Werteerziehung als Hilfe bei der Entwicklung von Urteilsvermögen, oder: Ein bisschen Aristoteles hat noch niemandem geschadet

Werteerziehung, Charakterbildung – wie auch immer man es nennen möchte – sie ist unweigerlicher Bestandteil von Erziehung. Wenn Eltern ihren Kindern sagen, sie sollen sie (oder jemand anderen) nicht anlügen, wenn sie ihnen sagen, dass sie sich beeilen sollen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen, wenn sie ihnen sagen, dass sie mit Dingen, die ihnen nicht gehören, sorgfältig umgehen sollen, dann stecken hinter all diesen Aussagen bestimmte Werte oder Normen, die die Eltern ihren Kindern vermitteln wollen. Werteerziehung oder Charakterbildung haben sich aber auch Erziehungs- und Bildungseinrichtungen auf die Fahnen geschrieben, sei es, weil sie auf den Grundlagen, die im Elternhaus gelegt wurden, aufbauen und das Erziehungsunternehmen sozusagen fortschreiben wollen, oder sei es, um korrigierend in die Erziehung einzugreifen, wenn die häusliche Erziehung als irgendwie mangelhaft angesehen oder erfahren wird.

In pluralistischen Gesellschaften, in denen ggf. – und in modernen Einwanderungsgesellschaften auf jeden Fall – viele und teilweise sehr verschiedene häusliche Erziehungspraktiken und elterliche Vorstellungen davon, welche Werte oder Normen Kindern vermittelt werden sollen, vertreten sind, hat Werteerziehung in und durch Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eine integrative Funktion: ein gewisses Maß an geteilten Normen – als Muss- oder Soll-Anweisungen hinsichtlich des sozialen Verhaltens – und an Bereitschaft, das eigene Handeln an diesen Normen auszurichten – ist für den Umgang miteinander unerlässlich, wenn man einigermaßen friedlich miteinander leben, auskommen und kooperieren will, soll oder muss, denn allem Miteinander-Tun liegen – meist unausgesprochene, weil für einigermaßen selbstverständlich gehaltene – Verhaltenserwartungen an sich selbst und andere Menschen zugrunde; so kann man schwerlich in einer Gruppe miteinander arbeiten, wenn einige in der Gruppe regelmäßig pünktlich zum verabredeten Termin erscheinen, andere aber regelmäßig nicht zum verabredeten Termin erscheinen, sondern irgendwann später oder gar nicht.

Obwohl im Erziehungs- und Bildungssystem generell von Werteerziehung (oder Ethik) die Rede ist, sind es vor allem Normen, die derzeit in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen in Deutschland an die Kinder bzw. Schüler vermittelt werden (sollen): Pünktlichkeit, Rücksichtnahme auf Andere, der pflegliche Umgang mit Dingen, die einem nicht gehören, Andere ausreden lassen, Verzicht auf physische Gewalt, dies alles sind Beispiele für Normen, die auf ein möglichst konfliktfreies Zusammenleben abzielen. Die “Online-Redakteurin” Bettina Kroker schreibt auf dem Betzold-Blog unter der Rubrik “Wissenswertes” über “Werteerziehung in der Grundschule” das Folgende:

Quelle: : Kroker 2022; https://www.betzold.de/blog/werteerziehung/

Kroker bezeichnet hier als “Werte”, was eigentlich Normen sind, nämlich “… von unserer Gesellschaft als wünschenswert angesehene Verhaltensweisen, die wichtig für unser Zusammenleben sind [oder vielleicht auch nicht wie z.B. ‘nachhaltiges Handeln’]”. Was diesbezüglich wichtig ist, ist weniger, dass mit Bezug auf “Werteerziehung” bei Frau Kroker – gelinde gesagt – Unklarheit darüber herrscht, was ein Wert – im Gegensatz zu einer Norm – ist, sondern vielmehr, dass es ein Beispiel für die Konzeptlosigkeit ist, die mit Bezug auf “Werteerziehung” in Deutschland herrscht.

Nicht nur hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Normen und Werten herrscht Unklarheit, sondern auch hinsichtlich der Zielsetzung von Werteerziehung oder Charakterbildung. So heißt es z.B. auf der Internetseite von “kita.de” in einem Artikel über “Werteerziehung”, der zuletzt am 07. Februar 2024 von einem “Nicolas M.” – also von jemandem, der anonym bleiben will oder soll – aktualisiert wurde:

“Das Ziel des Ethikunterrichtes ist, den Schülerrinnen und Schülern bei der Bildung einer eigenen Moral zu helfen, damit sie gesellschaftlich gültige Werte und Normen nachvollziehen und sich dementsprechend verhalten können” (orthographischer Fehler und Fettsetzung im Original).

Dies ist schwerlich anders zu verstehen denn als Absichtserklärung dahingehend, dass Schüler dazu gebracht werden sollen, “gesellschatlich gültige[r] Werte und Normen” zu verinnerlichen, auf dass sie sie “nachvollziehen” und sich “dementsprechend verhalten können”, aber darüber hinaus diese Werte und Normen als Ausdrücke “eigener Moral” empfinden sollen. Ungeachtet der Berechtigung oder Notwendigkeit dieses Unterfangens wirkt die gewählte Formulierung seltsam, die Erwähnung einer “eigene[n] Moral”, zu der ver”h[o]lfen” werden soll, als beiläufig eingefügter Ausdruck, der sicherstellen soll, dass die Einübung eines Verhaltens nach “gesellschaftlich gültigen Werte und Normen” nicht als Indoktrination aufgefasst wird. Aber wo verläuft die Grenze zwischen Indoktrination und einer Erziehung, die auf die Internalisierung von Normen hinarbeitet, die umstandslos für “gesellschaftlich gültig” erklärt werden? Was sind “gesellschaftlich gültige” Werte in pluralistischen, kulturell stark diversen Gesellschaften? Im bereits zitierten Artikel heißt es dann auch weiter:

“Als Eltern sollten sie klar kommunizieren, welche Werte sie als besonders wichtig erachten. Allerdings können diese von den ‘normalen’ gesellschaftlichen Vorstellungen abweichen, wie es in vielen Religionen der Fall ist. Daher ist es wichtig, dass hier möglichst verständnisvoll sind [?!?] – so leben Sie Ihren Kindern auch den Werte [?!?] wie Toleranz vor” (Satzbaufehler und Fettsetzung im Original).

Davon abgesehen, dass man darüber streiten könnte, ob Toleranz am besten als ein Wert, als eine Norm oder als ein Sammelbegriff gefasst wird, unter den psychologische Konstrukte wie Offenheit und generalisierte positive Einstellungen gegenüber Menschen aus anderen Kulturen gefasst werden, gibt es also anscheinend “normale” und nicht “normale” gesellschaftliche Wertvorstellungen, wobei Letztere durch Erstere, zu denen es gehört, “verständnisvoll” zu sein, bzw. zu denen “Toleranz” gehört, zu respektieren oder zu akzeptieren sind, anscheinend auch dann oder vielleicht sogar gerade dann, wenn zu Letzteren “Toleranz” nicht gehört.

Diese Beispiele mögen genügen, um das Problem, vor das sich Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gestellt sehen, zu illustrieren: sie sollen oder wollen Werteerziehung betreiben ohne klare Vorstellungen davon zu haben, was Werte (zumindest im Gegensatz zu Normen) sind, welche Werte warum vermittelt werden sollen, welchen anderen Werten diese Werte notwendigerweise widersprechen und wie mit diesen anderen Werten umzugehen ist, und ohne letztlich eine Antwort auf die Frage danach zu haben, in welchem Verhältnis die Entwicklung einer “eigene[n] Moral” bei Kindern und Jugendlichen zu den gesellschaftlichen Erfordernissen in Sachen Werteerziehung steht oder stehen sollte.

Werteerziehung, wie sie derzeit in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen stattfindet, ist also sehr weitgehend konzeptlos. Davon, in welchem Ausmaß sie konzeptlos ist, kann man sich schnell ein Bild machen, wenn man in seinem Browser nach “Werteerziehung” sucht. Fast alle Suchergebnisse verweisen auf ihre Wichtigkeit, ohne konkrete Werte zu nennen, oder, wenn sie genannt werden, ohne sie als verbindliche Werte zu benennen. Teilweise werden “Werte” – gewöhnlich tatsächlich: Normen – als Beispiele bzw. optional gekennzeichnet, oder es werden allerlei Dinge als “Werte” aufgelistet, die man aus nicht näher genannten Gründen irgendwie gut findet, wie z.B., dass Kinder die Zeit ihres Kindseins genießen sollen oder Kontakt mit anderen Kindern erleben sollen oder sich von erlebten Erfahrungen gefühlsmäßig befreien können sollen (Krenz 1999: 14-15).

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Im englischsprachigen Raum sieht die Lage mit Bezug auf Werteerziehung etwas besser aus insofern als man dort weniger ängstlich ist, von “character education” zu sprechen (wie dies u.a. im Vereinigten Königreich der Fall ist), die eine Werteerziehung, bei der es tatsächlich um Werte und nicht nur um Normen geht, unweigerlich ist, und dementsprechend von persönlichen Tugenden (“virtues”) statt (persönlichen oder gesellschaftlichen) Werten (“values”). Darüber hinaus ist dort zumindest teilweise das Bemühen zu erkennen, der Charakterbildung eine Heuristik zugrundezulegen wie z.B. das VIA Inventory of (Character) Strengths, das 24 Charakterstärken benennt, die ihrerseits in sechs Klassen von Stärken oder Tugenden unterteilt werden. Diese sechs Klassen von Tugenden sind “Weisheit”, “Mut”, “Menschlichkeit”, “Gerechtigkeit”, “Maßhalten” oder “Selbstbeherrschung” und “Transzendenz” (Peterson & Seligman 2004). Mit einer Heuristik wie dieser wird auf mehr abgezielt als bloß auf die Vermittlung von Normen bzw. die Internalisierung von “gesellschaftlich” erwünschten oder “normalen” Verhaltensweisen, nämlich auf die Kriterien, die wir zugrundelegen, wenn wir (auch: Verhaltens-)Entscheidungen treffen oder Beurteilungen vornehmen.

Tugenden sind das, was Normen überhaupt einen Sinn gibt: So kann man z.B. Pünktlichkeit als eine Norm dadurch begründen, dass man sich gerecht verhalten will, hier: gemäß der Reziprozitätsregel: man selbst erwartet von anderen, dass sie sich an Vereinbarungen, auch zeitliche Vereinbarungen, mehr oder weniger strikt halten, und die Reziprozitätsregel (als eine Gerechtigkeitsregel) besagt, dass man das, was man selbst erwartet oder fordert, auch von sich selbst erwartet und fordert. Die Norm, Rücksicht auf Andere zu nehmen, kann ebenfalls aus der Tugend der Gerechtigkeit erwachsen, etwa wie in “was Du nicht willst, was man Dir tut”, aber sie kann auch aus (Mit-/)Menschlichkeit erwachsen bzw. speziellen Facetten derselben, etwa aus Mitgefühl oder aus prinzpiellem Respekt vor anderen Menschen oder Lebenwesen und ihren Bedürfnissen. Eine Norm, die nicht durch eine Tugend – als anzustrebendes Leitbild oder als bereits erreichter Aspekt von Charakterstärke – motiviert ist, ist im wahrsten Sinn des Wortes wert(-)los. Sie mag als ein Akt des Gehorsams (nicht gegenüber der eigenen Vernunft oder angestrebten Tugenden, sondern gegenüber den Vorstellungen und Vorgaben anderer Menschen) in manchen Situationen immer noch einen praktischen Nutzen für das Zusammenleben mit Anderen haben, aber sie erwächst nicht aus einem Wert, der in der Person dessen angesiedelt ist, der die Norm befolgt. Rein normbefolgendes Verhalten, also rein konformes Verhalten, das nicht aus einer Tugend gespeist ist, kann demjenigen, der sich so verhält, keinen Selbstwert und (damit) keine Charakterstärke vermitteln (es sei denn, er würde Konformität zu einer Tugend erklären wollen, was sehr schnell durch lebenspraktische Beispiele als falsch erkennbar ist und er deshalb im ständigen Widerspruch mit sich selbst leben müsste).

Es mag dem Leser aufgefallen sein, dass die Mehrheit der Werte, die im VIA Inventory of (Character) Strengths enthalten sind, klassische Werte sind. Vergleicht man die Liste der Tugenden im VIA Inventory of (Character) Strengths mit den Tugenden (aretē, d.h. die Haupteigenschaft einer Sache in ihrem bestmöglichen Zustand, die diesen bestmöglichen Zustand sowohl ermöglicht als auch fördert; s. Bartlett & Collins 2011: xvi), die Aristoteles in seiner Nicomachischen Ethik benennt, dann stellt man fest, dass fünf der im VIA Inventory of (Character) Strengths genannten Tugenden auch von Aristoteles benannt werden: das sind Weisheit oder zeitgemäß vielleicht besser: Wissen – bei Aristoteles unterschieden in theoretische Weisheit (sophia) und praktische Weisheit (phronēsis) –, Mut (andreia), Maßhalten/Selbstbeherrschung (sōphrosunē), Menschlichkeit bzw. Sanftmut/Freundlichkeit (praotēs) und Gerechtigkeit (dikaiosunē), aufgefasst als der Gebrauch aller Tugenden in Beziehung zueinander. (Lediglich Transzendenz gilt Aristoteles nicht als eine Tugend.) Diese Tugenden könnte man als Grundwerte insofern auffassen als sie nicht weiter reduzierbar sind oder schwerlich als Dimensionen oder Facetten anderer Tugenden (oder Werte) aufgefasst werden können.

Seit etwa einem Jahrzehnt ist das Interesse an Aristoteles’ Nikomachischer Ethik im Zusammenhang mit Werteerziehung bzw. Charakterbildung im englischsprachigen Raum gewachsen, insbesondere an dem Konzept der Phronesis (Carr 2018; 2023; Darnell et al. 2022; De Caro et al. 2021; Han 2023; Huo et al. 2023; Jubilee Centre 2022; Kristjánsson 2015; 2020; Kristjánsson & Fowers 2022; Kristjánsson et al. 2021; Shotter & Tsoukas 2014). In das Englische wird der griechische Begriff “phronēsis” – der lateinischen Übersetzung des Begriffs in “prudentia” folgend – “oft mit “prudence” übersetzt, was wiederum mit “Besonnenheit”, “Umsicht”, “Umsichtigkeit” oder “Überlegtheit” ins Deutsche übersetzt werden kann. Aristoteles bescheibt – am Beginn von Kapitel 5 in Buch 6 der Nikomachischen Ethik – Phronesis als eine Eigenschaft oder genauer: Fähigkeit, die eng mit durch die Vernunft angeleitetem Handeln mit Bezug darauf, was gut (oder schlecht) für den Handelnden selbst und andere Menschen ist, verbunden ist.

Man könnte meinen, dass die oben genannten Tugenden (Mut, Maßhalten etc.) zu diesem Zweck ausreichend sind, aber tatsächlich sind sie das nach Aristoteles nicht, denn in seiner Konzeption kann jede Tugend im Prinzip in ein Laster umschlagen, wenn ein Zuviel oder Zuwenig dieser Tugend vorliegt – zu wenig Mut ist Feigheit, zu viel Mut ist Leichtsinnigkeit oder Draufgängertum – angesehen werden, und und es ist die Phronesis, die für eine angemessene “Übersetzung” der allgemeinen Tugend in einen konkreten Handlungszusammenhang notwendig ist. Eben weil, Phronesis mit der “Übersetzung” von (anderen) Tugenden in Handeln in einem spezifischen Kontext zu tun hat, gilt sie als praktische Weisheit – im Gegensatz zur theoretischen Weisheit, aber auch im Gegensatz zur bloßen Beherrschung von Techniken (technē). Und als solche ist “phronēsis” m.E. am ehesten das, was man im Deutschen “Urteilsvermögen” nennt.

Betrachtet man z.B. Toleranz, die heute Vielen als ein überaus wichtiger Wert gilt (bei Aristoteles unter den Tugenden aber nicht vorkommt; sie kann in andere Tugenden wie “Menschlichkeit”, “Sanftmut”, “Gerechtigkeit” heruntergebrochen werden), dann hat Toleranz nach Aristoteles ein negatives Gegenstück nicht nur in Intoleranz als Abwesenheit von Toleranz oder sagen wir: Unduldsamkeit, die das Zusammenleben von Menschen erschwert, wenn nicht unmöglich macht, sondern auch in einer übermäßigen Toleranz, einer zu großen Duldsamkeit gegenüber Handlungen oder Zuständen, denen gegenüber man nicht (so) duldsam sein sollte, weil eine diesbezüglich zu große Toleranz/Duldsamkeit zu negativen Folgen führt oder zu mehr negativen Folgen als positiven. Eine übermäßige Toleranz kann als Naivität oder als Einfältigkeit bezeichnet werden. Es gibt also ein Zuviel an Toleranz ebenso wie ein Zuwenig; beides stellt gegenüber dem richtigen Maß an Toleranz ein Laster dar. Es gibt aber keinen allgemeinen Maßstab, anhand dessen man entscheiden könnte, wann Toleranz im richtigen Maß vorhanden ist, Toleranz also Toleranz und nicht Unduldsamkeit oder Einfältigkeit ist. Im realen Leben muss in verschiedenen Kontexten immer wieder neu entschieden werden, was im jeweiligen Kontext (das richtige Maß von) Toleranz ist. Und dabei, dies zu entscheiden, hilft die Phronesis.

Phronesis liefert ihrerseits keine allgemeinen “Rezepte” dafür, wie man in einer Situation zu (/-m richtigen Maß von) Toleranz, Mut, Sanftmut … kommt. Vielmehr hilft sie zunächst dabei, eine Situation angemessen einzuschätzen, und auf der Basis dieser Einschätzung zu einer Entscheidung darüber zu kommen, wie in diesem Fall tugendhaft zu handeln ist bzw. so zu handeln ist, dass möglichst Gutes durch das Handeln in dieser Situation produziert wird. Eine angemessene Einschätzung einer Situation und die Abwägung von Arten und Weisen, wie man zu einem möglichst (und für möglichst Viele) positiven Ergebnis in einer Situation kommen kann, erfordert allgemeines (Zusammenhangs-/)Wissen, aber vor allem Erfahrungswissen:

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“Denn wenn jemand wissen sollte, dass leichtes Fleisch leicht verdaulich und gesund ist, aber nicht weiß, welche Arten [von Fleisch] leicht sind, wird er keine Gesundheit produzieren; vielmehr wird derjenige, der weiß, dass Geflügel leicht und gesund ist, zu einem größeren Grad Gesundheit produzieren. Phronesis ist mit dem Handeln verbunden. Infolgedessen sollte man Kenntnis von beiden haben, von Universalien [Allgemeinheiten] und Partikularismen [Besonderheiten], aber mehr von Letzteren” (Aristoteles, Buch 6, Kapitel 7, die letzten Zeilen des Kapitels; Übersetzung aus der englischen Übersetzung d.d.A.).

Es sollte vor diesem Hintergrund klar sein, dass und warum die Anleitung zum richtigen Handeln nicht in der quasi-automatischen Ausrichtung des Handelns an wissenschaftlichen Erkenntnissen bestehen kann und auch nicht (allein) in der logisch korrekten Schlussfolgerung aus gegebenen Prämissen. Phronesis zielt darauf ab, Handlungen zu produzieren, die das Gute für möglichst Viele befördern, und dabei können das Wissen um wissenschaftliche Erkenntnisse und die Fähigkeit, logisch korrekt zu schlussfolgern, helfen, aber, so Aristoteles (etwa in der Mittel von Kapitel 9 in Buch 6), ein gutes Handlungsergebnis kann auch in Unkenntnis wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Verletzung logisch korrekten Schlussfolgerns entstehen.

Man könnte also sagen, dass Phronesis in einer ernsthaften Prüfung und Abwägung möglichst vieler Aspekte von Handlungsmöglichkeiten in einer bestimmten Situation besteht, eine Art sogfältiger Erörterung darstellt. Sie ergibt nicht die eine richtige Lösung, aber sie macht eine Handlungsentscheidung zu einer (moralisch und angesichts des für den spezifischen Kontext relevanten Erfahrungswissens) gut begründeten, überlegten und gegen andere mögliche Entscheidungen abgewogenen Entscheidung, weshalb sie mit großer Wahrscheinlichkeit eine unter den möglichen guten oder richtigen Lösungen darstellt.

Ein geeignetes, wenn nicht das am besten geeignete, Instrument zur Schulung des Urteilsvermögens im Sinn der aristotelischen Phronesis mag das Dilemma sein (vgl.. Huo et al. 2023) eben weil das Dilemma als solches eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungsweisen erfordert, die gleichermaßen tugendhaft sein können, oder moderner ausgedrückt: egal, wie man sich entscheidet, in einer Dilemmasituation bleibt immer ein Wert, ein positives Gut, gegenüber einem anderen auf der Strecke.

Sagen sie z.B. Ihrem langjährigen Lebenspartner, was sein behandelnder Arzt Ihnen mit Bezug auf die mit der Krankheit des Lebenspartners verbundene kurze Lebenserwartung gesagt hat? In Ihrer Beziehung mag gegenseitige Aufrichtigkeit sehr wichtig sein, und vielleicht wissen Sie, dass Ihr Lebenspartner großen Wert auf Aufrichtigkeit legt oder darauf, der Realität ins Auge zu sehen, egal, wie negativ sie sein mag. Sie wissen aber vielleicht auch, dass die Nachricht für Ihren ohnehin leicht depressiven Lebenspartner einen schweren Schlag bedeuten wird. Was ist in dieser Situation das richtige Maß an Aufrichtigkeit, oder sagen wir mit Aristoteles: (jeweils) an Menschlichkeit, Sanftmut, Mut? Wie immer Sie sich entscheiden, ob Sie dem Lebenspartner die Diagnose über seine Lebenserwartung (zu diesem Zeitpunkt) mitteilen werden oder nicht, keine von beiden Entscheidungen ist per se die richtige oder die falsche Entscheidung. Eine “gute” Entscheidung dürften sie aber dann getroffen haben, wenn Sie sie sorgfältig getroffen haben, Ihre Entscheidung gut begründet ist und (daher) geeignet ist, für Ihren Lebenspartner und Ihre Beziehung zu ihm vergleichsweise mehr Gutes zu produzieren als eine andere mögliche Entscheidung.

Eine Werteerziehung oder Charakterbildung im Sinne von Phronesis könnte in und durch Unterricht anhand der Diskussion von Dilemmata versucht werden, aber sie würde sich im Gegensatz zu all denjenigen Komponenten von moralischer Erziehung oder Ethikunterricht befinden, die Schülern zu einer einzigen “richtigen” Antwort hinführen möchten, geschweige denn: der “richtigen” Antwort, oder vermitteln will, dass fast alles “richtig” sein kann, wenn es subjektiv als richtig empfunden wird. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem fast alle schulische Bildung als eine Erziehung auf bestimmte ideologisch oder politisch (derzeit) erwünschte Überzeugungen hin praktiziert wird (und teilweise: konzipiert ist), müsste Werteerziehung/Charakterbildung im Sinne von Phronesis wahrscheinlich von Eltern und ggf. Lehrern gegen ideologisch oder politisch motivierte Inhalte in Lehrplänene durchgesetzt werden.

Dabei wäre Werteerziehung oder Charakterbildung im Sinne von Phronesis gerade angesichts eines solchen gesellschaftlichen Klimas erforderlich. Beispielsweise hätte sie der Unterscheidung zwischen “Anti-Vaxxern” und “Impf-Trotteln” und der Aufhetzung der Einen gegen die Anderen von entsprechend geneigter Seite entgegenwirken können, weil sie lehrt, dass Menschen gleichermaßen gute und moralisch anerkennenswerte Gründe dafür haben können, zu unterschiedlichen Entscheidungen zu kommen und auf unterschiedliche Weise zu handeln.  Sie lehrt Grundrespekt vor der “eigenen Moral” anderer Leute, die weder in einer unhinterfragten Akzeptanz – dem Nachvollzug, dem Verständnis und der Übernahme, wie es bei kita.de (s.o.) heißt, -,  von als gesellschaftlich wünschenswert behaupteten Werten bestehen kann noch in einer rein subjektiven “Moral”, die hauptsächlich von Willkür oder Eigennutz geprägt ist.

Bereits die Erkenntnis, dass es “too much of a good thing” geben kann, ein Zuviel an einer an sich guten Sache, wie z.B. Mut oder Toleranz, ebenso wie ein Zuwenig davon, käme in einem gesellschaftlichen Klima, in dem alles Mögliche als entweder vollumfänglich “gut” oder vollumfänglich “schlecht” durchgesetzt werden soll, einer Art kognitiver Revolution gleich, nach der nichts mehr wie vorher sein könnte. Unsere (post-/)modernen westlichen Gesellschaften würden gut daran tun, wenn sie sich auf den moralischen Stand bringen könnten, der in der Antike erreicht worden ist, aber dies festzustellen, ist vermutlich ganz furchtbar konservativ oder – wie man derzeit gerne alles betitelt, was eine Kritik am status quo implizieren könnte: räääääächts. Dabei könnte man das auch als einen Bereich ansehen, in dem “building back better” sinnvoll, wenn nicht bitternotwendig, ist ….


Literatur

Bartlett, Robert C., & Collins, Susan D., 2011: A Note on Translation, S. xv-xviii in: Aristotle: Aristotle’s Nicomachean Ethics, Translated, With an Interpretive Essay, Notes, and Glossary by Robert C. Bartlett and Susan D. Collins. Chicago: The University of Chicago Press

Carr, David, 2023: The Practical Wisdom of Phronesis in the Education of Purported Virtuous Character. Educational Theory 73(2): 137-152

Carr, David, (Hrsg.), 2018: Cultivating Moral Character and Virtue in Professional Practice. London: Routledge.

Darnell, Catherine, Fowers, Blaine J., & Kristjánsson, Kristján, 2022: A Multifunction Approach to Assessing Aristotelian Phronesis (Practical Wisdom). Personality and Individual Differences 196:111684. https://doi.org/10.1016/j.paid.2022.111684

De Caro, Mario, Marraffa, Massimo, & Vaccarezza Maria Silvia, 2021: The Priority of Phronesis: How to Rescue Virtue Theory from its Crisis, S. 29-51 in: De Caro Mario, & Vaccarezza Maria Silvia (Hrsg.): Practical Wisdom: Philosophical and Psychological Perspectives. New York: Routledge

Han Hyemin, 2023: Considering the Purposes of Moral Education with Evidence in Neuroscience: Emphasis on Habituation of Virtues and Cultivation of Phronesis. Ethic Theory Moral Practice. https://doi.org/10.1007/s10677-023-10369-1

Huo, Yan, Cheng, Hongyan & Xie, Jin, 2023: Laying the Foundations of Phronesis (Practical Wisdom) through Moral Dilemma Discussions in Chinese Primary Schools. Journal of Moral Education. doi: 10.1080/03057240.2023.2291990

Jubilee Centre for Character & Virtues, 2022: A Framework for Character Education in Schools. Birmingham: The University of Birmingham. https://www.jubileecentre.ac.uk/wp-content/uploads/2023/07/Framework-for-Character-Education-2.pd

Krenz, Armin, 1999: Wie Kinder Werte erfahren: Wertevermittlung und Umgangskultur in der Elementarpädadogik. Freiburg: Herder

Kristjánsson, Kristján, 2015: Aristotelian Character Education. London: Routledge.

Kristjánsson, Kristján, 2020: Flourishing as the Aim of Education: A Neo-Aristotelian View. London: Routledge

Kristjánsson, Kristján, & Fowers, Blaine, 2022: Phronesis as a Moral Decathlon: Contesting the Redundancy Thesis about Phronesis. Philosophical Psychology 37(2):

Kristjánsson, Kristján, Fowers, Blaine, Darnell, Catherine, & Pollard, David, 2021: Phronesis (Practical Wisdom) as a Type of Contextual Integrative Thinking. Review of General Psychology 25(3): 239-257

Peterson, Christopher, & Seligman, Martin E.P., 2004: Character Strength and Virtues: A Handbook and Classification. New York: Oxford University Press.

Shotter, John, & Tsoukas, Haridimos, 2014: Performing phronesis: On the Way to Engaged Judgment. Management Learning 45(4): 377-396

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