Krank wegen Arbeitslosigkeit oder krank, um die Arbeit los zu sein?
Arbeitslose sind kränker als Erwerbstätige. Dieser Befund taucht regelmäßig in wissenschaftlichen Studien auf, und er findet sich auch im neusten Datenreport des Statistischen Bundesamts: Bei Arbeitslosen werden rund dreimal häufiger als bei Erwerbstätigen die unterschiedlichsten Krankheiten diagnostiziert (Abbildung). Der Befund, nach dem der Gesundheitszustand von Arbeitslosen schlechter ist als der von Erwerbstätigen wird seit den 1990er Jahren wieder und wieder für Deutschland produziert. So kommen Grobe und Schwartz (2003, S.20) zu dem Ergebnis, dass Arbeitslose im “Vergleich zu Berufstätigen jedoch deutlich häufiger … erhebliche gesundheitliche Einschränkungen” aufweisen. Paul und Moser kommen 2001 zu dem Ergebnis, dass “vor allem” Langzeitarbeitslose “insbesondere” unter psychischen Krankheiten leiden, und für Förster, Berth und Brähler (2004, S.38) steht fest, dass “vor allem” Langzeitarbeitlose unter einer deutlichen Beeinträchtigung ihres psychischen Befindens leiden. Der Reigen der Forschungsaussagen wiederholt sich im Jahre 2009: So sehen Paul und Moser (2009) oder Mohr (2010) Arbeitslosigkeit von einer schlechten Gesundheit begleitet. Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit, so ist in einer bemerkenswert differenzierten Studie des DGB zu lesen, deren Verfasser leider verschwiegen wird, werde vor allem dadurch moderiert, dass “Erwerbslosigkeit einen kausalen Einfluss auf gesundheitsbezogenes Verhalten” habe (DGB, 2010, S.3). Was damit gemeint ist, zeigt sich wiederum im neuesten Datenreport, denn Arbeitslose rauchen häufiger als Erwerbstätige, sie treiben weniger Sport aus Erwerbstätige und sie sind häufiger adipös als Erwerbstätige (Lampert et al., 2011, S.255).
Es mag vereinzelt zutreffen, dass mit Eintritt von Arbeitslosigkeit sich auch plötzlich Adipositas und Rauchen einstellen und dass mit Arbeitslosigkeit das Ende sportlicher Betätigung gekommen ist, doch in der Regel wird man davon ausgehen können, dass diejenigen, die rauchen und ihr Körpervolumen mehren nachdem sie arbeitslos geworden sind, dies auch vor der Arbeitslosigkeit bereits getan haben und dass diejenigen, die ihre Arbeitslosigkeit nicht mit Sport anfüllen, auch vor ihrer Arbeitslosigkeit keinen Sport betrieben haben. Da den drei genannten Faktoren, Adipositas, Rauchen und Sport treiben, ein Einfluss auf die Gesundheit zugeschrieben wird und der entsprechende Einfluss bei Arbeitslosen ausnahmslos negativ ist, stellt sich somit die Frage, ob Arbeitslosigkeit nicht vielmehr eine Folge gesundheitlicher und sonstiger Probleme ist und nicht die Ursache derselben. Ist es also so, dass gesundheitlich angeschlagene Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt in die Arbeitslosigkeit aussortiert werden, ist es so, dass Krankheit für manche Arbeitnehmer ein Fluchtmechanismus ist, der genutzt wird, um Arbeit los zu werden, oder ist es gar so, dass Arbeitslose ihre Arbeitslosigkeit durch Krankheit zu rechtfertigen trachten.
Die letzte der drei Annahmen kann relativ leicht plausibilisiert werden: Arbeitslose haben mehr Zeit zum Arzt zu gehen, gehen auch tatsächlich häufiger zu Arzt als Erwerbstätige, und entsprechend haben Ärzte mehr Gelegenheit, Erkrankungen festzustellen. Da es sozial akzeptiert ist, dass “Kranke” nicht arbeiten, können als krank diagnostizierte Arbeitslose mit der entsprechenden ärztlichen Bescheinigung den eigenen Status rechtfertigen.
Ist Krankheit das Mittel, um aus dem Beruf in die Arbeitslosigkeit zu flüchten? Diese Erklärung des Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit und Krankheit rekurriert auf strukturelle Variablen, die Arbeitnehmer in Deutschland an ihren erlernten Beruf ketten. Wer im erlernten Beruf nicht glücklich ist, hat zwei Möglichkeiten, seine Situation zu verändern: Er kann kündigen, auf Arbeitslosengeld erst einmal verzichten und sich auf der Suche nach einem passenderen Beruf durch die Arbeitsamtsbürokratie kämpfen (was dadurch erschwert wird, daß die Umschulung beim Arbeitsamt Moden zu folgen scheint, und z.B. vornehmlich Umschulungen zum Trockenbauer angeboten werden, was auch nicht jedermanns Sache ist), oder er kann sich selbständig machen, sofern er eine tragfähige Idee hat, was jedoch ebenfalls durch bürokratische Vorgaben und allerlei rechtliche Bedenken erschwert wird (nicht umsonst belegt Deutschland im Hinblick auf die Leichtigkeit, ein Unternehmen zu gründen bzw. sich selbständig zu machen, in den regelmäßigen “Doing Business”-Studien der Weltbank eher hintere Plätze unter den Industrienationen; World Bank, 2009, S.123). Krankheiten wie “Burn out” oder Rückenschmerzen eignen sich in dieser Situation, um auf sozial akzeptierte Weise aus seinem Beruf auszuscheiden ohne mit dem Dilemma konfrontiert zu sein, entweder beim Arbeitsamt die Umschulungstortur zu erleiden oder eine zur Selbständigkeit befähigende Idee entwickeln zu müssen. Soziale Sicherungssysteme haben zudem dazu beigetragen, dass “ohne Arbeit sein” keine wirtschaftliche Katastrophe darstellt oder gar Armut zur Folge hat.
Schließlich hat Hollederer bereits 2003 festgestellt, dass Selektionsprobleme, wenngleich nicht stark ausgeprägt, so doch auf dem Arbeitsmarkt dahingehend wirken, dass kranke Arbeitnehmer aussortiert werden (Hollederer, 2003, S.2). Wobei die geringe Effektstärke letztlich darauf zurückzuführen sein dürfte, dass arbeitsrechtliche Bestimmungen Arbeitgeber daran hindern, unproduktive, weil kranke Mitarbeiter zu entlassen.
Wie die Darstellung zeigt, wird die Behauptung, “Arbeitslosigkeit macht krank” der Wirklichkeit kaum gerecht. Wie zumeist, lässt sich die Wirklichkeit nicht auf einfache Formeln reduzieren, denn Arbeitslosigkeit schafft Gelegenheit zum Arztbesuch und erhöht somit die Entdeckungswahrscheinlichkeit für Krankheiten, was bedeutete, dass Erwerbstätige nicht gesünder sind als Arbeitslose,… lediglich seltener untersucht. Krankheit wiederum kann als Mittel genutzt werden, dem Berufsalltag zu entfliehen und sich in einen sozial akzeptierten Zustand der Arbeitslosigkeit aufgrund von Krankheit zu befördern, und Arbeitslosigkeit kann die Folge von Krankheit sein. Schließlich kann Arbeitslosigkeit auch krank machen, jedenfalls dann, wenn ein Arbeitsloser unter seiner Arbeitslosigkeit leidet, was – wie gezeigt – nicht unbedingt der Fall sein muss.
Leider ist die Forschung zum Thema Arbeitslosigkeit und Krankheit bislang weitgehend bei der Feststellung höherer Prävalenz von Krankheiten unter Arbeitslosen stehen geblieben. Wie so oft, ist deutschen Forschern die Frage nach dem WARUM entweder nicht eingefallen oder sie wurde auf der Basis ideologischer Vorlieben beantwortet, denn niemand ist gerne arbeitslos – oder etwa doch?
Literatur
DGB (2010). Arbeitsmarkt aktuell Nr. 9. (Ich habe auf die Seite der Pressemitteilung verlinkt, über die die Studie abrufbar ist und die das gewöhnliche Lamento, dass Arbeitslosigkeit krank mache, enthält, ein Lamento, das die Studie des DGB nicht stützt.)
Förster, Peter, Berth, Hendrik & Brähler, Elmar (2004). Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Ergebnisse der sächsischen Längsschnittstudie 17. Welle 2003. Berlin: Otto Brenner Stiftung.
Grobe, Thomas G. & Schwartz, Friedrich W. (2003). Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 13. Berlin: Robert-Koch-Institut.
Hollederer, Alfons (2003). Arbeitslos- Gesundheit los – chancenlos? IAB-Kurzbericht 4, 2003. Nürnberg: Bundesanstalt für Arbeit.
Lampert, Thomas, Kroll, Lars Eric, Kuntz, Benjamin & Ziese, Thomas (2011). Gesundheitliche Ungleichheit. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.). Datenreport 2011. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, S.247-259.
Mohr, Gisela (2010). Erwerbslosigkeit. In: Kleinbeck, Uwe & Schmidt, Klaus-Helmut. (Hrsg.). Enzyklopädie der Psychologie. Arbeitspsychologie. Göttingen: Hogrefe, S.471-520.
Paul, Karsten I. & Moser, Klaus (2009). Metaanalytische Moderatoranalyse zu den psychischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit – Ein Überblick. In: Hollederer, Alfons (Hrsg.). Gesundheit von Arbeitslosen fördern. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Frankfurt a.M.: Fachhochschulverlag, S.124-134.
Paul, Karsten I. & Moser, Klaus (2001). Negatives psychisches Befinden als Wirkung und Ursache von Arbeitslosigkeit: Ergebnisse einer Metaanalyse.In: Zempel, Jeannette, Bacher, Johann & Moser, Klaus (Hrsg.): Erwerbslosigkeit. Opladen: Leske und Budrich, S. 83-110 .
World Bank (2009). Doing Business 2010. Reforming Through Difficult Times. Washington: World Bank.
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Bitte so editieren:
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Langzeitarbeitslosigkeit, also schlechte Arbeitsmarktintegration, ist idR auf niedrige Qualifikation/Bildung zurückzuführen. Nun vermute ich, wer gegenüber seiner Entwicklung im Geistigen Nachlässigkeit walten läßt, wird es auch im Körperlichen tun. Ich halte die Korrelation zwischen Niedrigkeinkommen/Arbeitslosigkeit und schlechter Gesundheit durch die Lebeneinstellung, die dahiner steht herbeigeführt. Diese führt gewissermaßen im Hintergrund Regie. Man müsste die partielle Korrelation Krank zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit (also unter Konstanthaltung der Lebeneinstellung) berechnen. Diese ist meiner Einschätzung nach gering. Es mag den hochintelligenten Computer-Nerd geben, der bewegungsarm von Big Mac und Cola lebt. Und es mag die Sportskanone Schulversager geben. Beides eher aber nur im Ausnahmefall. IdR wird der Junk-food-Konsument auch geistig phlegmatisch sein. Und idR achten aktiv im Leben stehende Menschen auf ihr Gewicht, Alkoholkonsum, Rauchgewohnheiten etc. pp.
Dem kann ich nur zustimmen! Ich vermute, dass hier der sogenannte Wohlfahrtsstaat eine sehr unglückliche Rolle spielt, indem er es möglich macht, das, was Sie “Lebenseinstellung” genannt haben, zu leben, bzw. die entsprechenden Lebenseinstellungen unterstützt, hervorbringt und erst möglich macht, etwa in der Weise, wie das Samuel Smiles (1875 in Thrift) für Charity zum Ende des 19 Jhr. beschrieben hat: Warum soll man sich anstrengen, wenn man weiß, der Wohlfahrtsstaat ist da und finanziert die eigene “Lebenseinstellung”?
Ist es nicht auch so dass der “sogenannte Wohlfahrtsstaat”,
ein paar sehr merkwürdige Prioritäten dabei setzt, was Wohlfahrt ist? Ich assoziiere bei Wohlfahrt wohl immer als erstes Gesundheit so weit es geht sicherzustellen. Sicher Bekämpfung von existenzieller Armut gehört auch dazu, das wären aber in Deutschland in erster Linie Obdachlose.
Leider kann man nicht erwarten, dass alle Menschen in der Lage sind auf sich, d.h. ihren Geist und Körper ausreichend zu achten. Die frage ist wohl nur wie kann man die Anderen motivieren eben dieses zu tun.
“Die Frage ist wohl nur wie kann man die Anderen motivieren…”
Das ist nach meiner Ansicht auf keinen Fall, denn es kann nicht die Aufgabe von “anderen” sein, “andere” zu motivieren. Sowenig wie es die Aufgabe eines Wohlfahrtsstaates sein kann, Menschen davon freizustellen, für Ihren Lebensunterhalt zu sorgen bzw. ihnen die Möglichkeit zu geben, ein Auskommen dadurch zu schaffen, dass sie sich an die sozialen Dienste des Staates verkaufen. Wir alle sind träge und wenn man sich nicht motivieren kann, um etwas zu tun, dann ist das Letzte was man brauchen kann, ein wohlmeinender sozial aktivistischer Mensch, der einem auf die Schulter klopft und sagt, Du musst Dich auch nicht motivieren, denn Du hast ein Recht, in Hartz IV zu verbleiben und Dein Leben und Deine Person nicht zu entwickeln.
Also,
ich bin soweit deiner Meinung, dass Menschen die Arbeiten können um ihren Unterhalt zu verdienen, dies auch tun sollten. Nur habe ich meine Zweifel, dass ein guter Teil der Harz IV Empfänger Arbeit finden würde, selbst wenn sie wollten und sich bemühten. Bzw. dass der Verdienst der Arbeit für den eigenen Unterhalt ausreichen würde. In dem Sinne würde ein Wegfallen der Unterstützung nur zur noch weiteren Verelendung führen. Wenn man dieses aber vermeiden will, muss man dafür sorgen, dass Harz IV bzw ein besseres Sicherungssystem bestehen bleibt ohne zu teuer zu werden. So war mein “motivieren” zu verstehen. Zugegebener maßen sehen Sicherungssysteme, von denen ich glaube, dass sie nachhaltig funktionieren könnten, sehr anders aus als Harz IV.
Es wird nie wieder Vollbeschäftigung geben, durch die mit der digitalen Revolution einhergehende steigende Rationalisierung und Automatisierung wird die Arbeitslosigkeit in Zukunft immer deutlicher ansteigen.
Der Konkurrenzkampf um die verbleibenden Jobs wird härter und somit wird auch die Wahrscheinlichkeit steigen das Kranke Arbeitnehmer der Selektion schneller zum Opfer fallen werden usw.
Körperliche Krankheiten werden wohl kaum durch Arbeitslosigkeit hervorgerufen. Psychische aber schon, langzeitarbeitslosigkeit welche oftmals mit einem Verlust des Freundeskreises sowie dem Gefühl nicht mehr benötigt zu werden einhergeht führt in vielen Fällen zu Depressionen.
Hallo Piratenparteiler,
sehen Sie die Zukunft nicht etwas zu schwarz? Befürchtungen wie die Ihre gab es auch vor der digitalen Revolution. Sie wurden damals unter den Stichworten “Rationalisierung” und “Automatisierung” vertrieben. Bislang hat es Menschen immer ausgezeichnet, dass sie sich an veränderte Randbedingungen anpassen konnten, warum sollte das in Zukunft anders sein? Jede Veränderung bringt Chancen und Risiken, wo manche arbeitslos werden, finden andere eine neue Beschäftigung, machen sich selbständig usw. Problematisch ist Veränderung nur dann, wenn man sie als Anschlag auf die eigene Lebensweise ansieht und anstelle einer Anpassung und an die Stelle des Versuchs, sich die neuen Chancen zu nutze zu machen, das Selbstmitleid tritt.
Piratenparteiler, Du gehst von einem starren Angebot an Arbeitsplätzen aus. Das ist nur bei Zugrundelegung eines kurzen Betrachtungszeitraums eine realistische Annahme (Keynes). Langfristig organisiert sich aber der Wirtschaftsmechanismus um, sodass die freigesetzten Personen neue, andere Beschäftigungsmöglichkeiten finden (klassiche Sichtweise). Ein Überangebot an Arbeitskräften drückt die Löhne, dadurch werden Geschäftsmodelle profitabel, die es bislang nicht waren. Diese umzusetzen bedarf es aber wiederum Arbeitskräfte, die bei zunehmender Auflösung der Beschäftigungsreserve teuerer werden (steigende Löhne) usw. usf.