Suizid ist männlich – Ursachen sind strukturell

“Mehr Tote durch Suizid als durch Verkehrsunfälle”, so hat die WELT einen Artikel überschrieben, der vor vier Tagen erschienen ist. Darin ist häufig die Rede von “Menschen” und jedes Mal, wenn in dem Artikel von “Menschen” die Rede ist, geht es darum zu erklären, warum sich jemand das Leben nimmt: “Menschen reagieren unterschiedlich… gestehen sich ihre psychischen Krankheiten nicht ein”, mit diesen und ähnlichen Aussagen wird Georg Fiedler vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm zitiert und mit diesen Aussagen macht Fiedler Suizid zu einer Angelegenheit, die ausschließlich individuelle Ursachen hat. Dieser Individualisierung des Selbstmords widerspricht, dass Selbstmord eine männliche Domäne ist: rund 75% aller Suizidtoten sind Männer. Eine Erklärung, die Anspruch erheben will, die Ursachen von Selbstmord anzugeben, muss dies berücksichtigen.

Eine solche Erklärung muss ferner berücksichtigen, dass der hohe Anteil männlicher Suizidtoter über alle Altersgruppen hinweg besteht, sie muss erklären, warum sich verheiratete Männer häufiger selbst umbringen als ledige Männer und sie muss erklären, warum seit dem Jahre 2006 die Anzahl der männlichen Suizidtoten stetig steigt, während die Anzahl der weiblichen Suizidopfer zurückgeht.

Bisher ist die Forschung von einer Erklärung, die auch nur annähernd in der Lage wäre, die drei genannten systematischen Variationen bei Suiziden zu erklären, weit entfernt. Es regiert die Individualisierung der Erklärungen, wie Frank Sommer und Lothar Weißbach in einem Beitrag zu “Ausgewählten Krankheiten bei Männern” im Ersten Männergesundheitsbericht (S.154) eindrucksvoll darstellen: Ursachen für Suizid sind: (1) Anomie, (2) soziale Desintegration, (3) Individualismus, (4) Scheidung, (5) Pensionierung, (6) Arbeitslosigkeit, (7) alleine leben, (8) geringes Einkommen, (9) Homosexualität, (10) Impulsivität/Aggressivität, (11) psychische Erkrankungen, (12) Alkoholabhängigkeit, (13) chronische Erkrankungen, (14) Nikotinkonsum, (15) genetische Disposition, (16) Volumenreduktion im präfrontalen Kortex oder (17) ein Suizid in der Familie. Diese Liste macht die Hilflosigkeit der Forschung , wenn es um die Erklärung von Suiziden geht, sehr deutlich, denn außer z.B. dem frühkindlichen Bettnässen und der nachlassenden Sehleistung in hohem Alter sind so ziemlich alle Faktoren vertreten, von denen man (kulturell) annehmen kann, dass sie einen Einfluss auf Suizid haben. Warum aber ein “Suizid in der Familie” Männer häufiger zum Suizid veranlassen soll als Frauen, denn Suizidtote sind zu 75% männlich, warum Nikotinkonsum bei Suizid nach Geschlecht differenziert, warum Impulsivität und Aggressivität vornehmlich bei Männern im Suizid münden oder warum Scheidung, Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen oder die Volumenreduktion im präfrontalen Kortex Männer dreimal so oft in den Selbstmord treibt als Frauen, für all diese Fragen sucht man vergeblich nach einer Erklärung.

Überhaupt ist das Fehlen von Forschung, die das Erklären männlicher Überrrepräsentation bei Suizidtoten zum Gegenstand hat, markant. Das Nationale Suizid Präventions Programm hat es bislang noch nicht geschafft, auch nur eine Veröffentlichung, die sich mit der männlichen Überrepräsentation unter den Suizidtoten beschäftigt, zu publizieren. Beim Bundesministerium für Gesundheit sucht man vergeblich nach der Studie, die sich mit diesem sozialen Faktum beschäftigt und beim BMFSFJ sucht man vergeblich nach irgend einer Veröffentlichung zum Thema Suizid. Männliche Suizidopfer sind keiner Forschung wert, ganz im Gegenteil zu Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, die nach Erkenntnissen von Armanda Heredia Montesinos, Zohra Bromand, Marion Christina Aichberger, Selver Temur-Erman, Rahsan Yesil, Michael Rapp, Andreas Heinz und Meryam Schouler-Ocak ein höheres Risiko der Selbsttötung haben als Frauen ohne Migrationshintergrund. Verglichen mit Männern haben beide Gruppen von Frauen, es sei nochmals betont, ein um 75% geringeres Risiko.

Forschung, die erklären will, warum sich Männer so viel häufiger selbsttöten als Frauen, muss nach Faktoren suchen, die das Verhalten von Männern anders beeinflussen als das Verhalten von Frauen. Ein Ansatz in diese Richtung findet sich an unerwarteter Stelle, im Gender Datenreport, in dem es heißt: “Dass die Suizidraten der Männer über denen von Frauen liegen, muss als Hinweis darauf gewertet werden, dass es mehr Männer als Frauen gibt, die sich in Lebenssituationen befinden, die ihnen ausweglos erscheinen”. Vor gut 120 Jahren hat Emile Durkheim seine Studie über Selbstmord vorgelegt und strukturelle, also gesellschaftliche Ursachen für Selbstmord ausgemacht. Unter den von ihm unterschiedenen vier Typen von Selbstmord ist mit dem fatalistischen Selbstmord eine Form des Selbstmords, die Aufschluss darüber zu geben vermag, warum sich Männer so viel häufiger selbsttöten als Frauen: Fatalistischer Selbstmord hat exzessive Regulationen zur Ursache. Individuen sehen keine Möglichkeit mehr, das eigene Leben zu bestimmen. Die exzessiven Eingriffe in ihre individuelle Selbstbestimmung und Lebensführung der Männer durch Gesetze, Verpflichtungen und Entrechtung unter dem Banner von Feminismus und Gleichberechtigung ausgesetzt sind, sind aus dieser Sicht eine, wenn nicht die Ursache, um die im Vergleich zu Frauen deutlich höheren Selbstmordraten von Männern und vor allem von verheirateten Männern zu erklären.

Wären die Verhältnisse umgekehrt und Frauen begingen so viel häufiger Selbstmord als Männer, die unterschiedlichen Kompetenzzentren für Gender Mainstreaming und Diversity stünden Schlange, um eine Förderung der so wichtigen Erforschung des gesellschaftlich so unhaltbaren Zustands hoher Selbstmordraten von Frauen zu erhalten, Sozialwissenschaftler würden sich in staatstragender Manier des Missstands annehmemn. und Ministerien würden bereitwillig finanzieren, was auch immer zu den Selbstmorden geforscht werden soll. Es begehen aber mehr Männer als Frauen einen Selbstmord. Entsprechend ist eine Erforschung der Ursachen keine Frage der Gleichheit und schon gar nicht dringend geboten.

Durkheim, Emile (1983). Der Selbstmord. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Armanda Heredia Montesinos, Zohra Bromand, Marion Christina Aichberger, Selver Temur-Erman, Rahsan Yesil, Michael Rapp, Andreas Heinz & Meryam Schouler-Ocak (2010). Suizid und suizidales Verhalten bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund. Zeitschrift für Psychiatrie und Psychotherapie 58(3): 173-197.

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