Erfolgreich Altern mit dem DIW!

Wie altert man erfolgreich? Über diese Frage bin ich im Zusammenhang mit dem Gender Life-Expectancy Gap schon einmal gestolpert. Männer in Bewegung, war damals das Motto; Männer in Bewegung leben länger, war die Meldung und, weil Männer zu wenig in Bewegung sind, leben sie fünf Jahre kürzer als die allzeit joggenden und sich bewegenden Frauen, das war die Botschaft, die die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung gerne unter das Volk gebracht hätte. Was davon zu halten ist, habe ich hier besprochen.

Heute geht es um ein anderes Rezept des erfolgreichen Alterns. Koch sind dieses Mal drei Autoren aus dem DIW, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, einem Institut, das sich nach meiner Wahrnehmung in letzter Zeit verstärkt bei Bundesbehörden anbiedert. Aus den Hallen des Berliner Wirtschafts-Instituts stammt also das neueste Rezept “erfolgreichen Alterns”, dieses Mal mit dem Titel: “Erfolgreich Altern: Lebensbedingungen in der Kindheit und soziale Ungleichheit haben großen Einfluss”. Das sind markige Worte und fast deterministische Aussagen (es bleibt ja nur ein “kleiner Einfluss” für alles außer den Lebensbedingungen in der Kindheit und der sozialen Ungleichheit), so dass man sich als empirischer Sozialforscher sofort fragt: Mit welchen Daten belegen die drei DIWler ihre bereits in der Überschrift aufgestellte Behauptung?

Die Frage führt zunächst einmal zum erfolgreichen Altern. Bei der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung ist erfolgreiches Altern dann gegeben, wenn man alt wird. Das macht auch unmittelbar Sinn, denn von einem, der mit 40 stirbt, kann man kaum sagen, er sei erfolgreich gealtert. Beim DIW ist man jedoch nicht so bescheiden: Nicht das Altern an sich, nein die Art des Alterns macht den Erfolg im erfolgreichen Altern. Erfolgreich altert wer Krankheiten und Gebrechen vermeidet, wer eine hohe physische und kognitive Leistungsfähigkeit aufrecht erhält, wer sich kontinuierlich (sic !) in sozialen und produktiven Aktivitäten engagiert. Erfolgreich gealtert ist demnach ein Rentner, der im Alter von 79 Jahren am Stadtmarathon in Berlin teilnimmt, die Strecke aus dem Kopf kennt und die 42,195 Kilometer in weniger als drei Stunden zurücklegt. Das ist natürlich das Ideal, vermutlich machen die drei DIWler Abstriche zu Gunsten der Realität und finden auch den Opa, der sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum bundesfreiwiligen Einsatz als unentgeltlicher Fahrer für Essen auf Rädern macht, als passablen, erfolgreichen Alterer.

Brandt, Deindl & Hank (2012), S.13

Damit wäre die abhängige Variable (erfolgreiches Altern) beschrieben (wenn auch nicht geklärt ist, wie die Autoren ihre abhängige Variable gemessen haben), und die nächste Frage, die sich stellt, lautet: Wie schafft man es, einen solchen Hochleistungsrentner herbeizuzüchten. Die Antwort aus dem DIW ist eindeutig (siehe Abbildung):

Hochleistungsrentner ist,

  • wer in der Kindheit von möglichst wenigen Geschwistern belästigt wurde;
  • wer viele Bücher im Haushalt vorgefunden hat;
  • wer gute mathematische Fähigkeiten in der Schule hatte;
  • wer nicht schlechter als andere in der Kindheit sprechen konnte;
  • wer in der Kindheit gesund war;

Diese erstaunlichen Determinanten “erfolgreichen Alterns” haben die drei DIWler durch die Befragung von Menschen erreicht, die zum Befragungszeitpunkt mindestens 50 Jahre alt waren, die also nicht nach 1958 (die Befragung war 2008) geboren sind. Und natürlich sind die Ergebnisse nach Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen kontrolliert. Nur: Was bedeuten die Ergebnisse? Wie wird aus der Sammlung von Büchern von Enid Blyton oder Charles Dickens erfolgreiches Altern? Kommt man dem Geheimnis durch Lesen auf die Spur? Wieso schlägt sich der Bücherbestand nicht auf die Deutschnote nieder, und warum hat die Deutschnote keinen Anteil am erfolgreichen Altern? Wieso sind Geschwister hinderlich? Wieso ist die Mathematikleistung im Jahre 1965 ein Garant für erfolgreiches Altern 50 Jahrre später? Schaffen es Menschen, die rechnen können eher, sich und ihr Vermögen vor dem Zugriff des Sozialstaats zu sichern? Und wie hat sich die Einführung von Taschenrechnern auf das erfolgreiche Altern ausgewirkt? Fragen über Fragen. Aber lassen wir die Fragen, die wieder nur in defätistischer Weise das vollständige Fehlen einer theoretischen Fundierung zeigen und daher nur geeignet sind, die Ergebnisse als theorielose Willkür offen zu legen, was dann notwendig dazu führt, dass man mit den genannten Variablen vermutlich auch die bessere Spül- oder Abtrockenleistung im Alter erklären kann, beiseite und nehmen wir uns vor, das Ergebnis aus Berlin ernst zu nehmen. Denn: Eine Variable aus der Abbildung, die wichtigste, fehlt noch: die soziale Ungleichheit.

Soziale Ungleichheit verhindert erfolgreiches Altern, so behaupten die Berliner, und der Zahlenwert in der Abbildung belegt die Behauptung anscheinend. Allerdings ist der Gini-Koeffizient, der soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft misst, ein Koeffizient aus der Jetztzeit, der also rückwirkend auf die Kindheit der Befragten wirken muss: Das Ausmaß sozialer Ungleichheit im Jahre 2008  wirkt in der Vergangenheit, also in den Jahren 1958 bis vielleicht 1928, es ist quasi ein mit Lichtgeschwindigkeit reisendes Partikel, das obwohl heute gegeben, die Vergangenheit zu beeinflussen im Stande ist. Aber, halt, ich tue den drei DIWlern Unrecht. Sie haben nämlich bemerkt, dass ihr Gini-Koeffizient aus der Jetztzeit sich schwer tut, die Vergangenheit, also die Kindheit der Befragten zu beeinflussen. Deshalb stellen sie eine Behauptung auf, die einem sprachlos macht: “Ein aktuelles Maß der Einkommensungleichheit zum Befragungszeitpunkt, wie wir es in unserer Untersuchung verwenden, vermag … bis zu einem gewissen Grad auch die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen während der Kindheit zu reflektieren”.

Ich habe mir vorgenommen, die Autoren ernst zu nehmen. Also nehme ich sie auch ernst: Wer 1928 geboren wurde und in seiner Kindheit das Dritte Reich erlebt hat, der ist also unter ähnlichen wirtschaftlichen Bedingungen aufgewachsen wie jemand, der 2008  aufwächst, so die Autoren. Wer im Dritten Reich geboren wurde und in seiner Kindheit den Zweiten Weltkrieg durchlebt hat, für den gilt dasselbe, und wer in der Zeit des Wirtschaftswunders groß geworden ist, der hat auch keine anderen wirtschaftlichen Bedingungen vorgefunden als jemand, der 2008  seine Kindheit erlebt. Was tut man nicht alles, um einen Einfluss von sozialer Ungleichheit auf was auch immer herbei zu konsturieren. Offensichtlich ist die Not, einen negativen Effekt für soziale Ungleichheit zu konstruieren, so groß, dass man als Autor im DIW seine kognitiven Fähigkeiten verleugnet und entsprechend seine Disposition, erfolgreich zu altern, in Frage stellt (möglicherweise gelingt es, die kognitiven Defizite durch Teilnahme am Berlin-Marathon zumindest teilweise zu kompensieren…).

Und dann, auf Seite 13 des DIW-Pamplets ist es mir dann entgegen aller Vorsätze nicht mehr möglich, die Autoren ernst zu nehmen. Dort steht: “Entsprechend unserer Erwartung auf Basis früherer Befunde zeigt sich weiterhin, dass die Chancen, erfolgreich zu altern, mit zunehmendem Alter stark abnehmen”. Je älter man also wird, um so weniger erfolgreich ist man gealtert. Es sind eben solche Absurditäten, es ist ein solcher Unsinn, der dazu führt, dass Soziologie und Sozialwissenschaften in Deutschland den schlechten Ruf haben, den sie haben. Variablensoziologie ohne Sinn und Zweck, von der die Autoren zwar nicht wissen, aus welchen theoretischen Gründen, wohl aber aus welchen ideologischen Gründen sie sie durchführen, ist geeignet auch noch den letzten Rest an Glaubwürdigkeit deutscher Sozialwissenschaften zu zerstören, und deshalb wäre es an der Zeit, dass die Sozialwissenschaftler, die noch einen Funken von wissenschaftlichem Ethos im Leib haben, den Mut finden etwas gegen ideologischen Unsinn wie den aus dem DIW zu unternehmen.

Brandt, Martina, Deindl, Christian & Hank, Karsten (2012). Erfolgreich Altern: Lebensbedingungen in der Kindheit und soziale Ungleichheit haben großen Einfluß. DIW-Wochenbericht 7/2012.

Bildnachweis:
Roy Doty
Stimmel.de

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