Demoskopen-Humbug: Wie Wählerwanderungen berechnet werden

Eine Reihe von Lesern, darunter Herr Pflüger, haben uns danach gefragt, wie die Wählerwanderungen, die an Wahlabenden dem staunenden Publikum präsentiert werden, zustande kommen.

“Ich habe selbst keine Ahnung von Soziologie und verstehe nichts von Umfragen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, bei euch ein wenig schlauer gemacht zu werden. Was mir anlässlich der Bayern- Wahl aufgestoßen ist, sind die vermeintlichen Wählerwanderungen. Ich finde diese Zahlen zutiefst unglaubwürdig. Für mich sieht es so aus, als seien die Wähler hauptsächlich von der SPD zu den Grünen und von der CSU zu den freien Wählern und der AfD gegangen. Jedenfalls ist das vordergründig plausibler als die von der Forschungsgruppe Wahlen gemeldeten Bewegungen. Wißt ihr, wie solche seltsamen Zahlen zustandekommen?”

Ja, wir wissen, wie die Zahlen zustande kommen.

Um Wählerwanderungen zu berechnen, benötigen wir Daten aus einer Wahlumfrage oder aus einer Exit-Poll-Befragung.
Egal, ob es sich um eine Exit-Poll-Befragung oder eine Wahlumfrage handelt, müssen darin Antworten auf die folgenden Fragen enthalten sein: 

(Wir spielen das hier am Beispiel von Exit-Poll-Befragungen, also auf Grundlage von Fragen, die Wählern am Wahltag, nach Verlassen des Wahllokals gestellt werden, durch):

  • Welche Partei haben Sie bei der heutigen Landtagswahl gewählt?
  • Haben Sie vor fünf Jahren bei der Landtagswahl in Bayern gewählt?
  • Wenn ja, welche Partei?

Die Fragen, in entsprechend modifizierter Form (als Sonntagsfrage), kann man auch in Vorwahlumfragen stellen. Die Vorgehensweise der Berechnung von Wählerwanderungen wird dadurch nicht berührt.

Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir haben 5000 Personen nach dem Verlassen eines bayerischen Wahllokals befragt.

Nehmen wir zudem an, dass es keine Antwortverweigerungen gibt.

Betrachten wir aus Gründen der Einfachheit nur CSU, Grüne und SPD.

Ein Vergleich der Wahlentscheidung bei der letzten Landtagswahl mit der Wahlentscheidung bei der aktuellen Landtagswahl zeigt Folgendes:

  • Quelle und Bestellung

    2000 Befragte geben an, bei der letzten Wahl CSU gewählt zu haben, 900 geben an, SPD gewählt zu haben, 500 sagen, sie hätten Grüne gewählt

  • 80% der aktuellen CSU Wähler habe auch 2013 CSU gewählt. Sie sind sogenannte Stammwähler.
  • 3% der ehemaligen CSU-Wähler (3% von 2000 = 60 Personen) haben dieses Mal Grüne gewählt.
  • 1% der ehemaligen CSU-Wähler (1% von 2000 = 20 Personen) haben dieses Mal SPD gewählt.
  • 3% der ehemaligen SPD-Wähler (3% von 900 = 27 Personen) sagen, sie hätte dieses Mal CSU gewählt.
  • 1% der ehemaligen Grüne-Wähler (1% von 500 = 5 Personen) sagen, sie hätten dieses Mal CSU gewählt.

Auf Grundlage der Angaben der Befragten, welche Partei sie bei der aktuellen Landtagswahl gewählt haben, kann unter Einrechnung der am Wahltag bekannten Wahlbeteiligung, die Anzahl der Wähler errechnet werden, die die CSU gewählt haben.

  • Ausgehend von 37,2% der Stimmen wären das rund 2.5 Millionen Wähler.
  • 37,2% von 5000 Befragten sind 1.860 Personen, die in unserer Befragung angegeben haben, sie hätten aktuell die CSU gewählt.

Wir wissen, dass es sich bei 27 Personen um ehemalige SPD-Wähler handelt, während 5 Personen ehemalige Grüne-Wähler sind.

  • Somit sind 1,5% der aktuellen CSU-Wähler (27 von 1860) ehemalige SPD-Wähler und 0,3% (5 von 1860) ehemalige Grüne Wähler.

Insgesamt haben 2,5 Millionen Bayern die CSU gewählt. 1,5% von 2,5 Millionen sind 37.500, 0,5% von 2,5 Millionen sind 12.500.

  • Demnach sind 37.500 Wähler von der SPD zur CSU gewandert und 12.500 von den Grünen zur CSU.

Um die Wählerwanderung in die andere Richtung zu betrachten, benötigen wir den Anteil der aktuellen SPD und Grüne Wähler. Im Datensatz haben 9,6% die SPD und 17,5% die Grünen gewählt. Das ergibt für die SPD 480 Wähler (9,6% von 5000), für die Grünen 875 Wähler (17,5% von 5000).

Wir wissen, dass 20 der aktuellen SPD Wähler von der CSU gekommen sind. 20 von 480 entspricht 4,2%. 60 der aktuellen Grüne-Wähler haben bei der letzten Landtagswahl CSU gewählt. 60 von 875 entspricht 6,9%.

Mit der selben Vorgehensweise wie oben für die CSU dargestellt, werden im nächsten Schritt die Gesamtzahlen der Wähler hochgerechnet. Für die Grünen erhalten wir 1,2 Millionen Wähler, für die SPD 700.000 Wähler.

  • 4,2% der SPD-Wähler in unserem Datensatz kommen von der CSU, das ergibt hochgerechnet 29.400 Wähler, die von der CSU zur SPD gewechselt sind. 6,9% der aktuellen Grüne Wähler stammen von der CSU, hochgerechnet ergibt sich eine Wanderung von 82.800 Wählern.

Somit sind in unserem Rechenbeispiel

  • 37.500 Wähler von der SPD zur CSU gewechselt, während 29.400 Wähler in die andere Richtung gewandert sind.
  • Der Saldo mit den Grünen sieht die CSU 12.500 Wähler von den Grünen gewinnen und 82.800 Wähler an die Grünen verlieren.
Wählerwanderung in Wales (Brecon Beacon Party)

Damit wäre gezeigt, wie Wählerwanderungen berechnet werden. Unser Beispiel basiert auf fiktiven Zahlen für die Befragten, die zwischen den drei Parteien im Vergleich der aktuellen und der letzten Landtagswahl gewandert sind. Um die Logik der Berechnung darzustellen, ist es nicht notwendig, die tatsächlichen Verteilungen zu kennen, die Forschungsgruppe Wahlen und Infratest Dimap natürlich auch nicht veröffentlichen. Ihre Wählerwanderung basiert zudem auf gewichteten Daten, so dass man nicht wirklich von den genannten Summen gewanderter Wähler auf den Anteil zurückrechnen kann, der in der Befragung einen entsprechenden Wechsel seiner Parteipräferenz angegeben hat. Wir finden hier einen weiteren Grund für die Gewichtung von Daten: Man macht es durch Gewichtung Außenstehenden weitgehend unmöglich, nachzuprüfen, ob hier das Ergebnis von Humbug, Manipulation oder korrekter Berechnung verbreitet wird.

Dessen ungeachtet zeigt die dargestellte Vorgehensweise, dass die Berechnung von Wählerwanderungen eine mathematische Spielerei ist, die weitgehend zu Unterhaltungs- und Manipulationszwecken unternommen wird. Valide sind die genannten Zahlen mit Sicherheit nicht. Abermals kann man dies nur behaupten und mit Argumenten begründen, aber nicht prüfen, denn Daten zu Wechselwählern gibt es in amtlichen Wahlstatistiken schlicht nicht. Meinungsforschungsinstitute können hier also berichten was sie wollen. Prüfen kann es letztlich niemand.

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