Gipfel der Heuchelei: Christoph Butterwegge schreibt von Armut und der Steuerung des “Pöbels”

Ausgabe 11 des “gewerkschaftlichen Debattenmagazins Gegenblende” enthält einen Beitrag als dessen Verfasser “Prof. Dr. Christoph Butterwegge” angegeben wird. Die Reihung von Amtsbezeichnung und Bildungstitel soll offensichtlich suggerieren, dass der nachfolgende Text aus besonders berufener Feder stammt, von einem, gegen dessen Einsetzung in das Amt des Professors das Kultusministerium nichts einzuwenden hatte (= Professor) und von einem, dem eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit einen Bildungstitel eingebracht hat (= Doktor). Im weiteren messe ich die Aussagen von Herrn Butterwegge am wissenschaftlichen Anspruch, wie ihn der Titel “Dr.” transportiert, nicht an der administrativen und politisch abgesegneten Position, die sich in der Amtsbezeichnung “Professor” niederschlägt.

Dr. Christoph Butterwegge schreibt über Armut und Reichtum. Armut, so weiß er gleich im ersten Satz zu berichten, wächst „hierzulande seit Jahren“, und zwar, wie man einige Zeilen weiter erfährt, weil der politische Wille fehle, die Armut zu beseitigen. „Armut“, so ist im neuesten Datenreport des Statistischen Bundesamts zu lesen, „ist eine Situation wirtschaftlichen Mangels, die verhindert, ein angemessenes Leben zu führen. Da das Wohlstandsniveau in Deutschland deutlich über dem physischen Existenzminimum liegt, werden in Deutschland und in der EU meist die ‚relative Armut‘ und die ‚Armutsgefährdung‘ betrachtet“ (Deckl, 2011, S.151). Mit anderen Worten, die Armut, von der Butterwegge schreibt, gibt es in Deutschland wenn überhaupt, so nur in verschwindend geringem Ausmaß und weil dem so ist, die Armutsforschung aber einen Gegenstand benötigt, behilft man sich mit dem Konzept der „relativen Armut“. Relativ arm sind diejenigen, die weniger als „60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben“ (Deckl, 2011, S.151). Die relative Armut ist demnach ein statistisches Konstrukt, das – da es einer formalen Berechnung folgt – überall dort vorhanden ist, wo die Formel zur Anwendung kommt. Das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen beschreibt das Einkommen, das die Bevölkerung in zwei Hälften teilt, d.h. wenn das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland 18.856 Euro beträgt, dann gibt es ebenso viele Deutsche, die mehr zur Verfügung haben als es Deutsche gibt, die weniger zur Verfügung haben. Wenn das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen in Gesellschaft A 25.000 Euro im Jahr beträgt, dann gilt als relativ arm, wer 15.000 Euro netto oder weniger im Jahr zur Verfügung hat. Wenn das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen wie im Fall von Deutschland 18.856 Euro beträgt, dann gilt als relativ arm, wer 11.151,60 Euro netto oder weniger im Jahr zur Verfügung hat. 15.5% der Bevölkerung hatten im Jahr 2008 11.151,60 Euro netto oder weniger zur Verfügung (Deckl, 2011, S.154), was angesichts der Tatsache, dass in diese Berechnung Auszubildende, Studenten und Schüler mit eigenen Einkommen eingehen, kaum verwunderlich ist. Dieser Anteil beschreibt die „Armutsgefährdeten“ und er hat sich im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert.

Christoph Butterwegge besetzt einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, und er hat einen Doktortitel. Die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens sollten ihm also vertraut sein. Wissenschaftliches Arbeiten besteht darin, Hypothesen über die Realität aufzustellen und an der Realität zu prüfen. Butterwegge hat seine Aussage über Armut offensichtlich nicht an der Realität geprüft, sie ist gar nicht dazu gedacht, an der Realität geprüft zu werden. Sie will Stimmung machen und den Boden bereiten, auf dem Butterwegge seinen Lesern unter der Hand sein Weltbild unterschieben kann, ein Weltbild, das sehr deutlich wird, wenn man einige Stellen seines Textes in Reihe stellt:

  •  Armut und Reichtum sind systembedingt, so schreibt er, beide seien konstitutive Bestandteile des Kapitalismus; Armut sei das Eigentümliche einer bürgerlichen Gesellschaft, die „nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“.
  • Armut könne durch eine Politik der Umverteilung beseitigt werden.
  • „Armut erscheint in einer Gesellschaft, die den Wettbewerb bzw. die Leistung geradezu glorifiziert und Letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, als funktional, weil sie nur das Pendant dessen verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen in des Wortes doppelter Bedeutung ‚verdient‘ haben“.
  • Armut ist „sozialer Sprengstoff“ und eine „Gefahr für die Demokratie“, denn eine „alleinerziehende Mutter, die nicht weiß, wie sie teure Schulmaterialien für ihre Kinder bezahlen soll, wird sich kaum an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen können“.

Offensichtlich hat Butterwegge ein sozialistisches Idyll im Hinterkopf, wenn er schreibt, was gerade zitiert wurde. Offensichtlich hält Butterwegge Menschen für Marionetten politischer Systeme, die durch keinerlei eigenen Antrieb und keinerlei Ehrgeiz ausgezeichnet sind und denen Wettbewerb und Konkurrenz fremd, ja verhasst ist. Offensichtlich verachtet Butterwegge Arme und denkt, es sei die Aufgabe des Staates „den Pöbel“ durch Umverteilung „zu steuern“. Butterwegge hat zwar nicht den Mut, Arme selbst als Pöbel zu bezeichnen, aber er wählt ein entsprechendes Zitat von Georg Friedrich Wilhelm Hegel, und da er mit diesem Zitat seine These, dass Armut und Reichtum dem Kapitalismus systemimmanent sind, belegen will, kann man mit gutem Grund annehmen, dass er mit dem Inhalt übereinstimmt.

Es ist an der Zeit, in Erinnerung zu rufen, dass Butterwegge zu Beginn seines Artikels eine Schimäre geschaffen hat, „Armut“, die es in Deutschland nach den Erkenntnissen des Statistischen Bundesamtes nicht gibt. Es gibt ein statistisches Konstrukt, das als relative Armut bezeichnet wird und dessen Berechnung immer einen Bevölkerungsteil hervorbringen muss, der weniger als 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Insofern hat Butterwegge recht, diese Form von relativer Armut ist systemimmanent, aber sie ist nicht nur kapitalistischen Gesellschaften immanent, sie ist auch sozialistischen Gesellschaften immanent, denn bislang ist keine Gesellschaft bekannt, die es geschafft hätte, keine soziale Hierarchie hervorzubringen. Offensichtlich streben Menschen danach, sich von anderen zu differenzieren, und die Suche nach Differenzierungsmerkmalen führt in der Regel zu Beruf, Einkommen oder Titeln, wie dies ja auch bei Butterwegge der Fall ist, der seinen Beitrag mit „Prof. Dr. Christoph Butterwegge“ überschreibt und nicht etwa mit „Christoph Butterwegge“. Scheinbar will sich selbst Butterwegge, dem die „Glorifizierung von Wettbewerb“ so verabscheuenswürdig ist, nichts desto trotz differenzieren. Ganz offensichtlich hat er auch nichts dagegen, aus der sicheren Entfernung des eigenen Büros im Gebäude der Universität zu Köln über etwas zu schreiben, was er, wie die Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, sich einbildet. Er kann dies tun, weil kapitalistische Wirtschaftssysteme über die letzten Jahrhunderte, wie ein ausführlicher Bericht von Angus Maddison (2001) belegt, Wohlstand in einer nie dagewesenen Weise geschaffen haben, Wohlstand, der es ermöglicht, nicht nur 7 Milliarden Menschen zu ernähren, sondern der es darüber hinaus gestattet, Menschen wie Butterwegge von handwerklicher oder körperlicher Arbeit freizustellen und für ihre „Gedanken“ zu bezahlen. Das Nettoeinkommen von Butterwegge liegt mit Sicherheit deutlich über dem Nettoeinkommen der von ihm so bedauerten „alleinerziehenden Mutter“, die sich nicht an den Prozessen der demokratischen Willensbildung beteiligen kann. Entsprechend schlage ich vor, „Prof. Dr. Butterwegge“ verzichtet auf die Hälfte seines Gehalts und finanziert damit die Beteiligung an der politischen Willensbeteiligung für alleinerziehende Mütter, damit zumindest einmal etwas empirisch Verwertbares aus seinen Einlassungen resultiert.

Literatur

Deckl, Silvia (2011). Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg). Datenreport 2011 . Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.

Maddison, Angus (2001). The World Economy. A Milleninial Perspective. Paris: OECD.

Bildnachweis: Institute of Developmental Studies

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