Spontane Demonstrationen: Anzeichen politischen Wandels [Chemnitz, #c2608]

Politischer Protest in seinen konventionellen und vor allem unkonventionellen Formen hat Politikwissenschaftler in der Vergangenheit sehr interessiert. Samuel H. Barnes und Max Kaase haben mit ihrem Buch „Political Action“ 1979 eine Forschungstradition begründet, die selbst in Deutschland Fuß fassen und sich in die 1990er Jahre retten konnte.

Nun waren die unkonventionellen Formen politischen Protestes, die es in den 1970er, 1980er und selbst noch in den 1990er Jahren gab, weitgehend eine Angelegenheit der politischen Linken. Von der Friedensbewegung bis zu den Anfängen der Ökobewegung, von Protesten gegen die Startbahn West bis zum Kampf gegen Fluglärm reichte die Palette der unkonventionellen Beteiligungsformen.

Und dann, mit dem Jahr 2000, ist auch diese Forschungstradition abgerissen. Dafür sind eine Reihe von Gründen verantwortlich, darunter die immer seltener werdende Fähigkeit zu statistischer Analyse unter Sozialwissenschaftlern und die häufig große ideologische Distanz zwischen den heutigen Sozialwissenschaftlern und denen, die nach 2000 Formen der unkonventionellen politischen Beteiligung nutzen.

Man denke nur an Pegida, an Märsche besorgter Bürger, an Widerstand gegen Bildungspläne, nein, die Themen, die heute Gegenstand des politischen Protests sind, sind nicht dazu geeignet, einen Sozialwissenschaftler zur Wiederaufnahme der oben beschriebenen Tradition zu veranlassen. Die einzigen, die sich mit den neuen Formen unkonventionellen Protests befassen, sind akademische Beleidiger, die sich mit dem Versuch profilieren wollen, alles, was vom Mainstream abweicht, als rechts zu delegitimieren.

Dabei wäre es wichtig, sich mit den derzeitigen Formen unkonventioneller politischer Beteiligung zu beschäftigen.

Besonders, wenn es sich dabei um spontane Demonstrationen handelt, wie die, die am 26. August in Chemnitz stattgefunden hat.

Was ist so besonders an spontanen Demonstrationen?

Nun, stellen Sie sich vor, es ist Sonntag. Sie sitzen zuhause im Garten, in Chemnitz eher in der Datsche, genießen den Nachmittag, machen einen Spaziergang über den schönen Chemnitzer Friedhof, sitzen mit Bekannten am Schlossteich oder im Boot auf dem Schlossteich. Was soll sie aus ihrer Ruhe bringen? Was könnte Sie dazu bewegen, sich spontan am Karl-Marx-Schädel einzufinden, um dort an einer Demonstration teilzunehmen?

Damit man die Schwelle, die die normale Trägheit vom unkonventionellen politischen Protest trennt, nehmen kann, bedarf es schon einer ganzen Portion von: Unzufriedenheit und Spannung.

Unzufriedenheit und Spannung teilen beide eine Eigenschaft: Sie reichern sich an. Je länger eine Unzufriedenheit nicht abgebaut wird, desto größer wird sie. Je länger eine Spannung nicht entspannt wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich entlädt, dass ein träger Mensch, und da sind Chemnitzer keine Ausnahme, sich in Bewegung setzt und sagt: „Jetzt reicht es!“ „So kann es nicht weitergehen!“ „Wir müssen eine Grenze ziehen!“ (Wir reden hier nicht von arbeitslosen Linksaktivisten, deren einzige Beschäftigung, die ihr Leben mit Sinn erfüllen kann, darin besteht, gegen Rechte zu agitieren, wie auch immer. Wir reden von normalen Menschen.).

In der Regel braucht spontaner Protest einen Anlass.

In Chemnitz sind ein Ermordeter und zwei Verletzte der Anlass.

In der Regel braucht spontaner Protest nicht nur einen Anlass, sondern eine Vorgeschichte. Der Anlass ist der Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Die Vorgeschichte ist eine lose oder weniger lose Abfolge von Erfahrungen, die sich zu einer Erfahrungsgeschichte verdichtet hat und sich in Überzeugungen niederschlägt, z.B. der, in der eigenen Stadt seines Lebens nicht mehr sicher zu sein.

Eine Vorgeschichte mit Gewalt, die von Flüchtlingen ausgeht, insbesondere von Flüchtlingen mit Messern, gibt es nicht nur in Chemnitz, es gibt sie bundesweit. Ob der Anteil der gewalttätigen Flüchtlinge größer oder kleiner als der Anteil der gewalttätigen Deutschen ist, ob er gleichgroß ist, das spielt keine Rolle, wichtig ist nur, dass es eine Wahrnehmung der Unsicherheit in Bezug auf Flüchtlinge gibt, die sich mit der Überzeugung verbindet, die eigene Gesellschaft, Stadt, Umgebung sei unsicherer geworden.

Wenn Vorgeschichte und Anlass zu spontaner Demonstration werden, dann sollten Politdarsteller eigentlich besonderes sensibilisiert sein, dann sollten sie versuchen, die Situation zu entschärfen, nicht zu verschärfen, z.B. dadurch, dass sie alle, die protestiert haben, über einen Kamm scheren, sie zu Rechten erklären, kriminalisieren und mit keinem Wort auf den Anlass, der die Protestierer nun einmal bewegt, eingehen, so als gäbe es den Toten und die Verletzten, die diese Menschen in Chemnitz bewegen, gar nicht.

Beides, die Ignoranz gegenüber dem Anlass und der Versuch, die politischen Protestierer zu delegitimieren, sind sichere Mittel, um den Protest anwachsen zu lassen, denn man tritt den normalen Menschen, die an Mord und Gewalt Anstoß nehmen, wenn man ihr Anliegen delegitimiert, auf die Füße und man stößt ehrlich geschockte und besorgte Menschen vor dem Kopf, wenn man sie in Bausch und Bogen zu Rechten erklärt.

Das lässt sich niemand auf Dauer gefallen.

Und die Geschichte ist voller Beispiele dafür, wie kleine Gruppen, die spontan politischen Protest geäußert haben, trotz aller Repression zur Massenbewegung gewachsen sind, die am Ende die politische Klasse hinweggefegt hat.

Gerade in Deutschland sollten sich manche noch daran erinnern.

„Im Herbst 1989 fanden in der ehemaligen DDR spontane Massenproteste statt, die zur Ablösung des SED-Regimes führten“, so schreibt Karl-Dieter Opp in der Einleitung zu seinem 1997 erschienenen Buch „Die enttäuschten Revolutionäre“. Auch die Montagsdemonstrationen in der DDR haben klein und spontan angefangen, in Leipzig, nach dem Montagsgebet. Die Teilnehmer konnten sich sicher darüber sein, vom Regime und seinen Medien des „Neuen Deutschland“ kriminalisiert, als Republikfeinde oder Spione der BRD bezeichnet zu werden, so wie sich heute Teilnehmer von Demonstrationen, die gegen die derzeitige politische Korrektheit gerichtet sind, sicher sein können, dass sie als Nazis und Rechtsextreme delegitimiert werden sollen.

„Bürger, die ihren Unmut öffentlich demonstrierten, mussten jedoch weiterhin damit rechnen, gewaltsam in die Schranken gewiesen zu werden und dies insbesondere nachdem das DDR-Regime die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung in China ausdrücklich gebilligt hatte“, so schreibt Leschke (1996: 88). Genutzt hat Repression nur selten. In der DDR wuchsen die Demonstrationen in die 100.000e und haben das Regime beseitigt.

Die DDR ist nur ein Beispiel.

Das, was als arabischer Frühling in die Geschichte eingegangen ist und mit Sicherheit nicht die Zustimmung von Hosni Mubarak gefunden hat, ist ein anderes Beispiel.

Spontane Demonstrationen tragen immer den Nukleus des politischen Umsturzes in sich. Ob es letztlich zum politischen Umsturz kommt, ist eine Frage, an deren Antwort eine Reihe von Variablen beteiligt sind: Die besonnene Reaktion der politischen Darsteller (eher nicht der Fall in Deutschland); die Fähigkeit der Protestierer, ihren spontanen Protest zu institutionalisieren und zu wiederholen, das Fortbestehen des Missstands, der über den Anlass letztlich die Ursache des spontanen Protestes ist …

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