Etikettenschwindel – Der Missbrauch des Begriffs “Expertise”

Die Friedrich-Ebert-Stiftung vertreibt einen Text von Thomas Gesterkamp, der sich mit “Geschlechterkampf von rechts” beschäftigt und den Untertitel trägt: “Wie Männerrechtler und Familienfundamentalisten sich gegen das Feindbild Feminismus radikalisieren”. Überaschender Weise ist dieser Text, der vom Titel her klingt, als wäre er das Ergebnis einer “undercover” Aktion von Günter Wallraff, überschrieben mit “Expertise der Friedrich-Ebert-Stiftung”. Das bedeutet zum einen, dass der Autor nicht den Mut hatte, aktiv “zu forschen”, wie Wallraff das tut, zum anderen bedeutet es, dass Autor und Stiftung für ihr Werk wissenschaftliche Geltung beanspruchen, denn eine Expertise wird von einem Experten erstellt. Ein Experte hat Sachverstand und Urteilsvermögen. Beides zeichnet ihn gegenüber anderen aus. Zudem besitzt ein Experte “a set of skills or methods for apt and successful deployment of his knowledge to new questions” (Goldman, 2006, S:20). Das Problem mit der Expertise von Gesterkamp und FES ist nun, dass sie keine der Anforderungen erfüllt, die man an eine wissenschaftliche Expertise stellt.

Wissenschaftliche Arbeiten, das lernen Studenten bereits im ersten Semester, beginnen mit einer Fragestellung, die man untersuchen will. Da die meisten Fragestellungen bereits von anderen untersucht wurden, gehört zur wissenschaftlichen Arbeit die Darstellung des Forschungsstands. Wissenschaftliches Arbeiten ist die Anwendung einer Methode, ein methodisches und strukturiertes Vorgehen. Sätze über die Realität werden aufgestellt und geprüft. Das Schreiben einer Expertise hat darüber hinaus den Forschungsstand anhand logischer Kriterien zu gewichten und unter Abwägung der vorhandenen Daten, die zum Teil auch selbst erhoben sein können, zu einem wissenschaftlich begründeten und somit intersubjektiv nachvollziehbaren Ergebnis zu kommen.

Wie wenig die Arbeit von Gesterkamp auch nur den rudimentärsten Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten gerecht wird, von den Anforderungen an eine wissenschaftliche Expertise ganz zu schweigen, kann recht einfach und unter Bezug auf drei Kriterien, die in keiner wissenschaftlichen Arbeit fehlen dürfen, gezeigt werden. Die drei Kriterien sind:

  • Die Forschungsfrage bzw. Fragestellung
  • Die formalen Standards
  • Die verwendete Methode

Forschungsfrage

Gesterkamp hat keine Forschungsfrage. Gesterkamp hat ein Anliegen. Sein Anliegen besteht darin, jegliche Kritik am Feminismus als “rechts” oder “rechtslastig” und in jedem Fall als ungerechtfertigt zu diskreditieren. Das wird bereits an seiner Wortwahl deutlich, die die Wortwahl eines ideologischen Pamphlets, nicht aber die Sprache eines Wissenschaftlers ist. So werden Aussagen unterschiedlichster Provenienz, die Gesterkamp gleich zu Beginn zitiert, mit Verben wie “ausrufen”, “verlangen”, “denunzieren” oder “anprangern” belegt, um deutlich zu machen, dass die Aussagen unberechtigt sind. Damit auch der letzte Leser merkt, dass die von Gesterkamp indirekt zitierten (und in keinem Fall belegten) Aussagen “verdammungswürdig” sind, werden die Passagen noch mit Adjektiven wie “rechtslastig”, “neokonservativ”, “antifeministisch” oder “militant” angereichert und auch Nomen wie “Fundamentalismus” dürfen nicht fehlen. Dies macht auch einem unvoreingenommenen Leser nach wenigen Zeilen deutlich, dass er keinen wissenschaftlichen Text liest, sondern eine Form privater Abrechnung mit allem, was dem Autor – um seine Worte zu benutzen – “nicht passt” und dass für diese Abrechnung der Mantel der Wissenschaftlichkeit reklamiert wird. Das Fehlen jeglicher wissenschaftlicher Standards ist dann nicht weiter überraschend.

Formale Standards

Jeder Student im ersten Semester lernt, dass er keine Zitate von anderen nutzen darf oder anderen in den Mund legen darf, ohne die entsprechenden Zitate zu belegen. Quellenkunde und die Kunst des Bibliographierens sind elementare Bestandteile des wissenschaftlichen Arbeitens. Sie sind deshalb elementar, weil das Hauptkriterium einer wissenschaftlichen Arbeit die Nachvollziehbarkeit der darin gemachten Aussagen ist. Nachvollziehbar ist nur, was belegt ist. Thomas Gesterkamp belegt so gut wie nichts. Er füllt Seite um Seite mit Behauptungen darüber, was dieser oder jener gesagt haben soll, da und dort zu lesen sein soll, ohne dass er angibt, woher er sein Wissen nimmt. Er gibt seine Quellen nicht an. Wäre sein Text als Seminararbeit eingereicht worden, er hätte dafür keinen Schein erhalten.

Nicht nur das Fehlen rudimentärer wissenschaftlicher Standards ist auffällig, auch das Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem Thema ist markant. So ist Kapitel 2.1 überschrieben mit “Behauptungen und Realität”. In diesem Kapitel wendet sich Gesterkamp u.a. gegen die Tatsache, dass Jungen im deutschen Bildungssystem erhebliche Nachteile haben und aktiv benachteiligt werden . Während die Nachteile und Benachteiligungen von Jungen empirisch gut belegt sind, führt Gesterkamp keinerlei Daten an, um seine überraschende Erkenntnis, dass Jungen keine Nachteile haben, zu belegen. Statt dessen proklamiert er, dass es falsch sei, Jungen pauschal als Bildungsverlierer zu bezeichnen, er behauptet, dass soziale Schicht wichtiger sei als Geschlecht und lässt noch den bemerkenswerten Satz folgen: “Männliche Mittelschichtsjugendliche zum Beispiel erbringen in Mathematik und in den Naturwissenschaften sogar überdurchschnittliche Leistungen” (5). Dieser Satz zeigt eindrücklich wie fremd Gesterkamp wissenschaftliches Arbeiten ist, denn der Satz enthält einen zweistelligen Funktor und macht deshalb nur Sinn, wenn man angibt im Vergleich zu wem, männliche Mittelschichtsjugendliche überdurchschnittliche Leistungen erbringen: im Verglich zu weiblichen Mittelschichtsjugendlichen, im Vergleich zu männlichen Unterschichtsjugendlichen, im Vergleich zu Thomas Gesterkamp, im Vergleich zu Erwachsenen… Wer weiß? Darauf, dass die Nachteile von Jungen im deutschen Bildungssystem nicht weggehen, wenn man die nachweislich falsche Behauptung aufstellt, es seien nicht Jungen, sondern Unterschichtsjungen, die Nachteile in der Schule haben, gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Die Unhaltbarkeit dieser unsinnigen Behauptung habe ich schon im Zusammenhang mit Thomas Viola Rieskes “Studie” offengelegt.

Sodann findet sich ein Kapitel 3, das mit Forschungsstand überschrieben ist und in dem sechs Publikationen zusammengestellt sind, von denen der Autor offensichtlich auch nicht weiß, warum er sie an dieser Stelle präsentiert. Ebenso scheint er keine Ahnung zu haben, was er den entsprechenden Arbeiten entnehmen will, von denen eine nach seiner eigenen Einschätzung “weitgehend überholt” ist. Vermutlich ist “der Forschungsstand” ein Zugständnis an die Erwartungen, die Leser an eine wissenschaftliche Expertise haben. Da diese Erwartungen allerdings bis Seite 7 hinlänglich zerstört sind, hätte sich der Autor diese Camouflage ruhig schenken können. 

Die schönste Stelle dieses “Werks” findet sich auf Seite 11. Dort geht es Gesterkamp darum, u.a. online Foren als “Medium für Verschwörungstheoretiker” zu brandmarken, und dies tut er mit einer bemerkenswerten Feststellung: “Hier kann jeder ‘posten’, was ihm gerade einfällt – und sich durch die Einträge Gleichgesinnter bestätigt fühlen. Ob der Inhalt durch Quellen belegt ist oder nicht, spielt im Gegensatz zum seriösen Journalismus keine Rolle” (11-12). Wenn das Fehlen von Quellenangaben, wie Gesterkamp es hier nahelegt, dafür spricht, dass derjenige, der Behauptungen ohne Quellenangabe aufstellt, als Verschwörungstheoretiker enttarnt ist, dann qualifiziert sich Gesterkamp selbst als Verschwörungstheoretiker, denn seine Behauptungen über die Männerrechtsbewegung bleiben ausnahmslos unbelegt.

Methode

Wissenschaft ist eine Methode. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind das Ergebnis einer bestimmten Vorgehensweise. Forscher sammeln Daten durch ein Aktenstudium, durch quantitative Befragung, durch qualitative Interviews, durch Dokumentenanalyse, durch Fallstudien. Für Gesterkamp hätte es sich angeboten, Daten zur Männerbewegung zu sammeln, die über den Rapport der Entstehungsgeschichte und den Hinweis hinausgehen, dass Männerrechtler X einmal dabei gesehen wurde, wie er einem “rechtslastigen” Blatt ein Interview gegeben hat. Dies allerdings ist mit Arbeit verbunden, und es bedarf einer Fragestellung. Kurz: Es ist nicht so leicht zu bewerkstelligen, wie das Aufstellen wilder und unbelegter Behauptungen. Um Daten zu sammeln, muss man wissen, mit welchem Ziel man Daten sammelt, was man erklären will (schon um nicht im Meer der Information zu ertrinken). Gesterkamp will nichts erklären. Er hat keine Fragestellung. Er hat ein Anliegen. Er will die Männerrechtsbewegung in ein aus seiner Sicht schlechtes Licht stellen und dafür wissenschaftliche Fundierung in Anspruch nehmen, entsprechend benötigt er keine Methode und auch keine Fragestellung.

Dass es Gesterkamp nicht um Wissenschaft geht, weiß auch Barbara Stiegler. Sie merkt in ihrer Vorbemerkung an, dass das Fehlen einer wissenschaftlich abgesichten Empirie, sich in Gesterkamps “Werk” durch Bezug auf die “eher flüchtigen, teilweise schnell wieder verschwindenden Spuren im Internet” sowie “auf persönliche Beobachtungen im Kontext von Veranstaltungen” niedergeschlagen habe. Dies ist eine interessante Art, um den Leser darauf vorzubereiten, dass das, was nun folgt, nicht Wissenschaft, sondern persönliche Meinung und nicht Methode, sondern Willkür ist. Mit anderen Worten, der Text von Gesterkamp hat keinerlei wissenschaftlichen Wert und kann entsprechend dem Müllhaufen ideologischer Pamphlete überantwortet werden. Und so bleibt nur noch zu fragen, warum die Friedrich-Ebert-Stiftung das Pamphlet überhaupt veröffentlicht hat und davon fälschlicherweise behauptet, es sei eien Expertise? Vielleicht weiß ja einer der Leser dieses Beitrags eine Antwort.

Gesterkamp, Thomas (2010). Geschlechterkampf von rechts. Wie Männerrechtler und Familienfundamentalisten sich gegen das Feindbild Feminismus radikalisieren. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Goldman, Alwin I. (2006). Experts: Whoch Ones Should You Trust? In: Selinger, Evan & Crease, Robert P. (eds.). The Philosophy of Expertise. New York: Columbia University Press, p.14-38.

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