Ohne Liberalismus keine Wissenschaft

von Dr. habil. Heike Diefenbach und Michael Klein

Liberalismus ist die Basis von Wissenschaft. Das ist unsere Grundüberzeugung, die wir im Folgenden begründen werden. Wir werden Liberalismus dabei auf zwei Ebenen betrachten: Auf der Ebene des Individuums, auf der Liberalismus, eine liberale Grundeinstellung, die Voraussetzung für Erkenntnisgewinn und damit Wissenschaft ist und auf der Ebene von Systemen, auf der Liberalismus ein Ordnungsprinzip und die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen mit liberaler Grundeinstellung wissenschaftlich tätig sein können und ein kumulativer Erkenntnisprozess stattfinden kann. Der nun folgende post behandelt den ersten Teil: Liberalität als Voraussetuzung für Erkenntnisgewinn. In einem zweiten Teil, der demnächst folgen wird, behandeln wir dann Liberalismus als Ordnungsprinzip, das einen kumulativen Erkenntnisprozess erst ermöglicht.

Teil 1:

Die Objektivität des Wissenschaftlers und seine liberale Grundhaltung

Es gibt immer einmal wieder einen Kommentatoren, der sich daran stört, dass die Artikel, die unter der Überschrift “kritische Wissenschaft” stehen, eine Meinungsäußerung oder Bewertung  enthalten. Die entsprechenden Kommentatoren scheinen zu meinen, als kritischer Wissenschaftler habe man sich auf die Beschreibung von Fakten und deren Erklärung zu beschränken und müsse sich aller Werturteile enthalten.

Richtig ist, dass Wissenschaftler sich zunächst um eine möglichst objektive und neutrale Bestandsaufnahme von Fakten und Zusammenhängen bemühen oder zumindest bemühen sollen. Dabei soll „objektiv“ und „neutral“ bedeuten, dass ein Wissenschaftler bei der Beschreibung eines Phänomens oder einer Sache nach bestem Wissen und Gewissen vorgeht, also nicht bewusst Dinge auslässt, Widersprüchliches herunterspielt, Positionen, die er persönlich nicht mag, ignoriert oder diskreditiert und dass er bei der Darstellung möglichst wertfrei formuliert.

Dies bedeutet aber nicht, dass ein Wissenschaftler sich jeder Einschätzung oder Bewertung des Phänomens oder der Sache enthalten muss. Er sollte dabei aber zwei Regeln folgen:

  1. Die Einschätzung oder Bewertung des Wissenschaftlers soll er als solche klar erkennbar machen, also mit sprachlichen oder optischen Mitteln von der Beschreibung absetzen unterscheiden, damit ersichtlich wird, was die Fakten sind, die er darstellt (oder was er für die Fakten hält), und was seine Interpretation oder Bewertung der Fakten ist;
  2. er soll nachvollziehbar machen, wie er zu seiner Einschätzung oder Bewertung kommt; anders gesagt: er soll deutlich machen, wie sich seine Bewertung als Schlussfolgerung aus den beschriebenen Fakten und seinen Prämissen (Vorannahmen), die er z.B. durch Formulierungen wie „wenn man davon ausgeht, dass…“ o.ä. erkennbar machen soll, ergibt. Nur dann ist es möglich zu prüfen, ob die Schlussfolgerung richtig ist oder unter welchen Bedingungen sie richtig ist und unter welchen nicht. Und vor allem ist nur dann gewährleistet, dass die Einschätzung oder Bewertung eines Wissenschaftlers nicht das Ergebnis seiner subjektiven (vielleicht irrationalen) Vorlieben ist und nicht schon seine Beschreibung durch seine persönliche (unbegründete) Meinung „gefärbt“ ist.

Ganz einfach gesagt: eine vernünftige Einschätzung oder Bewertung muss das Ergebnis einer möglichst neutral gehaltenen Bestandsaufnahme sein, nicht umgekehrt: eine Beschreibung darf nicht Ergebnis einer (vorgefassten oder unbegründeten) Einschätzung, Bewertung oder Meinung sein.

Oder:

„Analysts do not achieve objective analysis by avoiding preconceptions; that would be ignorance or self-delusion. Objectivity is achieved by making basic assumptions and reasoning as explicit as possible so that they can be challenged by others and analysts can, themselves, examine their validity” (Heuer 1999: 10)

Zu vernünftigen Einschätzungen kommt man umso einfacher, je eher man kritisch denkt oder denken kann, also von ideologischen „Scheuklappen“ und Berührungsängsten mit anders Denkenden frei ist, wenn man sich psychologisch also leisten kann, ein Freidenker zu sein. Wer angstbesetzt ist oder sich mit bestimmten sozialen Gruppen oder Gruppierungen identifiziert, um „dazuzugehören“, sich bestimmten Interessengruppen oder Parteien verpflichtet fühlt, unabhängig davon, wie gut die Position, die sie gerade vertreten, durch die Fakten (und bestimmte Prämissen) begründet ist und  wie sie sich zu anderen von ihnen vertretenen Positionen verhält, kann nicht frei denken, sondern bewegt sich in seinem Denken immer schon in einem Rahmen, der durch seine Identifikation mit diesen Gruppierungen oder Parteien gesetzt wird. Kritisches Denken kann aber nicht auf Sympathien und Antipathien beruhen, denn sie bewirken genau das, was oben schon bemerkt wurde, nämlich dass man nicht mehr objektiv und neutral beschreiben kann oder will, sondern die Beschreibung schon durch vorgefasste Meinungen gefärbt und daher zur Aufklärung über Verhältnisse und Konsequenzen von Handlungen ungeeignet ist.

Als ein kognitiver Stil hängt kritisches Denkens mit einer liberalen Grundhaltung zusammen. Mit einer liberalen Grundhaltung meinen wir eine Offenheit für (neue) Erfahrungen,  wie sie in der Psychologie als einer der fünf grundlegenden Persönlichkeitsfaktoren (der so genannten „Big Five“) beschrieben ist: „Openness to Experience is characterized by such attributes as openmindedness, active imagination, preference for variety, and independence of judgment” (Zhang 2002: 447), und „… people who are high on the legislative, judicical, and liberal thinking styles also tend to be open-minded, imaginative, and perceptive“ (Zhang 2002: 453). Jemand mit einer liberalen Grundhaltung lässt sich auch negativ bestimmen: es ist jemand, der undogmatisch ist und sich nicht mehr oder weniger fraglos Autoritäten unterwirft (Peterson, Smirles & Wentworth 1997) (was sich wiederum im kritischen Denkstil niederschlägt, der ein argumentum ad auctoritatem als Fehlschluss erkennt).[1]

Für den in diesem Sinn liberalen Wissenschaftler gibt es aus unserer Sicht nicht nur keine Verpflichtung, sich aller Bewertungen zu enthalten, sondern sogar eine Verpflichtung, sich im öffentlichen Diskurs einzubringen: erstens ist er es dem Steuerzahler zumindest schuldig, dass er sein spezielles (Fakten-/)Wissen über bestimmte Fragen oder einen bestimmten Bereich bereitstellt, und zweitens meinen wir, dass es eine (moralische) Verpflichtung von Wissenschaftlern gibt, darauf hinzuweisen, wenn sich bestimmte Einschätzungen oder Bewertungen als Schlussfolgerungen aus diesem Wissen und aus bestimmten Prämissen ergeben. Allerdings muss jeder selbst entscheiden, ob er diese Prämissen teilt. Wissenschaftlern kommt also eine Aufklärungsfunktion zu, aber nicht unbedingt eine Weisungsfunktion. Zum Handeln oder zum Unterlassen anweisen kann unserer Auffassung nach nur das eigene Gewissen.

Insofern stehen wir in der Tradition von Max Weber, der ebenfalls der Ansicht ist, Wissenschaft müsse die Konsequenzen aufzeigen, die mit der praktischen Umsetzung bestimmter Erkenntnisse und Überzeugungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit verbunden sind:

Max Weber

“… man kann zu dem Wertproblem, um das es sich jeweils handelt …, praktisch die und die verschiedene Stellung einnehmen. WENN man die und die Stellung einnimmt, so muss man nach den Erfahrungen der Wissenschaft die und die MITTEL anwenden, um sie praktisch zur Durchführung zu bringen. Diese Mittel sind nun vielleicht schon an sich solche, die Sie ablehnen zu müssen glauben. Dann muss man zwischen dem Zweck und den unvermeidlichen Mitteln wählen. … Der Lehrer … [bzw. Wissenschaftler; Weber meint hier den Studenten lehrenden Universitätsdozenten] kann Ihnen ferner natürlich sagen: wenn Sie den und den Zweck wollen, dann müssen Sie die und die Nebenerfolge, die dann erfahrungsgemäß eintreten, mit in Kauf nehmen. … Indessen sind das alles noch Probleme, wie sie für jeden Techniker auch entstehen können, der ja auch in zahlreichen Fällen nach dem Prinzip des kleineres Übels oder des relativ Besten sich entscheiden muss. Nur dass für ihn ein, die Hauptsache, gegeben zu sein pflegt: der ZWECK. Aber eben dies ist nun für uns, sobald es sich um wirklich ‘letzte’ Probleme handelt, NICHT der Fall. Und damit erst gelangen wir zu der letzten Leistung, welche die Wissenschaft als solche im Dienste der Klarheit vollbringen kann, und zugleich zu ihren Grenzen: wir können – und sollen – Ihnen auch sagen: die und die praktische Stellungnahme lässt sich mit innerer Konsequenz und also: Ehrlichkeit ihrem SINN nach ableiten aus der und der letzten weltanschauungsmäßigen Grundposition – es kann sein, aus nur einer, oder es können vielleicht verschiedene sein-, aber aus den und den anderen nicht. Ihr dient, bildlich geredet, diesem Gott UND KRÄNKT JENEN ANDEREN, wenn Ihr Euch für diese Stellungnahme entschließt. Denn Ihr kommt notwendig zu diesen und diesen letzten inneren sinnhaften KONSEQUENZEN, wenn Ihr Euch treu bleibt. … Ich bin auch hier versucht, …, zu sagen: er [der Lehrer bzw. Wissenschaftler] stehe im Dienst ‘sittlicher’ Mächte: der Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen, und ich glaube, er wird dieser Leistung um so eher fähig sein, je gewissenhafter er es vermeidet, seinerseits dem Zuhörer eine Stellungnahme aufoktroyieren oder ansuggerieren zu wollen (Weber 1994[1919]: 19/20; Hervorhebungen im Original).”

Wir sind also dem Liberalismus und dem ihm zugrunde liegenden Menschenbild der Aufklärung verhaftet, d.h. wir gehen davon aus, dass jeder Mensch vernunftbegabt ist und dass es zu seinem Besten und dem seiner Mitmenschen ist, wenn er sich von seiner Vernunft leiten lässt und mit anderen Menschen den vernünftigen (!) Austausch sucht (wenn er nicht vernünftig erfolgt, dann unterbleibt er besser gänzlich). [2]

Das setzt allerdings voraus, dass das auch möglich ist, dass also keine ideologische begründeten Denkverbote oder Tabus existieren, wie sie z.B. durch politisch(!, also nicht unbedingt sachlich) korrekte Sprechweisen durchgesetzt werden sollen, dass keine Einschränkung des Rechtes auf freie Rede und des Zugangs zu Informationen, also keine Zensur, herrscht.

JS Mill of Liberty

Wer also z.B. freie Rede für Herrn Sarrazin und für Frau Reding fordert, ist nicht „rechts“ oder „links“, sondern gibt einfach nur seiner liberalen Grundhaltung Ausdruck. Es ist allerdings kaum verwunderlich, wenn Herr Sarrazin einem liberalen Menschen vorwerfen würde, „links“ zu sein, wenn er Frau Reding reden lassen bzw. zuhören will, und Frau Redding demselben Menschen vorwerfen würde, „rechts“ zu sein, wenn er Herrn Sarrazin reden lassen will bzw. zuhören will. Und vielleicht ist das der Grund dafür, warum eine liberale Grundhaltung für einige Menschen schwierig einzunehmen ist: eine liberale Grundhaltung läuft grundsätzlich Gefahr, von allen anderen weltanschaulichen Lagern als der Feind“ identifiziert und bekämpft zu werden. Sie ist aber die einzige, die persönliche Integrität ermöglicht, und sie ist darüber hinaus die einzige, die mittel- und langfristig ein friedliches Zusammenleben von Menschen gewährleisten kann. Für jemanden mit einer liberalen Grundhaltung sind Einordnungen von Positionen als „links“ oder „rechts“ mehr oder weniger sinnlos, weil jede Entscheidungs- und Bewertungsfrage in ihrem eigenen Recht vor dem Hintergrund der beobachtbaren Fakten und bestimmter anzugebender Prämissen zu beantworten ist und nicht in Abhängigkeit von bestimmten weltanschaulichen Dogmen.

Aber ist es nicht auch ein weltanschauliches Dogma, wenn man – wie wir – postuliert, dass Wissenschaftler kritisch Denken und eine liberale Grundhaltung einnehmen sollen?

Wir beantworten diese Frage negativ: nein, es ist kein Dogma. Wir machen zwar eine normative oder Soll-Aussage – wie gesagt: Liberalismus hat nichts mit Beliebigkeit zu tun –, aber wir bemühen uns darum, mitzuteilen, welche Prämissen wir zugrunde legen (wie unser Bild vom Menschen als vernunftbegabtem Wesen) bzw. warum wir sie formulieren (z.B. weil wir denken, dass vom Steuerzahlerzahlen finanzierte Wissenschaftler dem Steuerzahler im Zuge des Reziprozitätsgebotes etwas für ihn Nützliches zurückgeben sollte). Damit stellen wir eine Basis bereits, auf der man sich mit unserer normativen Aussage auseinandersetzen und ihr ggf. begründet (!) widersprechen kann.


[1] Denkstile und Persönlichkeitsfaktoren hängen also miteinander zusammen, fallen aber nicht zusammen, d.h. das eine determiniert  das andere nicht vollständig. Auch dann, wenn man sich nicht schon durch eine liberale Grundhaltung (wie oben beschrieben) auszeichnet, kann man bewusst einüben, die Dinge aus einer anderen oder mehreren anderen Perspektiven zu sehen; entsprechende Techniken wie „Des Teufels Advokat“ oder „Die Kristallkugel“ stehen zur Verfügung (einen sehr kurzen Überblick hierzu bietet Heuer 1999: 71-73). Wichtig ist allerdings, dass die hierdurch gewonnene Offenheit nicht dazu führt, sich Bewertungen gänzlich zu enthalten oder sich in Beliebigkeit aufzulösen. Die gewonnene Offenheit soll lediglich dazu führen, dass man sich seiner eigenen Prämissen und der Legitimität anderer Prämissen und der möglichen Existenz und Zulässigkeit anderer Erklärungen für die Dinge bewusst wird und dass man – wie oben gesagt – durch Schlussfolgerungen hieraus und aus der  Kenntnis der Fakten zu seinen Bewertungen kommt.
[2] Kritiker der Aufklärung bzw. dieser Überzeugungen bezeichnen sie gerne als „Rationalismus“, den sie teilweise als „kalt“ etikettieren, um ihm die  „warme“ Emotion entgegenzusetzen, was natürlich ein Wortspiel ist, dass an die Emotion, die mit „Menschlichkeit“ gleichgesetzt wird, appellieren soll, womit aber eben nur ausgesagt wird, dass derjenige, der solches vorbringt, sich dem Menschenbild der Aufklärung nicht verpflichtet fühlt. Er bringt also kein Argument gegen dieses Menschenbild vor und wüsste auch gar nicht, warum er das tun sollte, denn die Forderung eines Arguments wäre ja schon wieder eine rationalistische Forderung.
Literatur

Heuer, Richards J., Jr. (1999). Psychology of Intelligence Analysis. Washington, DC: Central Intelligence Agency, Center for the Study of Intelligence.

Peterson, Bill E., Smirles, Kimberly A. & Wentworth, Phyllis A. (1997). Generativity and Authoritarianism: Implications for Personality, Political Involvement, and Parenting. Journal of Personality and Social Pschology 72(5): 1202-1216.

Weber, Max (1994). Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf, 1919. Tübingen: Mohr Siebeck.

Zhang, Li-fang (2002). Measuring Thinking Styles  in Addition to Measuring Personality Traits? Personality and Individual Differences 33(3): 445-458.

Bildnachweis:
EarthisLand

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