendem Maße. Damit das Ausmaß dessen, was hier beschlossen wurde, deutlich wird, stellen wir die wesentlichen veränderten Passagen einander gegenüber:

Bundeswahlgesetz ALTE FASSUNG


§ 4
Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste.


§ 5
In jedem Wahlkreis wird ein Abgeordneter gewählt. Gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Kreiswahlleiter zu ziehende Los.


§ 6 Absatz 1
(1) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt. Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Absatz 3 oder von einer Partei vorgeschlagen ist, die nach Absatz 3 bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird oder für die in dem betreffenden Land keine Landesliste zugelassen ist. Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Absatz 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt sind.

Bundeswahlgesetz NEUE FASSUNG



§ 4
Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl nach Kreiswahlvorschlägen und eine Zweitstimme für die Wahl nach Landeswahlvorschlägen, auf denen die zur Wahl zugelassenen Parteien ihre Bewerber benennen (Landeslisten).“


§ 6 Absatz 1
„(1) Ein Wahlkreisbewerber einer Partei (§ 20 Absatz 2) ist dann als Abgeordneter gewählt, wenn er die meisten Erststimmen auf sich vereinigt und im Verfahren der Zweitstimmendeckung (Satz 4) einen Sitz erhält. In jedem Land werden die Bewerber einer Partei, die in den Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten haben, nach fallendem Erststimmenanteil gereiht. Der Erststimmenanteil ergibt sich aus der Teilung der Zahl der Erststimmen des Bewerbers durch die Gesamtzahl der gültigen Erststimmen in diesem Wahlkreis. Die nach § 4 Absatz 3 für die Landesliste einer Partei ermittelten Sitze werden in der nach Satz 2 gebildeten Reihenfolge an die Wahlkreisbewerber vergeben (Verfahren der Zweitstimmendeckung).“

Eine Erst- bzw. Wahlkreisstimme ist somit eine Art Lotterie-Stimme, die verfällt, wenn der im Wahlkreis Gewählte mit 61% auf dem Wahlkreisranking, hinter dem Kandidaten aus dem Wahlkreis nebenan, der 61,1% der Stimmen erhalten hat, rangiert und er somit zum sechsten Gewählten seiner Partei würde, die über den Stimmenanteil der Zweitstimme aber nur fünf Sitze errungen hat. Das Ergebnis einer solchen Meldung an Wähler: “Die Abgabe der Erststimme erfolgt ohne Gewähr, der Wahlleiter behält sich vor, die Stimme in die Mülltonne zu werfen” ist klar: Die Wahlkreise werden an Bedeutung verlieren, die ohnehin schon sich hegemonial der Schließung einer totalen Wählanstalt nähernden Parteien haben das alleinge Sagen über die Kandidaten, die es in ein Parlament schaffen.

Hinzu kommt, dass die Möglichkeit einer Partei, die fünf Prozent Schallgrenze zu umgehen, wenn sie drei Direktmandate erringt, ebenfalls gestrichen wurde, was weiterer Zement im Stalinistischen Korpus des Parteienstaats ist. Dass es wieder einmal Sozialisten sind, die Demokratie in Deutschland zerstören, ist vermutlich nicht weiter verwunderlich. Sozialisten können nur zerstören. Dass jedoch keinerlei Massen-Aufschrei diese Zerstörung begleitet, ist schon bemerkenswert und könnte dahingehend verstanden werden, dass es Bürgern egal ist, was die von ihnen Gewählten in ihren Ämtern so treiben – auch ein Nachruf auf die Demokratie.

Es gibt zwei alternative Modelle einer demokratischen Legitimation: Im ersten Modell, dem demokratischen Modell, wird Wählern die Möglichkeit gegeben, für einen Wahlkreisabgeordneten zu stimmen, der sie und IHRE INTERESSEN im Parlament vertritt. Im zweiten Modell werden Parteien im nationalen oder subnationalen Block gewählt. Wähler stimmen nicht mehr für den Kandidaten, der ihre Interessen vertritt. Sie stimmen für ein Parteiangebot, das irgendwelche Interessen vertritt. Das deutsche Wahlsystem lag irgendwo zwischen beiden Modellen. Seit der Wahlrechtsreform nicht mehr. Die Kolchosivierung der politischen Landschaft ist in vollem Gange. Die Bildung von Parteienblöcken, die auch als Block zur Wahl stehen und die Stimmen dann untereinander nach einem festen Quota verteilen, ist nur noch eine Frage der Zeit, zumal inhaltliche Unterschiede zwischen den meisten Parteien vernachlässigbar sind.

Demokratie geht ganz anders.

Folgen Sie uns auf Telegram.
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen. ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden. Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.
Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:

Donorbox

Unterstützen Sie ScienceFiles


Unsere eigene ScienceFiles-Spendenfunktion

Zum Spenden einfach klicken

Unser Spendenkonto bei Halifax:

ScienceFiles Spendenkonto: HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
  • IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
  • BIC: HLFXGB21B24

Print Friendly, PDF & Email
14 Comments

Schreibe eine Antwort zu FraDaAntwort abbrechen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Entdecke mehr von SciFi

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen