“Vielfalt und Zusammenhalt” – Sociology’s wake

Logo des Soziologentags 2012

Alle zwei Jahre ruft der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie seine Getreuen zum Treffen der Zunft an einen zentralen Platz in Deutschland, zum Soziologentag. Was zu Zeiten von Karl Popper und Theodor Adorno noch ein mediales Großereignis war, ist heute in die relative Bedeutungslosigkeit der regionalen Presse versunken, und entsprechend finden immer weniger Soziologen die Kraft, um sich aus ihrem Lehrstuhl zu erheben und am Soziologentag teilzunehmen. Dennoch oder trotzdem, finden Soziologentage im Zwei-Jahres-Rhythmus statt.

Und so werden sich einige Soziologen auch dieses Jahr zum Soziologentag in Bochum und Dortmund einfinden, um dort vom 1. bis zum 5. Oktober Vorträgen über “Vielfalt und Zusammenhalt” zu lauschen. “Vielfalt und Zusammenhalt” , so lautet das Motto. Gemeint ist damit Folgendes:

“Während die  – von Vielen als wachsend wahrgenommene – Pluralität sozialer Lebensäußerungen und -formen … einerseits als Bedrohung des ‘sozialen Bandes’ thematisiert wird, erscheint sie andererseits geradezu als Voraussetzung und grundlegender Mechanismus der Stiftung (neuer) sozialer Bindungen. Aus soziologischer Perspektive nehmen mit erweiterten Figurationen sozialer Vielfalt auch die möglichen Ausgestaltungsformen sozialen Zusammenhalts zu”.

Diejenigen, auf die die zitierte Stelle wirkt, wie das Eingeständnis eines Einsiedlers, dass er beim Anblick eines Autos das große Grausen erlebt hat, mögen bedenken, dass viele Soziologen im Verborgenen und weitgehend ungestört von z.B. medialer Aufmerksamkeit forschen und viele sich nur alle zwei Jahre, ins Rampenlicht einer lokalen Tageszeitung trauen, um dort mit “dem interessierten Publikum” Kontakt aufzunehmen. Für derart soziologische Einsiedler wird die Welt innerhalb von zwei Jahren selbstverständlich komplexer. Sie erkennen, dass Vielfalt bedeutet, sich mit einer steigenden Zahl unterschiedlicher “Glaubensgemeinschaften (vor allem dem Islam, aber auch dem Buddhismus …), in entsprechenden sakralen Bauten und auch in Bekleidungsattributen wie Kreuzanhänger oder Kopftuch” konfrontiert zu sehen. Sie stellen fest, dass außerhalb des eigenen Gemäuers “Arbeitsort, Umfang der Arbeitszeit, Dauer des Beschäftigungsverhältnisses und Bindung an die jeweilige Organisation” eine Veränderung erfahren haben (tatsächlich haben sich die entsprechenden Arbeitsbedingungen durch das Hochschulrahmengesetz auch für Soziologen verändert, aber das müssen viele Soziologen erst noch zu bemerken…). All diese erstaunlichen Entwicklungen der soziologischen Umwelt gilt es zu erfassen und, nein nicht zu erklären, zu beschreiben.

Viele heutige Soziologen verstehen sich nämlich nicht als kritische Wissenschaftler, nein, sie sind staunend beschreibende Zeitgeister, die gebannt auf die neue Vielfalt blicken und sich nach den Möglichkeiten fragen, wie diese neue Vielfalt in neuen Zusammenhalt überführt werden kann. Denn: Zusammenhalt ist es, wonach wir alle streben. Nicht die Bildung einer individuellen Persönlichkeit ist des Menschen Ziel, nein, sein Eingehen in einen kollektiven Zusammenhalt, der ihm Sinn und Berechtigung seines Daseins vermittelt, so wie die Bezeichnung Soziologe und die Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie kolletiven Zusammenhalt vermittelt.

Max Weber

Nun ist das staunende Beschreiben gesellschaftlicher Entwicklungen und Verhältnisse nicht unbedingt das, was die Urväter der Soziologie, von August Comte über Emile Durkheim bis Max Weber unter Soziologie verstanden wissen wollten. So schreibt z.B. Max Weber “Soziologie … soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehend und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will” (Weber, 1988, S.503). Erst das Erklären macht die Soziologie für Max Weber zur Wissenschaft. Für Emile Durkheim steht die Erklärung sozialer Fakten im Zentrum der Soziologie, und Auguste Comte hat sich gar auf die Suche nach historischen Gesetzen der Entwicklung von Gesellschaften gemacht. Alle Urväter haben also gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Zustände und Strukturen erklären und nicht nur beschreiben wollen.

Diesem Ziel entsprechend, war die Soziologie einst gut aufgestellt. Sie hatte eine Vielzahl theoretischer Konzepte, um “Gesellschaft”, “soziale Fakten” oder “soziales Handeln” zu erklären. Dieser Reichtum theoretischer Konzepte von Herbert Blumer, Harold Garfinkel und Randall Collins, über Talcott Parsons, Robert K. Merton bis James Coleman, hat die Soziologie gegenüber anderen Sozialwissenschaften ausgezeichet, etwa gegenüber der Politikwissenschaft, deren Mitglieder sich nach wie vor nicht darüber einig sind, ob sie z.B. Meinungsmacher oder Meinungsforscher sein wollen.

Nun kommt derjenigen, der  gesellschaftliche Strukturen oder Zustände erklären will, sehr schnell bei den Begriffen “Macht”, “Herrschaft” und “Interesse”, Begriffe, die noch für Max Weber die zentrale Kategorien der Soziologie bildeten, heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Deshalb stellt derzeit kaum jemand in der Soziologie die Frage, welche Interessen hinter gesellschaftlichen Strukturen stehen, wer die Macht hat, die entsprechenden Strukturen durchzusetzen und wer auf Grundlage welcher Strukturen Herrschaft begründet? Konkret unterscheidet erklärende Soziologie, also Soziologie als Wissenschaft, von der Soziologie des Zusammenhalts z.B. dadurch, dass sie nach den Interessen fragt, die hinter der Einrichtung von Gender-Lehrstühlen stehen, dass sie fragt, wem es nutzt, wenn Kinder aus der Unterschicht bereits in der Grundschule in die Sonder- oder auf die Hauptschule aussortiert werden; Sie fragt nach den subtilen Machtmitteln, die dazu führen, dass Soziologen lieber die Gesellschaft beschreiben und die gesellschaftlichen Zustände legitimieren als sie kritisch zu hinterfragen und z.B. die Frage zu stellen, wie es sich mit wissenschaftlicher Unabhängigkeit verträgt, dass die Mehrzahl der Drittmittel-Projekte an Universitäten aus staatlichen Kassen finanziert wird. Oder sie fragt nach der Funktion, die anonyme Peer-Reviews bei der Abwehr innovativer Ideen einer erklärenden Soziologie spielen. Erklärende Soziologie würde auchfragen, wieso die graphische Darstellung, des Mottos “Vielfalt und Zusammenhalt”, im Piktogramm einer Standard-Familie, Mann, Frau, Sohn, Tochter,  Kindern besteht und ob damit der Ausschluss all der im Motto beschworen Vielfalt oder deren Vereinheitlichung gemeint ist?

Streik der Soziologen - Gefahr für die Nation

Wer erklären will, muss sich mit seinem Forschungsgegenstand auseinander setzen, er muss z.B. die Menschen aus der Unterschicht, die er aus dem Datensatz kennt, den andere für ihn zusammengestellt haben, aus der Nähe kennen, vielleicht sogar schon einmal mit ihnen gesprochen haben (das wäre zumindest nicht schädlich). Wer erklären will, muss hinter die Fassaden des öffentlichen (oder öffentlich-rechtlichen) Idylls blicken und untersuchen, wie Strukturen zur Durchsetzung z.B. von Eingriffen in die Selbstbestimmung von Menschen durch Standardisierung von Vorgaben (und damit den Ausschluss von Abweichung – keine Kindheit ohne staatliche Institution), durch Einschränkung der Entscheidungsfreiheit z.B. durch “Besteuerung” als unliebsam erachteter Handlungsentscheidungen (Kinderlosigkeit) oder der Vorgabe des “richtigen und guten” Lebens enstehen und vor allem: wem sie nutzen.

Der Blick hinter die Fassade, das haben Soziologen in der Vergangenheit immer wieder erfahren, ist mit Anfeindungen und mit Ärger verbunden, denn die Offenlegung von Machtstrukturen ist regelmäßig denen ein Dorn im Auge, die von den entsprechenden Strukturen profitieren. Dennoch ist die Offenlegung von Machtstrukturen zumindest in der Vergangenheit, als Soziologie sich noch als  Wissenschaft gesehen hat, das Credo der Wissenschaft gewesen. Das war in der Vergangenheit. Heute gerieren sich viele Soziologen als Zeitgeister, die beobachten, was um sie herum passiert und im Auftrag der Bundesregierung pflichtschuldig berichten, dass bestimmte “Milieus” im Hinblick auf Bildung, Gesundheit und sportliche Aktivität hinter anderen, zu bevorzugenden “Milieus” zurückbleiben. Es ist immer einfacher, mit dem Strom zu schwimmen, als gegen den Strom – aber es ist der Tod einer Wissenschaft, deren Zweck es einst war, die Realität zu erklären und dadurch durchschaubar zu machen.

Weber, Max (1988). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: J.C.B. Mohr.

Bildnachweis
Jeremy Freese’s Weblog

“wake” bezeichnet im Englischen eine Totenwache

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