Der Mai ist gekommen…

Zum 1. Mai treffen Gewerkschaftsfunktionäre auf ihre Gefolgschaft und schwingen Reden, Reden in denen die Solidarität beschworen wird, Reden, deren Vorabtext Zeilen enthält wie: “Ich freue mich sehr, dass wir hier und heute so viele sind! So viele, die gemeinsam demonstrieren – für gute Arbeit in Europa, für gerechte Löhne und soziale Sicherheit”, und Reden, in denen Lösungen verkündet werden, die nicht einmal an den so oft abgewerteten Stammtischen Bestand hätten. Ich habe mir heute vorgenommen, zur Feier des 1. Mai und weil mich die “Diskursanalyse”, mit der ich im letzten Post beschäftigt war, inspiriert hat, die Rede zum 1. Mai zu analysieren, die Annelie Buntenbach, “Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes” in Köln gehalten hat – nicht im Hinblick auf ihre sprachliche Qualität, dafür aber im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den rudimentärsten Erkenntnissen der Ökonomie

Zuvor jedoch, will ich von einer bemerkenswerten Studie berichten, die Joris Lammers, Diederik A. Stapel und Adam D. Galinsky (2010) veröffentlicht haben. In ihrer Untersuchung gehen die Autoren der Frage nach, ob Macht bzw. das Gefühl, eine Machtposition inne zu haben, die moralischen Ansprüche der entsprechenden Personen unterminiert, ob sie zu Heuchlern werden, die andere an rigiden moralischen Maßstäben messen, die sie sich weigern, an sich selbst anzulegen. Was viele schon vermutet haben, wenn sie von z.B. Politikern erfahren, die  ihre privaten Schatullen mit abgezweigten Steuermitteln füllen und gleichzeitig die Verschwendung von Steuermitteln anprangern, oder von Gewerkschaftsfunktionären, die die Arbeitslosigkeit anprangern, während sie mit überhöhten Lohnforderungen in Tarifverhandlungen gehen, das Gefühl der Macht lässt die Moral erodieren. Wer sich im Besitz von Macht wähnt, der ist eher bereit, moralische Maßstäbe für sich selbst nicht gelten zu lassen, wohl aber andere daran zu messen.

[EXKURS: Es gibt eine Vielzahl ökonomischer Analysen, die den Zusammenhang zwischen hohen Tarifabschlüssen, starken Gewerkschaften und der Höhe der Arbeitslosigkeit belegen. Hohe Tarifabschlüsse und starke Gewerkschaften sind ein ausgezeichnetes Mittel, um die arbeitsplatzbesitzende Klientel der Gewerkschaften vor der Konkurrenz durch Arbeitslose zu schützen und Arbeitslose dauerhaft von Arbeitsplätzen fern zu halten. Arbeitslosigkeit ist somit immer auch ein direktes Resultat der Wirksamkeit von Gewerkschaften. Die Reihe der Studien, die diesen Zusammenhang belegen, ist lang. Genannt seien an dieser Stelle die Analysen von Blanchard (2006), Nickell, Nunziata und Ochel (2005), Nickell (1997) oder Scarpetta (1997).]

Dieses Ergebnis von Lammers, Stapel und Galinsky ist mir wieder eingefallen, als ich gelesen habe, wie die hochbezahlte Funktionärin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Annelie Buntenbach, die folgende Passage in Ihrer Rede zum Besten gegeben hat: “Vor einigen Wochen hat mir eine Kollegin, die gerade in Rente gegangen ist, ihren Rentenbescheid gezeigt. 632 Euro – und das nach 40 Jahren Vollzeit als Floristin. 632 Euro – das ist doch ein Skandal!” Die Rente von Frau Buntenbach wird selbstverständlich höher ausfallen als die Rente der Kollegin Floristin, und das ist kein Skandal, das ist nur richtig so, schließlich wirkt Frau Buntenbach auch im Interesse der Floristin und ihrer geringen Rente – und es war noch immer so, dass diejenigen, die die Rechte anderer vertreten haben, daran besser verdient haben, als diejenigen, deren Rechte vertreten wurden.

Genug damit und genug zum Thema Heuchelei. Ich will die Passage die Frau Buntenbach zur Gesetzlichen Rentenversicherung zum Besten gegeben hat, nutzen, um den unüberbrückbaren Graben, der zwischen wissenschaftlicher Forschung und gewerkschaftlicher Ideologie verläuft, aufzuzeigen. Vielleicht gelingt es dadurch, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass gewerkschaftliche Solidaritätsträume zwar für manche schön anzuhören sein mögen, im Ergebnis aber eine elaborierte Form des rent seeking darstellen, von dem Wenige profitieren, für das aber Viele bluten müssen, wie es wohl in der Sprache der Gewerkschaften heißt.

In der Gesetzliche Rentenversicherung, so weiß Annelie Buntenbach zu berichten, “tickt eine Zeitbombe”, und zwar aus zwei Gründen: (1) weil es einen großen Niedriglohnbereich gibt und (2) weil die Rentenhöhe gekürzt und das Renteneintrittsalter erhöht wird. Um die Zeitbombe zu entschärfen, empfiehlt Frau Buntenbach, den (1) Niedriglohnbereich zu streichen oder doch zumindest stark zu begrenzen und (2) die Rentenhöhe durch eine stufenweise und jährliche Erhöhung der Rentenbeiträge auf stabilem Niveau zu halten. Eine einfache Rechnung: Wenn das Geld in der Kasse nicht reicht, dann muss mehr Geld in die Kasse. Doch so einfach, wie Frau Buntenbach es hier darstellt, ist das Ganze nicht.

Im Laufe ihrer Rede und noch bevor sie zu den Ausführungen über die Rente kommt, weiß Frau Buntenbach (fast bedauernd) zu berichten, dass die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Aber, so fügt sie hinzu, der Niedriglohnsektor sei gewachsen. Was Buntenbach nicht zu sehen scheint und jeder Student im ersten Semester der Ökonomie sehen würde, ist ein Zusammenhang: Der Niedriglohnsektor, das zeigen eine ganze Reihe von Evaluationsstudien zur Hartz-IV-Reform (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2006, Koch, Kupka & Steinke, 2009) ist als eine Folge der Hartz-IV-Reformen gewachsen, gleiches gilt für die Übertritte aus dem Niedriglohnsektor in eine (Voll-)Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt, und beides ist dafür verantwortlich, dass die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Wenn nun aber gilt, dass ein Niedriglohnsektor dazu führt, dass die Arbeitslosigkeit fällt, dann folgt daraus, dass mit einer Beseitigung des Niedriglohnsektors eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit einhergeht. Und dass dem so ist, hat eine Unzahl ökonomischer Analysen gezeigt (für einen Überblick: Neumark & Wascher, 2007): Steigen die Preise für Arbeit, dann reduziert sich das Angebot für Arbeit.  Z.B. hat die Einführung eines Mindestlohns regelmäßig einen Rückgang der Arbeitsplätze zur Folge. Das ist eine einfache Frage der Rentabilität. Trotz aller Gutmensch-Tümelei im Rahmen von corporate social responsibility, niemand stellt einen Arbeitnehmer ein, weil ihm dessen Nase gut gefällt. Arbeitnehmer werden eingestellt, um die Produktivität und den Output eines Unternehmens zu erhöhen, wenn mit Produktivität und erhöhtem Output kein erhöhter Gewinn einhergeht, dann werden keine Arbeitnehmer eingestellt. Das sollte auch Frau Buntenbach wissen.

Das Problem von Buntenbach ist auch nicht eigentlich der Niedriglohnsektor, sondern die geringen Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung aus dem Niedriglohnsektor. Der Moloch “Gesetzliche Rentenversicherung” muss nämlich dauerhaft gefüttert werden, damit die Rentenhöhe der von Buntenbach erträumten Höhe enstprechen kann.

Gewerkschaften wurden vor Jahrhunderten gegründet, um die Interessen von Arbeitnehmern zu vertreten. Entsprechend haben sich Gewerkschaften vor Jahrhunderten in einem Gegensatz zum Staat und den Eigentümern der Produktionsmittel befunden. Ihr hauptsächliches Ziel bestand darin, für ihre Mitglieder gute Arbeitsbedingungen und (später) einen fairen Preis für Arbeit zu schaffen. Dass sich schon damals die Funktionäre mit ihren Interessen von den Interessen der eigenen Mitglieder entfernt haben, das ist spätestens seit Michels (1911) sein ehernes Gesetz der Oligarchiebildung aufgestellt hat, bekannt. Dass Gewerkschaften ihren Daseinszweck jedoch darin sehen, ihre Mitglieder auf staatliche Institutionen festzuschreiben und gegen jede Vernunft für den Bestand eines institutionellen Arrangements zu kämpfen, das Gewerkschaftsmitgliedern nur Nachteile bringt, ist eine neuere Entwicklung.

Wären Gewerkschaften und ihre Funktionäre nämlich an den Interessen ihre Mitglieder interessiert, sie würden gegen und nicht für die Gesetzliche Rentenversicherung kämpfen. Sie würden dafür Sorge tragen, dass ihre Mitglieder nicht gleich mehrfach die Gesetzliche Rentenversicherung unterstützen, einmal über ihre Beiträge, einmal über ihre Steuern und einmal dadurch, dass ihre Beiträge in die Gesetzliche Rentenversicherung eine negative Rendite erwirtschaften. Beitragszahler zur Gesetzlichen Rentenversicherung erleiden entsprechend einen “Solidaritätsverlust”, der sich aus einer Vielzahl von Quellen speist:

Bundesverband für Investmet- und Assetmanagement (2011)
  • Die hohen Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung verhindern eine adäquate private Altersvorsorge von Arbeitnehmern und berauben die Arbeitnehmer der Möglichkeit, durch z.B. Investitionen in einen Investmentfonds eine Rendite von 6-7% zu erwirtschaften
  • Die Umverteilung der Beiträge in der Gesetzliche Rentenversicherung sowie der demographische Wandel führen dazu, dass beginnend mit Beitragszahlern, die 1990 geboren sind, eine negative Rendite erwirtschaftet wird, d.h. pro eingezahltem Euro erhalten z.B. männliche Beitragszahler noch rund 0.99 Euro (1990 Geborene) bzw. 0,92 Euro (2010 Geborene) zurück.
  • Gleichzeitig sind männliche Arbeitnehmer, die die meisten Beiträge in die Gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, die größten Verlierer der Gesetzlichen Rentenversicherung, denn ihre Rendite sinkt deutlich stärker als die Rendite von weiblichen Arbeitnehmern. So finanzieren Männer nicht nur die Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rente für Frauen, sondern auch deren längere Lebenserwartung.
Deutschs Institut für Altersvorsorge

Die Lösung, die Frau Buntenbach zu diesen Fakten der Gesetzlichen Rentenversicherung einfällt, lautet: “Der Rentenbeitrag wird jedes Jahr ein bisschen angehoben. Dadurch entstehen in der Summe riesige Rücklagen – ein echter Schatz, der dazu genutzt werden kann und soll, die Leistungen zu verbessern”. Besser kann man eine kollektive Ideologie, die nicht die einzelnen Mitglieder, sondern eine nicht genau benennbare Entität zum Gegenstand hat, die von einem “Schatz” profitieren soll, nicht auf den Punkt bringen. Nicht die Chancen und Lebensumstände individueller Arbeitnehmer stehen somit im Zentrum der Aufmerksamkeit der Gewerkschaft, sondern eine kollektive Identität deren integrierender Kern das Aufrechterhalten institutioneller Sicherungssysteme ist. Anders formuliert: Die Lebenschancen individueller Arbeitnehmer werden auf dem Altar der Solidarität (mit wem auch immer) geopfert. Das mag heute eine vertretbare Gewerkschaftspolitik sein, ich habe aber dennoch Zweifel, dass sich Gewerkschaftler der ersten Stunde in diesen Inhalten wiederfinden. Wenigstens Frau Buntenbach findet sich in den Inhalten wieder, und angesichts eines Funktionärsgehalts, das jenseits des Durchschnittsverdienst eines Arbeitnehmers liegt, lässt es sich auch gut über erhöhte Beiträge bei absehbar geringerer Rentenzahlung  fabulieren. Man opfert immer leichter die Lebenschancen anderer als die eigenen, was zurückführt zur Untersuchung von Lammers, Stapel und Galinsky über Heuchelei …

Literatur

Blanchard, Olivier (2006). European Unemployment: the Evolution of Facts and Ideas. Economic Policy (January): 5-59.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)(2006). Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2006. Berlin: BMAS.

Koch, Suzanne, Kupka, Peter & Steinke, Joß (2009). Aktivierung, Erwerbstätigkeit und Teilhabe. Vier Jahre Grundsicherung für Arbeitssuchende. Nürnberg: IAB.

Lammers, Joris, Stapel, Diederik A. & Galinsky, Adam D. (2010). Power Increases Hypocrisy: Moralizing in Reasoning, Immorality in Behavior. Psychological Science 21(5): 737-744.

Michels, Robert (1925[1911]). Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Stuttgart: Alfred Kröner.

Neumark, David & Wascher, William (2007). Minimum Wages and Employment. Bonn: Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit/Institute for the Study of Labour (IZA), IZA Discussion Paper No. 2570.

Nickell, Stephen (1997). Unemployment and Labor Market Rigidities: Europe Versus North America. Journal of Economic Perspectives 11(3): 55-74.

Nickell, Stephen & Layard, Richard (1999). Labour Market Institutions and Economic Performance. In: Ashenfelter, Orley & Card, David (eds.): Handbook of Labour Economics. Amsterdam: North Holland, pp.23-98

Nickell, Stephen, Nunziata, Luca & Ochel, Wolfgang (2005). Unemployment in the OECD Since the 1960s. What Do We Know? Economic Journal 115(1): 1-27.

Scarpetta, Stefano (1997). Assessing the Role of the Labour Market Policies and Institutional Settings on Unemployment: A Cross-Country Study. OECD  Economic Studies 26: 43-96

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