Abuse of science

Wissenschaft wird immer häufiger als Medium missbraucht, um die eigene Ideologie zu verbreiten. Vor allem öffentliche Institutionen und Verbände fühlen sich dazu berufen, vermeintlich wissenschaftliche Studien in Auftrag zu geben, um sie dann als wissenschaftliche Erkenntnis verkaufen und veröffentlichen zu können. Auf dieser Seite, sammle und bespreche ich Beispiele für diesen Missbrauch von Wissenschaft.

1. Gewerkschaftliche Irreführung oder wie die GEW versucht, die Realität zu verbiegen

Bedient hat sich die GEW bzw. die Max-Traeger-Stiftung zu diesem Zweck der Dienste von Thomas Viola Rieske in: Rieske, Thomas Viola (2011). Bildung von Geschlecht. Zur Diskussion um Jungenbenachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen. Eine Studie um Auftrag der Max-Traeger-Stiftung.

Unter den Suchbegriffen, die Leser auf diesen Blog bringen, finden sich immer häufiger die Begriffe “Gutachterunwesen” und “Missbrauch der Wissenschaft”. Beide Begriffe passen auf die von Thomas Viola Rieske im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung erstellte “Studie”, die sich mit “Bildung und Geschlecht” auseinandersetzt. Die Studie ist eine Fundgrube für unlauteres wissenschaftliches Arbeiten, für verkrampfte Versuche, einen Befund wegzuinterpretieren und für das schlichte Fehlen rudimentärster methodischer Kenntnisse, am deutlichsten zu sehen in dem absoluten Unverstand, mit dem der Autor Prozentzahlen ausgeliefert ist. Da die Arbeit zudem redundant ist und man spätestens ab Seite 5 die verbalen Verrenkungen des Autors satt hat, mit denen er die Nachteile von Jungen, die er gerade dargestellt hat, als nicht so schlimm oder als vernachlässigbar oder als eigentlich gar nicht da, wegreden will, beschränke ich mich auf eine Auslese versuchter Irreführungen, die richtigzustellen, ich für besonders wichtig halte.

Wie üblich, wenn ein Autor versucht, seine Leser um den Verstand zu schreiben, findet sich regelmäßig ein Verweis auf “Komplexität” und andere wohlklingende und vermeintlich verkomplizierende Nomen, wie z.B. Mehrdimensionalität. Komplexität ist gemeinhin der Totschläger, der ausgepackt wird, wenn Nachteile wie sie z.B. Jungen bei der Schulbildung haben, nicht weggehen wollen. Dann behauptet man, die Nachteile seien zwar da, aber die Komplexität von z.B. Bildung lasse es nicht zu, die Nachteile als Nachteile zu interpretieren. Mehrdimensionalität ist in diesem Zusammenhang auch nützlich, denn Mehrdimensionalität verweist auf noch andere Aspekte von irgendwas, z.B. von Nachteilen, die Jungen bei der Schulbildung haben. Mehrdimensionalität wird entsprechend bemüht, um Nachteile im Universum der Dimensionen verbal verschwinden zu lassen. Dass diejenigen, die die Mehrdimensionalität ins Feld führen, dann regelmäßig passen, wenn es darum geht, zu benennen worin die Mehrdimensionalität eigentlich besteht, liegt dann gemeinhin an, na – an was wohl? Richtig, an der Mehrdimensionalität.

Bevor ich mich dem Text von Rieske widme, vorweg noch einmal die Fakten, die auch Rieske nicht bestreitet, weil man sie nicht bestreiten kann:

      • Jungen erhalten bei gleicher Leistung seltener eine Empfehlung für das Gymnasium als Mädchen.
      • Jungen haben Nachteile bei der Schulbildung. Sie bleiben häufiger ohne Schulabschluss und mit Hauptschulabschluss und erwerben seltener ein Abitur als Mädchen.
      • Jungen nehmen seltener als Mädchen ein Studium an einer Universität auf.

Diese Fakten mögen genügen, um bloßzustellen, mit welch hanebüchenen Taschenspielertricks die eben benannte Realität von Rieske weggeschrieben werden soll. Alles, was im Folgenden zitiert wird, findet sich auf den Seiten 73-76 seiner “Studie”:

      • “Jungen erhalten zwar  seltener als Mädchen die Empfehlung eines Gymnasiumbesuchs. Jedoch setzen sich Eltern von Jungen häufiger als Eltern von Mädchen zugunsten einer höheren Schulform über diese Empfehlung hinweg” .

Diese Formulierung impliziert durch das “zwar – jedoch”, dass Jungen die schlechteren Empfehlungen, die sie erhalten, durch Intervention ihrer Eltern kompensieren. Dies ist aber nicht der Fall, wie man leicht daran erkennen kann, dass mehr Mädchen als Jungen ein Gymnasium besuchen. Da Jungen bei gleicher Leistung seltener eine Empfehlung für ein Gymnasium erhalten als Mädchen, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Eltern von Jungen häufiger intervenieren als die Eltern von Mädchen. Offensichtlich gibt es bei diesen Eltern noch ein Gerechtigkeitsempfinden, das an anderer Stelle leider fehlt.

      • “Jungen verlassen im Vergleich zu Mädchen die Schule häufiger mit einem niedrigeren oder keinem Schulabschluss … Jedoch sind davon hauptsächlich ein bestimmter Teil von Jungen betroffen: Jungen mit Migrationshintergrund und aus unteren sozialen Schichten…”.

Na dann ist ja alles halb so schlimm, wenn es nur Jungs aus der Unterschicht sind…. Was dem Autor irgendwie entgangen zu sein scheint, ist, dass Jungen, auch solche aus der Unterschicht, wegen ihrer Schichtzugehörigkeit nicht aufhören, Jungen zu sein. Jungen aus der Unterschicht sind eine Teilmenge der Menge der Jungen (und nicht etwa umgekehrt, wie der Autor zu denken scheint). Der Befund, dass Jungen Nachteile haben, wurde für alle Jungen festgestellt, weshalb er nicht weggeht, wenn man die Gesamtmenge in Teilmengen zerlegt. Ein Beispiel: Wenn alle Autoren, die Auftragsstudien verfassen, einen unterdurchschnittlichen IQ haben, dann ändert sich daran nichts, wenn man zeigen kann, dass Autoren, die Auftragsstudien verfassen und einem bestimmten politischen Spektrum angehören, einen besonders niedrigen IQ haben. Ganz davon abgesehen ist die Ansicht, es seien vor allem Unterschichtsjungen von schulischen Nachteilen betroffen, falsch, denn eine Zugehörigkeit zur Unterschicht führt bei Jungen wie bei Mädchen dazu, dass sie seltener eine weiterführende Schule besuchen. Die Bevorzugung von Mädchen geht, wie Rainer Geißler gezeigt hat, zu Lasten der Jungen aus der Mittelschicht: “Die größten geschlechtstypischen Nachteile haben allerdings Jungen aus der gesellschaftlichen Mitte in Kauf zu nehmen” (Geißler, 2005, S.87).

      • Während mehr Mädchen (33%) als Jungen (25%) die Hochschulreife erwerben und eine leichte Mehrzahl der Studienabschlüsse von Frauen erworben werden (52%), liegt jedoch die Studierendenquote von Abiturientinnen unter der von Abiturienten”.

Diese Katastrophe der Prozentrechnung gehört zu meinen Favoriten für die goldene Quadratwurzel. Was der Autor suggerieren will ist, dass Mädchen zwar häufiger das Abitur und einen Studienabschluss erreichen als Jungen aber seltener studieren. Das nennt man schlichten Unsinn, und die Verwirrung des Autoren erklärt sich aus der (ich darf auch mal) Komplexität  der Prozentrechnung: Der Einfachheit halber gehe ich davon aus, dass 40 Jungen und 60 Mädchen ein Abitur erworben haben. 22 Jungen und 30 Mädchen entschließen sich, zu studieren. Damit liegt der Anteil der Mädchen, die studieren, bei 50% der Abiturientinnen, während 55% der männlichen Abiturienten studieren. Dennoch gehen mehr Mädchen auf die Universität als Jungen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Annahme, Herr Rieske sei dieser rudimentären Form der Prozentrechnung nicht mächtig, oder die Annahme, er habe auf diese dummdreiste Weise versucht, seine Leser hinters Licht zu führen.

      • Achtung jetzt wird’s wieder “komplex”!: “Wenn ausschließlich Kompetenzen von Jungen und Mädchen derselben Schulform miteinander verglichen werden, sind die Differenzen in sprachlichen Kompetenzen zu ungunsten der Jungen geringer und ihre Vorsprünge im naturwissenschaftlichen Bereich größer. Das heißt, dass ein Teil der Kompetenzunterschiede zuungunsten von Jungen auf ihren größeren Anteil an weniger fordernden Hauptschulen zurückgeht”.

In anderen Worten, dass Jungen schlechter lesen können als Mädchen liegt daran, dass sie häufiger auf Hauptschulen zu finden sind als Mädchen. Wenn man einmal vergisst, dass Jungen auf Hauptschulen aussortiert werden und gerade darin der Hauptnachteil besteht, den Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem haben, dann gibt es gar keine Kompetenzunterschiede im Lesen. Diese Feststellung grenzt an Zynismus, aber um zynisch zu sein, muss man einen gewissen Abstand haben und eine entsprechende Erfahrung, folglich ist diese Feststellung einfach nur unsinnig. Aber nehmen wir den Autoren kurz ernst. Wie Herr Rieske in seiner “Studie” an diversen Stellen feststellt, haben Jungen und Mädchen bei ihrer Einschulung gleiche Lesekompetenzen. Sie haben annähert gleiche Lesekompetenzen, wenn sie am Ende der Grundschule angekommen sind. Danach klafft die Schere auseinander. Und wenn sich zwei Gruppen, die zu Beginn einer institutionellen Karriere gleiche Kompetenzen aufweisen, im Verlauf ihrer institutionellen Karriere auseinanderentwickeln, worauf anders als die Institution und die in Institutionen stattfindenden Auswahlprozesse sollte man diese Entwicklung zurückführen? Wer, wenn nicht Lehrer, die Jungen häufiger als Mädchen auf Hauptschulen sortieren, sollte dafür verantwortlich sein?

Wem bis hier die ideologische Ausrichtung des Autoren noch nicht klar ist, dem geht vielleicht ein Licht auf, wenn er liest, dass das schlechtere Abschneiden von Jungen bei Lesekompetenzen darauf zurückzuführen ist, dass sich Jungen weniger für Lesen interessieren als Mädchen, während das Zurückbleiben von Mädchen hinter Jungen in Mathematik und Informatik mit einem fehlenden Selbstvertrauen begründet wird. Aber vielleicht ist es ja umgekehrt? Behaupten kann man das problemlos, und unser Herr Rieske kann es nicht widerlegen. Er hat keinerlei Daten um seine Mutmaßung zu belegen, und er hat entsprechend auch keine Daten, um meine Mutmaßung zu widerlegen.

Zum Abschluss noch zwei Schmankerl:

      • Die Nachteile von Jungen im Bildungssystem sind u.a. deshalb keine Nachteile, weil – wie man auf Seite 75 lernt -, eine große Ungerechtigkeit zu finden ist: “Jedoch belegen Männer in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen überproportional häufig Funktionen mit Leitungs- und Entscheidungsbefugnis”.

Derselbe Autor hat auf Seite 33 seines Werks berichtet, dass 72% der Lehrer, aber nur 45% der Lehrerinnen vollzeitbeschäftigt sind. Da es Leitungsfunktionen nicht in Teilzeit gibt, hätte es nahegelegen, die Verteilung der Führungspositionen für Vollzeitbeschäftigte auszuzählen. Dazu sind jedoch zwei Dimensionen (Mehrdimensionalität!) zu berücksichtigen und in eine Kreuztabelle zu bringen. Mit anderen Worten, diese Aufgabe ist komplex, zu komplex für den Autor, wie sich schon daran zeigt, dass ausschließlich univariate Auszählungen Eingang in seine “Studie” gefunden haben, was den Autor allerdings nicht daran hindert vollmundige und jeder empirischen Basis entbehrende kausale Aussagen zu machen.

      • “Jungen sind insofern benachteiligt, als dass bestimmte gesellschaftliche Männlichkeitskonstruktionen sie in Konflikt mit bestimmten Anforderungen von Bildungsinstitutionen bringen” (76).

So deutlich hat bislang kaum jemand geschrieben, dass Bildungsinstitutionen in Deutschland angetreten sind, um “bestimmte gesellschaftliche Männlichkeitskonstruktionen” zu bekämpfen. Ich dachte immer, die Schule sei ein Ort, an dem Schüler nach ihren Leistungen und nicht nach ihrer Nase beurteilt werden. Aber das ist ein Irrtum, wie sich zeigt. Schule ist eine Umerziehungsanstalt, eine Anstalt öffentlicher Indoktrination, in der es wichtiger ist, einem Sechsjährigen seine lachhaften Machoanfälle abzutrainieren als ihm Rechnen und Schreiben beizubringen. Angesichts der Offenheit, mit der diese Form des Erziehungsfaschismus’ praktiziert wird, kann man eigentlich nur fordern, öffentliche Schulen zu schließen und die Bildung in private Hände zu geben, denn die Aussonderung von fähigen Jungen, die sich weigern, ein Jungenbild zu erfüllen, das an sie herangetragen wird, in dem sie sich aber nicht wiederfinden, auf Sonder- und Hauptschulen kann sich keine Ökonomie, die langfristig erfolgreich sein will, auf Dauer leisten, und für das unter teilzeitbeschäftigten Lehrerinnen anscheinend so verbreitete Bild vom männlichen Hauptverdiener ist es auch nicht förderlich.

Literatur

Geißler, Rainer (2005). Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. Zum Wandel der Chancenstruktur im Bildungssystem nach Schicht, Geschlecht, Ethnie und deren Verknüpfung. In: Berger, Peter A. & Kahlert, Heike (Hrsg.). Insitutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim: Juventa, S.71-100.

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