Intellektuelle Abwärtsspirale: Neue Studie belegt weniger Innovation in Wissenschaft und Technik

Wissenschaft lebt von der immer fortwährenden Ansammlung von Wissen um die Phänomene, die wir mit unserem menschlichen Erkenntnisapparat beobachten und beschreiben können. Sie ist ein kumulatives Geschäft, das durch Forschung vorangetrieben wird, denn neue Forschung wirft neue Fragen auf, wenn sie die Erwartungen der Forscher nicht erfüllt (weshalb es so wichtig ist, dass in Forschungen die Möglichkeit eingebaut ist, Erwartungen als falsch zu erweisen, d.h. zu falsifizieren). Wenn sich Theorien durch neue Forschung bzw. neue Beobachtungen als falsch erweisen, dann werden sie durch neue, bessere Theorien abgelöst, „besser“ insofern als sie die gemachten Beobachtungen erklären oder hervorsagen können – bis diese Theorien ihrerseits durch bessere ersetzt werden. Das ist die Idee vom graduellen Wissenschaftsfortschritt.

Manchmal erfordern neue Beobachtungen neue Theorien, die sehr Vieles, was man bislang zu wissen glaubte, auf grundsätzliche Weise in Frage stellen, und in einem solchen Fall spricht man von wissenschaftlichen Revolutionen oder Paradigmenwechseln. Ein Beispiel hierfür ist die Evolutionstheorie, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat und u.a. mit den Namen von Jean-Baptiste Lamarck, Alfred Russell Wallace und Charles Darwin verbunden ist. Der Grundgedanke der Evolutionstheorie ist, dass lebende Organismen in der Auseinandersetzung mit Umweltbedingungen und gemäß angebbarer Entwicklungsgesetze eine Entwicklungsfolge darstellen, die (derzeit) im Menschen als der (bislang) höchstentwickelten Form ihren Höhepunkt erreicht hat. Dieser Gedanke war nicht vor dem Hintergrund der christlichen Schöpfungsgeschichte revolutionär, sondern stand auch im Gegensatz zu Theorien wie z.B. derjenigen von Pierre-Louis Moreau de Maupertuis oder Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, nach denen Organismen spontan entstehen und aussterben und – nach Leclerc – spezifische Kombinationen von organischen Molekülen darstellen.

Im technologischen Bereich denke man nur an die innovativen Leistungen der Viktorianer, ohne die wir die Leben, die wir heute führen, nicht in der Weise führen würden, wie wir es führen: die heißwasser-basierte Zentralheizung im Audley End House aus dem Jahr 1846, der elektische Telegraph – die erste elektronische Nachricht, die den Atlantik überquerte, wurde am 16. August 1858 von Königin Victoria in Osborne an den amerikanischen Präsidenten James Buchanan gesendet –, das erste Wasserkraftwerk, das William Armstrong in Cragside, Northumberland, im Jahr 1870 installierte, um sein Haus, Cragside House, und die Farmhäuser aus einem Anwesen mit Elektrizität, vor allem für elektrisches Licht, zu versorgen, mit all dem vielem anderen mehr haben die Viktorianer die technologischen Grundlagen gelegt, auf denen in den folgenden Jahrzehnten aufgebaut wurde, um das zu ermöglichen, was man eine moderne Lebensführung nannte. Und obwohl heutige Computer auf den ersten Blick keinerlei Ähnlichkeiten mehr mit z.B. Charles Babbages „Analytical Engine“ aus dem Jahr 1837 haben, kann man mit Fug und Recht sagen, dass selbst die Grundlagen der Computertechnik bereits vor 200 Jahren gelegt wurden. Die wissenschaftlichen und technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts haben die Welt in nahezu jeder Hinsicht verändert.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat uns im Jahr 1905 mit Einsteins Relativitätstheorie einen weiteren wissenschaftlichen Paradigmenwechsel gebracht, und im Bereich technologischer Innovation u.a. den Zeppelin (1900), ), das Neon-Licht (1902), das Auto (das erste Model T-Auto von Ford wurde 1908 verkauft), das Fernsehen (1927), Flüssigbrennstoffraketen (1926), das Penicillin (1928) das Elektronenmikroskop (1931), das Düsentriebwerk (1937), die Atombombe (1945). Das Mobiltelefon und den Aufbau von Mobiltelefonnetzes, die CDs und den CD-Player sowie die digitale Kamera haben uns die 1970er-und die 1980er-Jahre beschert, aber spätestens seitdem, so zeigt eine aktuelle Studie von Park et al. (2023), gibt es immer weniger bahnbrechende wissenschaftliche und technologische Innovationen.

Die “Analytical Engine” von Charles Babbage

Zu diesem Ergebnis kamen Park et al. aufgrund ihrer Analyse von 25 Millionen Fachzeitschriftentexten aus dem Zeitraum von 1945 bis 2010, die im WebofScience (WoS) verzeichnet sind, und 3,9 Millionen Patenten, die zwischen 1976 und 2010 in die Patents View-Datenbank des United States Patent and Trademark Office, des Patentamtes der Vereinigten Staaten, aufgenommen wurden. Die auf dieser Basis gewonnen Ergebnisse haben Park et al. anhand von vier weiteren Datensätzen überprüft, nämlich JSTOR, dem American Physical Society Corpus, Microsoft Academic Graph und PubMed, die zusammengenommen 20 Millionen Fachbeiträge führen.

Die in diesen Datensammlungen geführten Fachtexte bzw. Patentanmeldungen haben die Autoren zunächst anhand des von Funk und Owen-Smith (2017) entwickelten CD-Indexes ausgewertet. Es handelt sich dabei um einen zitationsbasierten Index, der von -1 bis +1 reicht, wobei die am stärksten konsolidierenden Beiträge bei -1 liegen und die am stärksten innovativen, bahnbrechenden Beiträge bei +1 (Park et al. 2023: 139). Der CD-Index bildet ab, inwieweit Fachtexte oder Patente Vorgängerarbeiten zitieren bzw. auf technologische Vorläufer verweisen und es damit erlaubt, zwischen bahnbrechenden oder zumindest stark innovativen Beiträgen einerseits und konsolidierenden Beiträgen, also den Bestand festigenden oder auf bereits Etabliertem aufbauenden und es ausbauendes Beiträgen andererseits zu unterscheiden:

„Our intuition is that citations of predecessors should decrease after a destabilizing invention is introduced because the technology entails a break with past ways of thinking. By contrast, consolidating inventions should be cited together with their predecessors and therefore increase citations of technologies on which they build” (Funk & Owen-Smith 2017: 793).
„Wir gehen davon aus, dass die Zitierung von Vorgängertechnologien nach der Einführung einer destabilisierenden Erfindung zurückgehen sollte, weil die Technologie einen Bruch mit früheren Denkweisen bedeutet. Im Gegensatz dazu sollten konsolidierende Erfindungen zusammen mit ihren Vorgängern zitiert werden und daher die Zitierungen von Technologien, auf denen sie aufbauen, erhöhen“ (Funk & Owen-Smith 2017: 793).

“… if a paper or patent is disruptive, the subsequent work that cites it is less likely to also cite its predecessors; for future researchers, the ideas that went into its production are less relevant …. If a paper or patent is consolidating, subsequent work that cites it is also more likely to cite its predecessors; for future researchers, the knowledge upon which the work builds is still (and perhaps more) relevant” (Park et al. 2023: 139).
“… wenn eine Arbeit oder ein Patent bahnbrechend ist, dann ist es weniger wahrscheinlich, dass die nachfolgende Arbeit, die sie oder es zitiert, auch ihre/seine Vorgänger zitiert; für zukünftige Forscher sind die Ideen, die zu seiner Produktion führten, weniger relevant …. Wenn eine Arbeit oder ein Patent konsolidierend ist, ist es wahrscheinlicher, dass die nachfolgende Arbeit, die sie oder es zitiert, auch ihre/seine Vorgänger zitiert; für zukünftige Forscher ist das Wissen, auf dem die Arbeit aufbaut, immer noch (und vielleicht mehr) relevant” (Park et al. 2023: 139).

Quelle: Park et al. 2023: 140 (Figure 2a)

Wie man aus der Abbildung erkennen kann sind bahnbrechende Fachbeiträge im Zeitraum von 1945 bis 2010 in allen vier Bereichen, die Park et al. unterscheiden – Biowissenschaften inklusive Biomedizin, (andere) Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Technologie –, sehr viel seltener geworden. In den Sozialwissenschaften beträgt der Rückgang 91,9%, in den Naturwissenschaften 100%, der Rückgang in den Bereichen Biowissenschaften/Biomedizin und Technologie liegt zwischen diesen Prozentzahlen. Seit etwa 1980 hat sich die Anzahl bahnbrechender Fachbeiträge in den Bereichen Biowissenschaften/Biomedizin und (andere) Naturwissenschaften stabilisiert, aber in den Sozialwissenschaften und im technologischen Bereich hat der Rückgang auch nach 1980 angehalten.

Für Patente beobachten Park et al. ebenfalls einen starken Rückgang im Zeitraum zwischen 1976 und 2010:

Quelle: Park et al. 2023: 140 (Figure 2b)

“… for patents, the decrease between 1980 and 2010 ranges from 78.7% (… for ‘computers and communications’) to 91.5% (…for ‘drugs and medicinal’)” (Park et al. 2023: 139),

d.h.

„… bei den Patenten reicht der Rückgang zwischen 1980 und 2010 von 78,7% (… für ‚Computer und Kommunikation‘) bis 91,5 % (… für ‚Drogen und Arzneimittel‘) (Park et al. 2023: 139).

Für Fachbeiträge und Patente zusammengenommen stellen Park et al. fest:

“Overall …. relative to earlier eras, recent papers and patents do less to push science and technology in new directions. The general similarity in trends we observe across fields is noteworthy in light of ‘low-hanging fruit’ theories…, which would probably predict greater heterogeneity in the decline, as it seems unlikely fields would ‘consume’ their low-hanging fruit at similar ratesor times” (Park et al. 2023: 139).
„Insgesamt tragen die jüngsten Veröffentlichungen und Patente im Vergleich zu früheren Epochen … weniger dazu bei, Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen zu lenken. Die allgemeine Ähnlichkeit der Trends, die wir in den verschiedenen Bereichen beobachten, ist bemerkenswert im Licht der Theorien über ‚niedrig hängende Früchte‘. die wahrscheinlich eine größere Heterogenität des Rückgangs vorhersagen würden, da es unwahrscheinlich ist, dass die Bereiche ihre niedrig hängenden Früchte in ähnlicher Geschwindigkeit oder zu ähnlichen Zeiten ‚verbrauchen‘“ (Park et al. 2023: 139).

Mit den „niedrig hängenden Früchten“ beziehen sich Park et al. figurativ auf eine mögliche Erklärung für den Rückgang bahnbrechender Fachbeiträge und Patente, nach der die „niedrig hängenden Früchte“ in früheren Jahren oder Dekaden bereits „geerntet“ sind, d.h. die relativ einfach zu erreichenden bzw. vergleichsweise näher liegenden Innovationen, bereits in früheren Jahren oder Dekaden vorgenommen wurden, so dass es mit der Zeit schwieriger wird, in einem Fachbereich oder Forschungsfeld innovativ zu wirken. Park et al. wenden gegen diese Erklärung aber ein, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich dieser Prozess in allen von ihnen unterschiedenen Bereichen zeitlich betrachtet in paralleler Weise vollziehen würde. Und das bedeutet, dass andere Erklärungen für den von Park et al. beobachteten Trend gefunden werden müssen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Die Ergebnisse, die Park et al. mit Hilfe des CD-Indexes erzielt haben, überprüfen sie, indem sie eine sprachliche Analyse durchführen, um bahnbrechende von konsolidierenden Beiträgen zu unterscheiden. Sie argumentieren, dass bahnbrechende Beiträge eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, neue Worte zu enthalten, weil die in ihnen formulierten Gedanken eine Abkehr vom status quo und der Begriffe, die ihn kennzeichnen, bedeuten. Das mag erfordern, dass neue Begriffe für neue Konzepte geschaffen werden müssen. Basierend auf dieser Überlegung berechnen sie das Verhältnis von neuen, speziellen, außergewöhnlichen („unique“) Worten zu allen verwendeten Worten (Park et al. 2023: 139).

Und was das betrifft, so haben Park et al. (2023: 140)

“… substantial declines, particularly in the earlier periods, before 1970 for papers, and 1990 for patents [beobachtet]. For paper titles …, the decrease (1945-2010) ranges from 76.5% (social sciences) to 88% (technology); for patent titles …, the decrease (1980-2010) ranges from 32.5% (chemical) to 81% (computers and communications). For paper abstracts …, the decrease (1945-2010) ranges from 23.1% (life sciences and biomedicine) to 38.9% (social sciences); for patent abstracts …, the decrease (1980-2010) ranges from 21.5% (mechanical) to 73.2% (computers and communications) … we demonstrate that these declines in word diversity are accompanied by similar declines in combinatorial novelty; over time, the particular words that scientists and inventors use in the titles of their papers and patents are increasingly likely to have been used together in the titles of previous work. Consistent with these trends in language, we also observe declining novelty in the combinations of previous work cited by papers and patents, based on a previously established measure of ‘atypical combinations’ …” (Park et al. 2023: 140).
„… erhebliche Rückgänge, insbesondere in den früheren Zeiträumen, vor 1970 für Aufsätze und 1990 für Patente [beobachtet]. Bei Aufsatztiteln … reicht der Rückgang (1945-2010) von 76,5% (Sozialwissenschaften) bis 88% (Technik); bei Patenttiteln … reicht der Rückgang (1980-2010) von 32,5% (Chemie) bis 81% (Computer und Kommunikation). Für die Zusammenfassungen der Aufsätze [paper abstracts] … reicht der Rückgang (1945-2010) von 23,1% (Biowissenschaften und Biomedizin) bis 38,9% (Sozialwissenschaften); für die Zusammenfassungen der Patentbeschreibungen … reicht der Rückgang (1980-2010) von 21,5% (Mechanik) bis 73,2% (Computer und Kommunikation) … Wir beobachten außerdem, dass dieser Rückgang der Wortvielfalt mit einem ähnlichen Rückgang der kombinatorischen Neuheit einhergeht. Im Laufe der Zeit ist es immer wahrscheinlicher, dass die einzelnen Wörter, die Wissenschaftler und Erfinder in den Titeln ihrer Arbeiten und Patente verwenden, auch in den Titeln früherer Arbeiten zusammen verwendet wurden. In Übereinstimmung mit diesen Trends in der Sprache beobachten wir auch eine abnehmende Neuheit in der Kombination von früheren Arbeiten, die in den Papieren und Patenten zitiert werden, basierend auf einem zuvor etablierten Maß für ‘atypische Kombinationen’ …” (Park et al. 2023: 140).

Alle von Park et al. verwendeten Maße zeigen also einen erheblichen Rückgang bahnbrechenden Fachbeiträge und Patente zwischen 1945 und 2010 bzw. 1976 und 2010:

“We find that papers and patents are increasingly less likely to break with the past in ways that push science and technology in new directions. This pattern holds universally across fields and is robust across multiple different citation- and text-based merits” (Park et al. 2023: 138).

D.h.

„Wir stellen fest, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass Veröffentlichungen und Patente mit der Vergangenheit in einer Weise brechen, die Wissenschaft und Technologie in neue Richtungen lenkt. Dieses Muster gilt durchgängig für alle Fachgebiete und ist robust gegenüber verschiedenen zitier- und textbasierten Merkmalen“ (Park et al. 2023: 138).

Das bedeutet nicht, dass im beobachteten Zeitraum so gut wie keine bahnbrechenden Beiträge (in Text- oder Patentform) mehr geleistet wurden, denn – wie Park et al. (2023: 140) bemerken, verdecken die beschriebenen Trends “… remarkable stability in the absolute number of highly disruptive works …“,  d.h. „… bemerkenswerte Stabilität der absoluten Zahl der sehr stark innovativen [im eigentlichen Sinn bahnbrechenden] Werke“.

Als sehr stark innovativ oder bahnbrechend im eigentlichen Sinn ordnen Park et al. diejenigen Beiträge ein, die einen CD-Index aufweisen, der höher als +0.5 liegt. Wie man (an den grünen und roten Linien in) der folgenden Abbildung entnehmen kann, ist die Anzahl dieser Beiträge, d.h. der stark innovativen Beiträge mit einem CD-Index über +0.5, während des beobachteten Zeitraums in den verschiedenen von den Autoren unterschiedenen Bereichen stabil geblieben.

Quelle: Park et al. 2023: 141

Während die Trends für alle von den Autoren unterschiedenen Fachbereichen im beobachteten Zeitraum also eine abnehmende Innovationstätigkeit abbilden, ist die Anzahl hochinnovativer Fachbeiträge (links in der obenstehenden Abbildung) und Patente (rechts in der obenstehenden Abbildung) also mehr oder weniger stabil geblieben. Oder anders ausgedrückt:

“… declining aggregate disruptiveness does not preclude individual highly disruptive work” (Park et al. 2023: 140),

d.h.

„abnehmende Gesamtinnovation schließt einzelne hochgradig innovative Arbeiten nicht aus“ (Park et al. 2023: 140).

Wie ist der beobachtete Trend abnehmender Innovationstätigkeit in allen von den Autoren unterschiedenen Bereichen zu erklären? Die Befunde sprechen gegen die Vermutung, dass alles, was relativ einfach zu entdecken wäre, bereits entdeckt sei und sich in der Folge eine Art Konsens in jedem der verschiedenen Fachbereiche eingestellt hätte, dem es wenig oder gar nichts hinzuzufügen gäbe. Sind die Befunde dann vielleicht ein methodisches Artefakt? Park et al. verwenden einige Mühe darauf, diese Möglichkeit zu überprüfen und können zeigen, dass das nicht der Fall ist. So können sie u.a. zeigen, dass der Trend kein Ergebnis sich wandelnder Publikationstätigkeit von Wissenschaftlern/Forschern ist (Park et al. 2023: 142) und

“… papers and patents are increasingly less disruptive than would be expected by chance” (Park et al. 2023: 142),

d.h.

„… Fachbeiträge und Patente sind zunehmend weniger innovativ als zufällig zu erwarten wäre“ (Park et al. 2023: 142).

Die Autoren führen den beobachteten Trend zum Teil darauf zurück, dass Wissenschaftler, Forscher und Erfinder sich auf ein engeres Spektrum an vorhandenem Wissen verlassen (Park et al. 2023: 142). Und diese Vermutung wird gestützt durch den von den Autoren beobachteten Rückgang der Vielfalt der zitierten Arbeiten, und diese Entwicklung wird begleitet von einem Anstieg des Anteils der Zitationen des einen Prozentes der am meisten zitierten Beiträge (Park et al. 2023: 142). Darüber hinaus beobachten sie, dass Selbst-Zitationen, also Zitationen eigener Texte, mit der Zeit immer häufiger werden, und Selbst-Zitationen sind

“… a common proxy for the continuation of one’s pre-existing research stream…, which is consistent with scientists and inventors relying more on highly familiar knowledge” (Park et al. 2023: 142),

d.h.

„… ein gängiger Indikator für die Fortführung der eigenen Forschung…, was damit übereinstimmt, dass Wissenschaftler und Erfinder mehr auf bereits bekannte Kenntnisse zurückgreifen“ (Park et al. 2023: 142).

Anders ausgedrückt: Wissenschaftler, Forscher, Erfinder bewegen sich mental immer weniger. D.h. sie beackern im Verlauf ihrer Karriere sozusagen häufiger dasselbe Feld, vielleicht um einen „Experten“-Status zu gewinnen oder einen ggf. vorhandenen nicht zu verlieren, statt neue Interessen aus dem bereits Geleisteten heraus zu entwickeln oder sich anderen Zugängen zu ihrem Feld, angezeigt durch die Zitation anderer Literatur, zu öffnen.

Die zunehmende Zitation älterer Texte, die Park et al. beobachten, könnte ihrer Meinung nach auch dadurch zu erklären sein, dass sie Schwierigkeiten haben, Schritt zu halten mit dem Wissensfortschritt in ihrem, geschweige denn: angrenzenden, Gebieten, so dass sie sich stattdessen auf ältere, vertraute Arbeiten verlassen (Park et al. 2023: 142).

Vor dem Hintergrund, dass wissenschaftliches Personal während der vergangenen Jahrzehnte zunehmend Verwaltungsaufgaben übernehmen musste und wissenschaftliches Personal immer mehr zu Hochschul-Lehrpersonal geworden ist , das von Semester zu Semester dieselben Lehrangebote machen bzw. „Lehrmodule“ vorlesen muss, vielleicht sogar Stunden wertvoller Arbeitszeit damit zubringen muss, Klausuren zu beaufsichtigen, wäre es nicht überraschend, wenn es keine Energie oder Zeit mehr aufbringen würde, um sich auf dem Stand des Wissensfortschrittes in ihrer wissenschaftlichen Disziplin oder darüber hinaus, oder wenigstens in ihrem eigenen Wissens-/Forschungsgebiet zu halten. (Überraschend wäre dann allerdings, dass das so Wenige in den Reihen eigentlich wissenschaftlichen Personals zu stören scheint.)

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Jedenfalls weisen alle genannten Indikatoren nach Park et al. (2023: 142) in die Richtung eines zunehmend geringer werdenden Umfangs vorhandenen Wissens, auf dem Innovationen überhaupt aufbauen können, und

“[r]elying on narrower slices of knowledge benefits individual careers…, but not scientific progress more generally” (Park et al. 2023: 143),

d.h.

„die Beschränkung auf engere Wissensausschnitte kommt individuellen Karrieren zugute, aber nicht dem wissenschaftlichen Fortschritt im allgemeinen“ (Park et al. 2023: 143).

So sehr man (wie ich) geneigt sein mag, den Schlussfolgerungen von Park et al. aufgrund der von ihnen genannten Indikatoren (und der insgesamt gesehen soliden Arbeit, die sie geleistet haben,) zuzustimmen, so kann man sich doch fragen, welche Rolle beim beobacheten Trend von immer weniger Innovation, angezeigt u.a. durch immer weniger Neu-Schaffungen von Konzepten bzw. Begriffen und immer mehr Selbstzitationen und Zitationen der immer selben Werke, ein gesellschaftliches Klima der „sprach- und denkpolizeilichen Aufsicht“ spielt, das längst auch jedes Unternehmen, jede Universität und jede Forschungseinrichtung ereilt hat.

So könnten junge Wissenschaftler z.B. negative Folgen fürchten, wenn sie ihrer im Prinzip zur Innovation fähige Forschung über „Rassismus“ eine andere Definition zugrundelegen wollten als sie derzeit von Teilen der Akademia und von politischer Seite erwünscht ist. Oder die Forschung über den Bildungserfolg von Kindern aus Migrantenfamilien könnte deshalb stagnieren, weil im gesellschaftlichen Klima akzeptable Erklärungen für denselben bereits bearbeitet wurden und sich wissenschaftliches Person einfach nicht traut, weniger akzeptable zu beforschen. Ja, ganze Forschungsbereiche können tabuisiert werden, wie z.B. die Forschung über die Nachteile, die Jungen oder Männer in westlichen Gesellschaften gegenüber Mädchen und Frauen haben, weil nicht sein kann, was ideologisch nicht sein darf. In einem solchen Klima mag, wer Karriere machen will, vorziehen, der Forschung (oder auch nur Spekulation) über Mädchen- oder Frauennachteile einen weiteren, wenn auch noch so wenig relevanten, Aspekt hinzuzufügen, als sich über die Grenzen des ideologisch Erwünschten hinauszubewegen.

Im Zusammenhang damit muss auch vermutet werden, dass während der vergangenen Jahrzehnte die Lehrqualität, insbesondere mit Bezug auf die Breite des Gelehrten – an Universitäten und Hochschulen insgesamt gelitten hat, sei es aufgrund der zunehmenden Modularisierung der Lehre oder aufgrund persönlicher Ängste oder ideologischer Voreingenommenheiten des Lehrpersonals. Im Ergbnis verschmälert sich die Wissensbasis von Studenten, die jeweils die Wissenschaftler, Forscherund Erfinder der Zukunft sind.

Yanai und Lercher (2023) haben mit Bezug auf die Frage, wie man für mehr Innovationstätigkeit in Wissenschaft und Forschung sorgen könnte, folgendes vorgeschlagen:

 

“The most powerful tool for creative science might be improvisational scientific discussions, both with close colleagues and with experts in related fields. Scientists-in-training should learn how to use them productively to explore contradictions, riddles and new directions, and how to not dismiss new ideas out of hand … Another important strategy to boost scientific creativity is to import concepts and tools from other fields … , such as in the case of biologists who studied interactions among yeast cells by importing game theory concepts from economics … Conversely, we can export tools and ideas from our field to others, as did quantum physicists who initiated the development of quantum computers …” (Yanai & Lercher 2023: 1).
„Das mächtigste Werkzeug für kreative Wissenschaft sind vielleicht improvisierte wissenschaftliche Diskussionen, sowohl mit engen Kollegen als auch mit Experten in verwandten Bereichen. Wissenschaftler in der Ausbildung sollten lernen, wie sie diese produktiv nutzen können, um Widersprüche, Rätsel und neue Richtungen zu erforschen, und wie sie verhindern können, neue Ideen von vornherein zu verwerfen… Eine weitere wichtige Strategie zur Förderung der wissenschaftlichen Kreativität ist der Import von Konzepten und Werkzeugen aus anderen Bereichen … wie im Fall der Biologen, die Interaktionen zwischen Hefezellen untersuchten, indem sie spieltheoretische Konzepte aus den Wirtschaftswissenschaften importierten … Umgekehrt können wir Werkzeuge und Ideen aus unserem Bereich in andere Bereiche exportieren, wie es Quantenphysiker taten, die die Entwicklung von Quantencomputern initiierten …“ (Yanai & Lercher 2023: 1).

All dies könnte sicher nicht schaden, aber die Frage ist, inwieweit solche Vorschläge verwirklichbar sind eben angesichts des sich ständig verengenden Wissensvorrats. Z.B. müssen die Biologen, die Interaktionen zwischen Hefezellen untersuchten, von der ökonomischen Spieltheorie gewusst haben, und sie müssen sie verstanden haben, um sie überhaupt als Anregung für die Untersuchung von Hefezellen erkennen und benutzen zu können. Angesichts eines immer enger werdenden Wissensvorrats bei Wissenschaftlern, Forschern und Erfindern dürften solche Übertragungsleistungen immer weniger wahrscheinlich werden. Und selbst, wenn Wissenschaftler, Forscher und Erfinder um Dinge außerhalb ihres Feldes wissen, dann setzt eine Übertragungsleistung aus diesen Feldern voraus, dass sie keine ideologischen oder sonstwie motivierten Vorbehalte gegen sie haben, was in einem ideologisch stark aufgeladenen gesellschaftlichen Klima nicht automatisch vorausgesetzt werden kann.

Innovation, die die Bezeichnung verdient, setzt Kreativität voraus, aber Kreativität muss auf einer möglichst breiten Wissensbasis aufbauen, wenn sie im Dienst der Entwicklung von einigermaßen Sinnvollem stehen soll. Deshalb muss m.E. ein Weg gefunden werden, eine möglichst gute Kenntnis von bereits Erarbeitetem mit einer Fähigkeit zur Kreativität zu verbinden. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass eine breite Wissensbasis in diesem Zusammenhang sinnvollerweise nicht in einer Vielzahl von Detailwissen aus verschiedenen Feldern oder Disziplinen bestehen sollte, sondern aus breitem Grundlagenwissen um in Wissenschaft und Forschung immer Wiederkehrendes, insbesondere mit Bezug auf wissenschaftliche Arbeitstechniken, speziell Methodenwissen, und Wissen um Konzepte, die Phänomene oder Prozesse bezeichnen, die überall in Wissenschaft und Forschung eine Rolle spielen, wie z.B. „emergente Eigenschaften“, „unbeabsichtigte Folgen“, „sich selbt verstärkende Prozesse“, multikausale Verursachung“, „Moderatorvariable“ u.v.a.m. verstehen und anwenden zu können.  Nur auf einer solchen Basis ist es m.E. möglich, sich spezifisches inhaltliches Wissen aus verschiedenen Fachbereichen unter einigermaßen vertretbarem zeitlichen Aufwand zu erarbeiten oder neue Entwicklungen im eigenen Bereich aufzuarbeiten und zu würdigen, aber auch, tolerant gegenüber konkurrierenden Theorien und eine Erwartung enttäuschende Forschungsergebnisse zu sein.

Ich bin deshalb (nach wie vor) der (von mir schon häufiger formulierten) Auffassung, dass jedes Studium gleich welcher Fachrichtung so aufgebaut sein sollte, dass grundlegendes Wissen um Konzepte und Methoden wie die oben erwähnten in einem für alle Studenten gleichen Grundstudium vermittelt werden sollten, und erst danach und darauf aufbauend fachspezifisches inhaltliches Wissen in einem weiterführenden Fachstudium vermittelt werden sollte.

Aber das erfordert zum einen Lehrpersonal, das dies leisten kann, und zum anderen ein deutlich anti-ideoloigisches Klima an Universitäten und Hochschulen. Deshalb scheint es, dass wir uns auch im kommenden Jahrzehnt auf diejenigen werden verlassen müssen, die es – anscheinend resistent gegen das jeweilige gesellschaftliche  bzw. ideologische Klima, gegen karrieretechnische Erwägungen und hinreichend motiviert, um sich ein breites Wissen selbst anzueignen – in allen Dekaden gegeben hat und wohl weiterhin geben wird: die vergleichsweise Wenigen, die Beiträge leisten können, die einen Wert im CD-Index von >+0.5 erreichen.


Literatur

Funk, Russell J., & Owen-Smith, Jason, 2017: A Dynamic Network Measure of Technological Change. Management Science 63(3): 791-817.

Park, Michael, Leahey, Erin, & Funk, Russell J., 2023: Papers and Patents are Becoming Less Disruptive Over Time. Nature 613(7942):138-144. doi: 10.1038/s41586-022-05543

Yanai, Itai, & Lercher, Martin J., 2023: Make Science Disruptive Again. Nature Biotechnology. doi: 10.1038/s41587-023-01736-5

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