Cesare Lombroso und Leo Tolstoi – von Genie und Wahnsinn – Eine amüsante Geschichte aus vergangener Zeit

“.. ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend, die Brauen gefältet und stoßen zusammen, die Nase ist krumm oder stumpf, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr sehr oft henkelförmig abstehend…”

Das Zitat stammt von Cesare Lombroso, der von 1835 bis 1909 gelebt hat.

Wir haben die Leser auf unserem Telegram Kanal gefragt, welche Gruppe von Menschen Lombroso hier beschreibt.
Er beschreibt Diebe.

Die Beschreibung findet sich in der englischen Übersetzung von “L’uomo delinquente” [Criminal Man und wir haben sie ins Deutsche übertragen] und weist Lombroso als Vertreter der positivistischen Schule der Kriminologie aus, der physische Merkmale von Menschen als Indikatoren für ihre Inklination, sich kriminell zu verhalten oder nicht ansieht. Lombroso ist aus vielen Gründen ein sehr interessanter Mann. Er hat nicht nur den Begriff “Kriminologie” geprägt und die Kriminologie begründet, er hat auch die Psychiatrie als Fach an die Universität, in seinem Fall die Universität Turin gebracht. Zu seiner Professur in Kriminal-Anthropologie, die er ab 1906 an der Universität Turin inne hatte, hat Lombroso eine Professur in forensischer Medizin und Hygiene [ab 1878] sowie in Psychiatrie [ab 1896] an eben dieser Universität gesellt. Seine breite Ausbildung, er war Kriminologe, Forensischer Mediziner, Anthropologe und Arzt, hat ihm dies ermöglicht. Und seine Vortätigkeiten als Militärarzt, Direktor einer Irrenanstalt in Pesaro haben sicher ihren Teil zu dem beigetragen, was Lombroso der Nachwelt als sein intellektuelles Erbe hinterlassen hat. Darunter, neben L’uomo delinquente noch L’uomo di genio, in der englischen Übersetzung von Walter Scott als “The Man of Genius” betitelt, eine Übersetzung, die Lombroso Weltruhm verschafft hat.

Wir haben zu diesem sehr interesannten Mann eine kleine Episode aus seinem Leben gefunden, die Paolo Mozzarello vor einigen Jahren in Nature erzählt hat. Darin berichtet Mazzarello vom Zusammentreffen zweier Männer mit inkompatiblen Intellekten und ebensolchen Ansichten, die – dessen ungeachtet – für einander den Respekt aufgebracht haben, der notwendig war, um sich mit den Ansichten des jeweils anderen auseinanderzusetzen. Undenkbar in der heutigen Zeit der überwichtigen Hüter einer sich selbst-askribierten Wahrheit.

Wir haben die kleine Episode ins Deutsche übersetzt und hoffen, Sie haben daran ebenso viel Spaß wie wir ihn hatten.

Mazzarello, Paolo (2001). Lombroso and Tolstoy. Nature 409(6823): 983-983.

Cesare Lombroso

“Mehr als 7.000 Teilnehmer nahmen im August 1897 am zwölften Internationalen Medizinischen Kongress in Moskau teil. Unter den prominenten Wissenschaftlern war auch der italienische Anthropologe Cesare Lombroso. Er leitete u.a. eine Sitzung zum Thema Geisteskrankheiten.

Mit seiner Theorie, nach der Genie und Wahnsinn eng miteinander verbunden seien, hatte Lombroso Weltruhm erlangt. Ihm zufolge waren Genie und Wahnsinn zwei Seiten derselben psychobiologischen Realität etwa in der Weise, in der sich in einem nicht-euklidischen Raum die beiden Extreme berühren. Ein Genie war gleichzeitig ein Degenerierter, stand Beispiel für eine rückläufige Entwicklung, sein Wahnsinn war eine Form der biologischen Kompensation für seine übermäßige intellektuelle Entwicklung.

Mit dieser Regression, so Lombrosos Theorie, gingen eigene phänotypische Stigmata einher, darunter z.B. die Schädelasymmetrie von Perikles, Kant und Dante, die Submikrozephalie von Descartes, die Kleinwüchsigkeit von Horaz, Platon und Epikur. Eine Anekdote, die Lombroso gerne erzählte, betrifft den Gelehrten und Schutzpatron der Naturwissenschaftler, Albert den Große, der, wie Lombroso erzählte, “von so kleiner Statur” gewesen sei, dass ihn der Papst, als er ihm den Fuß küsste, bat, doch aufzustehen, da er dachte, er sei auf den Knien “.

Lombrosos Teilnahme am Moskauer Kongress gab ihm Anlass, diese Theorie über die Pathologie des Genies zu überprüfen. Warum nicht Leo Tolstoi, das höchste Genie der Weltliteratur, in seinem natürlichen Lebensraum treffen, um seine Züge genau zu untersuchen und seine Theorien zu prüfen, so dachte sich Lombroso, überprüfen, indem er Tolstois degenerative Aspekte mit eigenen Augen studierte? Wie ein Naturforscher, der sich auf eine Reise durch Südamerika begibt, um seine Evolutionstheorien zu überprüfen, beschloss Lombroso, sich in Tolstois Haus, bekannt als Jasnaja Poljana, einzufinden. Für Lombroso repräsentierte der ihm bis dato unbekannte Schriftsteller das “wahre verkappte Genie der Entfremdung, bei dem man sagen könnte, je kränker der Körper, desto erhabener die [geistigen] Produkte”. Er stellte sich Tolstoi als “schwachsinnig und degeneriert aussehend ” vor.

Indes, als Lombroso in Tolstois Haus ankam, sah er sich einem militärisch aussehenden alten Mann gegenüber, der mit seinen durchdringenden Augen und seinem strengen, knochigen Gesicht eher an einen guten, soliden Bauern erinnerte, der in der Armee gedient hatte, als an einen Denker. Körperlich war nichts Degeneriertes an Tolstoi. Seine Haltung war ruhig, korrekt und freundlich; sein “Wahnsinn” hatte durchaus Methode. Als das Gespräch jedoch eine Wendung nahm, die Tolstois Ideen entgegengesetzt war, erkannte Lombroso die “völlige Unmöglichkeit, mit ihm zu debattieren, ohne ihn zu verärgern “. Insbesondere stritten beide “Genies” über das kriminologische Thema, das Lombroso am meisten am Herzen lag: die Theorie des geborenen Delinquenten. Bestimmte Typen von Straftätern, so formuliert es Lomobrosos Theorie, werden schon früh in ihrer Entwicklung arretiert und gehören deshalb zu der “atavistischsten” Art von Menschen, die keine Hoffnung auf Besserung haben. Die Gesellschaft habe das Recht, sich gegen diese Art von Delinquenten zu schützen, argumentierte Lombroso, wenn notwendig gar mit Hilfe der Todesstrafe, so wie der Mensch sich gegen wilde Tiere wehrt, ohne ihnen vorzuwerfen, dass sie nicht als Lämmer geboren wurden.

Tolstoi blieb gegenüber diesen Argumenten taub. “Er zog seine schrecklichen Augenbrauen zusammen”, berichtet Lombroso, und warf bedrohliche Blicke aus seinen tiefen, durchdringenden Augen. Schließlich brach er aus: “Das ist alles Unsinn! Alle Strafen sind kriminell!” Menschen haben kein Recht, über ihre Mitmenschen zu richten, fuhr Tolstoi fort, und keine Form der Gewalt ist zulässig.

Leo Tolstoy

Für Lombroso war dies eine exzentrische Haltung, die er nicht verstehen konnte: das Produkt eines kranken und heftig leidenschaftlichen Geistes. Tolstoi notierte am Abend des 27. August 1897 in seinem Tagebuch: “Lombroso ist gekommen. Er ist ein genialer und beschränkter alter Mann”. (Mit 61 Jahren war Lombroso sieben Jahre jünger als Tolstoi.) Im Januar 1900 fügte er in Hinblick auf Lombrosos Theorien hinzu: “All dies ist ein absolutes Elend des Denkens, des Begriffs und der Sensibilität.”

Einige Monate nach diesem Besuch schrieb Tolstoi mit “Auferstehung” seinen letzten großen Roman, der bis dato als Entwurf vorgelegen hatte, neu. In die endgültige Fassung von “Auferstehung” fügte Tolstoi unter anderem eine ausführliche Beschreibung der in Russland Ende des 19. Jahrhunderts üblichen Rechtsverfahren und Strafen ein, die er nutzte, um die anthropologischen Theorien von Lombroso zu diskutieren und als unmoralisch abzulehnen. Straffälligkeit sei kein “Beweis für die Entartung einer kriminellen Art von Monstrosität, wie gewisse begriffsstutzige Wissenschaftler zum Vorteil der Regierung erklärten”, schrieb er. Als Fürst Dmitri Nechljudow (alias Tolstoi), die Hauptfigur in “Auferstehung”, in Lombrosos Büchern eine Antwort auf das Problem der kriminellen Abweichung sucht, stellt er fest, dass er umso enttäuschter ist, je mehr von und je aufmerksamer er Lombrosos Worte liest. Während eines Prozesses im Buch zitiert der Staatsanwalt Lombroso und die neuesten “wissenschaftlichen” Theorien über Vererbung, Evolution und den geborenen Verbrecher, um seine Anklage gegen eine fälschlicherweise des Mordes angeklagte Prostituierte zu stützen. “Er geht zu weit”, so lässt Tolstoi den Gerichtspräsidenten gegenüber einem Kollegen kommentieren. “Ein sehr dummer Kerl”, stimmt der Kollege zu.

Lombrosos Besuch bei Tolstoi war ein intellektueller Misserfolg. Das Genie und der Wahnsinn beider Männer konnten nicht miteinander in Kontakt treten. Sie waren schlicht zu unterschiedlich, um einen Punkt des gegenseitigen Verständnisses zu finden. Dessen ungeachtet hinterließ diese “wissenschaftliche” Episode einen bleibenden literarischen Eindruck in “Auferstehung” – dem letzten großen Roman Tolstois.

Wie man sieht, sind Genies selbst dann, wenn sie eine Theorie über Genie und Wahnsinn aufgestellt haben, immer die Ausnahme ihrer eigenen Regel und wie man zudem sieht, sind Lombroso wie Tolstoi, obschon sie immerhin miteinander reden, beide sehr gut in der Lage, ihre eigene Haltung vor Kritik zu immunisieren und das Gegenüber mit seinen Argumenten ins Leere laufen zu lassen.


 

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