Eine IDW-Phantasie in EU-moll: Ich Fratzscher mir die Welt, wie sie mir gefällt

Wenn es darum geht, den Nutzen der Europäischen Union oder die Gefahren, Risiken eines Austritts aus der EU zu beschwören, dann stehen Phantasien derzeit hoch im Kurs. Marcel Fratzscher, von dem uns immer rätselhafter wird, wie er Chef des DIW in Berlin werden konnte, und bei dem wir fast ständig daran zweifeln, dass er tatsächlich ein Ökonomiestudium hinter sich gebracht hat, hat seine eigene Phantasie komponiert, eine in EU-moll, und sie geht so:

„Vor fünf Jahren hat kaum jemand einen Brexit für möglich gehalten. Denn Großbritannien hat stark von seiner EU-Mitgliedschaft profitiert. Diese hatte einen Zusammenbruch der britischen Industrie und den Niedergang der Landwirtschaft in den 70er- und 80er- Jahren verhindern können. Die City of London konnte sich nur durch die EU-Mitgliedschaft zu Europas einzigem globalen Finanzplatz entwickeln. Der größte Teil der Transaktionen in Euro-Finanzprodukten findet in London statt, obwohl die britische Regierung sich geweigert hat, den Euro im eigenen Land einzuführen. Und kaum ein Land hat wirtschaftlich so von der Zuwanderung aus der EU profitiert.

Trotz dieser vielen Vorteile konnte sich Großbritannien nie wirklich mit Europa identifizieren. Die britische Politik hat sich häufig opportunistisch verhalten, versucht, eine Extrawurst auszuhandeln und regelmäßig wichtige Reformen zu blockieren. Der Grund für dieses Verhalten hängt auch mit der Geschichte des Vereinigten Königreichs zusammen. Viele in Politik und Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin, das Land sei eine Weltmacht und brauche Europa für seinen Wohlstand und seine Zukunftssicherung nicht.“

Es sei einmal dahingestellt, ob das Vereinigte Königreich von der EU-Mitgliedschaft tatsächlich profitiert hat oder nicht. Normalerweise gehen Ökonomen davon aus, dass die Beseitigung von Handelsschranken dazu führt, dass sich Handel intensiviert, was sich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt und von manchen Ökonomen als Haupttriebkraft des wirtschaftlichen Wachstums angesehen wird (Gene M. Grossman und Elhanan Helpman zum Beispiel). Da mit der EU der Abbau von Handelsschranken zwischen den Mitgliedsstaaten einhergegangen ist, kann man davon ausgehen, dass das Vereinigte Königreich im innereuropäischen Handel profitiert hat.

Nun kennen die meisten Ökonomen (außer Fratzscher, so er denn einer ist) auch das Konzept der Opportunitätskosten, d.h. der Kosten, die entstehen, weil man eine andere Option gewählt hat. Die Europäische Union ist nicht nur seit Jahren dabei, Handelsbarrieren im Innern abzubauen, sie ist auch und fast noch intensiver dabei, Handelsbarrieren im Außenhandel aufzubauen. Das, was als Gemeinsame Agrarpolitik bezeichnet wird und Europäische Bauern auf Kosten von Europäischen Konsumenten vor Konkurrenz aus dem Rest der Welt (minus die ehemaligen Kolonien Frankreichs) schützt, ist die wohl höchste Barriere. Die vielen Zölle, die auf Waren aus China, nach wie vor Indien, die USA oder anderen Ländern erhoben werden, sind eine weitere Barriere. Geht man davon aus, dass ein Land wie das Vereinigte Königreich leicht Freihandelsabkommen mit den restlichen Ländern des Commonwealth (Indien, Pakistan, Australien, Kanada, Nigeria usw.) aushandeln könnte und wohl auch würde, gäbe es nicht den Bürokratenwasserkopf in Brüssel, der seit Jahrzehnten kein Handelsabkommen mit Indien zuwege bringt, dann stellt sich die Frage, ob die Nutzen, die dem Vereinigten Königreich dadurch entgehen, dass es von Brüssel dabei behindert wird, freien Handel mit Ländern u.a. des Commonwealth zu betreiben, nicht den Nutzen, der aus dem barrierefreien inner-Europäischen Handel entsteht, übersteigen, vielleicht sogar bei weitem übersteigen. Wir sind der Meinung, dass sie das tun und viele Briten, die wir kennen, auch.

Aber wir wollen Herrn Fratzscher nicht mit ökonomischen Modellen und Betrachtungen belasten. Er ist ein Mann der eher einfachen Phantasie: Die EU-Mitgliedschaft habe die britische Landwirtschaft gerettet und den Zusammenbruch der britischen Industrie verhindert, so fabuliert er. Nun, prüfen wir diese Konfabulation.

Rettung notleidender Industrien erfolgt gemeinhin, wenn sie aus dem Ausland erfolgen soll, über ausländische Direktinvestitionen (FDI, foreign direct investment).

Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung der FDI-Eingänge für das Vereinigte Königreich, die Schweiz und Europa. Wie man sieht, nehmen FDI-Inflows in Europa Mitte der 1980er Jahre Fahrt auf, im Vereinigten Königreich Mitte der 1990er Jahre. Wenn die EU-Mitgliedschaft die britische Wirtschaft und die britische Landwirtschaft gerettet haben will, dann hat sie sich sehr viel Zeit gelassen, denn das Vereinigte Königreich ist seit 1973 Mitglied in der EU.

In der nächsten Abbildung haben wir die Direktinvestitionen standardisiert, so dass sie zwischen dem UK, der Schweiz und Europa vergleichbar sind. Gemeinsame Daten sind ab 1983 in der Datenbank von UNCTAD zu finden, also haben wir die Daten auf 1983 standardisiert. Die Abbildung zeigt das prozentuale Wachstum der Direktinvestitionen immer verglichen mit 1983. Wie man sieht, entwickeln sich die Direktinvestitionen in Europa und im Vereinigten Königreich sehr gemächlich, während die Schweiz regelrecht abhebt, woraus man, wären wir mit Fratzschers Phantasie begabt, die Vorstellung gewinnen könnte, dass die Mitgliedschaft in der EU sich dämpfend auf die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs ausgewirkt hat, Kapital aus dem Ausland anzuziehen. Man hätte auf Basis des Rettungsszenarios, das Fratzscher seinen Lesern aufschwätzen will (es sind Leser der Süddeutschen, aber selbst die verdienen ab und an etwas Normalität, Korrektheit, wenn nicht Wahrheit), eine heftige Steigerung der FDI-Investitionen im UK erwartet.

Nun sind Aussagen, die mehrere Jahrzehnte überspannen, schon deshalb problematisch, weil in mehreren Jahrzehnten viel passieren kann. Wir sagen nur: BSE, Bovine Spongiform Encephalopathy, auch bekannt als „Mad Cow Disease“, ein erheblicher Einschnitt in die britische Landwirtschaft, die eine große Zahl von Farmern in die Bredouille gebracht hat. Viel wichtiger für das Vereinigte Königreich und die Quelle eines steigenden Wirtschaftswachstums, einer florierenden Wirtschaft, von Innovationen und vielem mehr, waren jedoch zwei Dinge: Die Privatisierungen durch Margaret Thatcher, die einen Wirtschaftsboom ausgelöst haben und: ERDÖL.

Die folgende Abbildung zeigt, wie sich die Einnahmen aus dem Nordsee-Erdöl als Anteil am Bruttosozialprodukt entwickelt haben. Sie zeigt, dass der Geldsegen aus der Erdölgewinnung zu dem Zeitpunkt einsetzt, zu dem das Vereinigte Königreich EU-Mitglied geworden ist. Den tatsächlichen Einnahmen aus der Gewinnung von Erdöl stehen also die Phantasien von Fratzscher gegenüber. Was ist wohl richtig?

Finanzplatz London.

Eigentlich sollte Fratzscher gegenüber seiner eigenen Behauptung stutzig werden, denn offenkundig floriert der Finanzplatz London gerade weil sich die britische Regierung nicht am Wahnsinn einer gemeinsamen Währung teilgenommen hat, dem ersten Freiversuch einer Optimum Currency Area, der alle Voraussetzungen, die Robert Mundell 1961 für das Gelingen eines solchen Wagnisses genannt hat, vermissen lässt. Die Gründe dafür, dass London an erster Stelle des weltweiten Handels in Kapital und Finanzdienstleistungen steht, finden sich im Wesentlichen in einer liberalen Geld- und Steuerpolitik. Die City of London Corporation hat die wichtigsten der Gründe für den Erfolg des Finanzplatzes London in einer Broschüre zusammengestellt, die so einfach gehalten ist, dass sie auch Fratzscher verstehen sollte.

Bleibt noch das Crescendo der Phantasie in EU-moll:

„Viele in Politik und Gesellschaft geben sich noch immer der Illusion hin, das Land sei eine Weltmacht und brauche Europa für seinen Wohlstand und seine Zukunftssicherung nicht.“

Zunächst: Das Vereinigte Königreich tritt aus der EU, nicht aus Europa aus, und niemand hat je behauptet, dass nach dem Austritt keinerlei wirtschaftliche Beziehungen mehr mit der EU unterhalten werden. Fratzscher versucht durch einen Trick, seinem falschen Argument Glaubwürdigkeit zu verleihen (bekannt als Strohmann-Argument: Man behauptet etwas, das niemand behauptet hat, und widerlegt es dann).
Was die Weltmachtphantasie angeht, Phantasie ist eher Fratzschers Terrain, wie gerade dargestellt. Wir auf der Insel verfügen zwar über eine schlagkräftige Truppe und vor allem: einsatzfähige Waffensysteme, darunter ein Flugzeugträger mit F35 Lightning einsatzfähig und ein zweiter in Bau, ganz zu schweigen von unseren Atom-U-Booten, aber wir sind im Gegensatz zu Fratzscher im 21. Jahrhundert angekommen, im Zeitalter von Soft oder Smart Power, wie es Joseph Nye genannt hat.

Gerade deshalb wirkt die EU so antiquiert. Diese europäische Institution voller Apparatschiks die eifersüchtig die eigene Scholle bewachen und verteidigen, um der eigenen Vorteile nicht verlustig zu gehen und lieber mit den USA einen ideologische Krieg führen, als dass sie die besten Handelsbedingungen für ihre Bevölkerung herausschlagen. Apparatschiks, denen mehr an der Abschottung eigener Märkte (auf Kosten der eigenen Konsumenten) liegt als daran, freien Handel mit der Welt zu betreiben. Seit 1993 gibt es regelmäßige Absichtsbekundungen darüber, einen engeren Handel mit Indien aufnehmen zu wollen, zuletzt wurden in den Jahren 2009 und 2012 Absichtsbekundungen abgegeben. Ein Handelsabkommen ist bislang nicht zu Stande gekommen, die Gespräche zwischen der EU und Indien gelten Insidern als hoch an rhetorischem Gehalt, aber substanzlos.

Die EU ist ein überkommener Monolith, an dem die Entwicklungen der Zeit vorbeigegangen sind. Demokratien (die britische Demokratie ist die älteste in Europa) wollen Vielfalt in dezentraler Entscheidungsgewalt keine Einheit im homogenen Zentralismus, kein Resultat bürokratischen Wildwuchses, keinen Anachronismus der Moderne, der – was Fratzscher tunlichst verschweigt – nicht nur in Reden der Brüssel-Gang zu einem Worldplayer aufgemotzt, sondern auch über Phantasien einer eigenen Armee zur Weltmacht entwickelt werden soll.

Die Zeiten für bürokratische Systeme mit Ambition zur Weltmacht sind aber seit Joseph Stalin vorbei.

Mundell, Robert A. (1961). A Theory of Optimum Currency Areas. American Economic Review 51(4): 657–665.


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