Tabus deutscher Sozialwissenschaften: Diebstahl durch Mitarbeiter

Die letzten Jahre, fast schon Jahrzehnte, haben eine Unmenge internationaler Regulierungsversuche von supra-nationalen Organisationen wie der OECD, der EU Kommission und von nationalen Regierungen gesehen, um Betrug durch Unternehmen, z.B. durch eine Manipulation der Bilanz, indem Schulden in eine Zweckgesellschaft transferiert werden, dann in der Konzernbilanz nicht auftaucht und entsprechend den so bilanzierten Konzern finanziell gesünder erscheinen lassen als er tatsächlich ist, zu verunmöglichen. Sogenannte Corporate Scandals waren häufig in der Presse, Worldcom, Enron, Merck gelten als Wahrzeichen für “Corporate Fraud” und ein Manager wie Nick Leeson (2000), der die alteingesessene Barings Bank auf dem Gewissen hat, ging als selbsternannter “Roque Trader” in die Sachliteratur-Geschichte ein. (Informationen zu den angesprochenen Corporate Scandals finden sich bei Forbes, Nick Leeson hat durch seine Spekulationsgeschäfte die Barings Bank letztlich in die Insolvenz getrieben, das Scheitern der Barings Bank kann mit der Insolvenz der deutschen Herstatt Bank im Juni 1974 verglichen werden).

Die Skandale und Insolvenzen haben in der öffentlichen Darstellung das bereits vorhandene Bild der “bösen Kapitalisten”, die in Unternehmen versammelt sitzen und um der eigenen Bereicherung Willen das Wohl aller anderen mit Füßen treten, weiter verstärkt. Die Finanzkrise in der Folge des US-amerikanischen Subprime Mortgage Krise hat dem Bild vom “bösen Kapitalisten” noch das Bild des “bösen Bankers” hinzugefügt. Ginge man davon aus, dass sich Geschichte wiederholt, dann müsste man nunmehr auf das Auftauchen des “internationalen jüdischen Finanzkapitals” warten, um die Analogie zur Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts abzurunden.

All die genannten Skandale und Geschichten über “böse Kapitalisten” führen mit schöner Regelmäßigkeit dazu, dass der Ruf nach staatlichen Regulierern laut wird: Bisher vorhandene Regeln wie sie z.B. für Banken gelten und im Basel-II-Akkord niedergelegt sind und die offensichtlich trotz ihrer Existenz keine Finanzkrise verhindern konnten, werden in aller Eile in den Basel-III-Akkord überführt, von dem nunmehr erwartet wird, dass er all die unvorhersehbaren Eventualitäten zu verhindern im Stande ist, an denen sein Vorgänger gescheitert ist. Bilanzierungsregelwerke wie die IFRS (International Financial Reporting Standards) und die IAS (International Accounting Standards) werden – obschon seit Jahren ein laufendes Projekt – abermals verschärft, Konsolidierungspflichten neu geregelt, Zweckgesellschaften neu reguliert und der Corporate Governances Codex der OECD bürdet Unternehmen weitere Anforderungen auf, die nunmehr unter dem Stichwort der “Compliance” subsumiert werden und dazu führen, dass eine neue Schar von Mitarbeitern eingestellt werden muss, deren Aufgabe darin besteht, die vielfältigen Regulationen aufzuarbeiten, auf Unternehmen zu übertragen und deren Einhaltung durch die Mitarbeiter von Unternehmen zu kontrollieren. All die damit verbundenen Kosten setzen auf Kosten auf, die Unternehmen bereits dadurch entstehen, dass Mitarbeiter von Unternehmen in der selben Weise Gelegenheiten nutzen, wie dies die im Aphorismus beinhalteten Diebe tun.

Ja, nicht nur die Leitung von Unternehmen, das Management, kann sich delinquent verhalten, auch Mitarbeiter. Was in der öffentlichen Schwarz-Weiß-Bearbeitung der Corporate Scandals meistens auf der Strecke bleibt und von Gewerkschaften geflissentlich nicht angesprochen wird, ist in einer kleinen Forschergemeinde seit Jahrzehnten bekannt, und hat vor allem durch die Arbeiten von Jerald Greenberg empirische Fundierung erhalten: Mitarbeiter beklauen ihr Unternehmen, und sie tun dies in geradezu endemischem Ausmaß. So schätzt die US-amerikanische Association of Certified Fraud Examiners in der neuen “Global Fraud Study” (ACFE, 2012), dass einem durchschnittlichen Unternehmen in einem Geschäftjahr ein Schaden von rund 5% des Umsatzes durch Diebstahl und Betrug durch Mitarbeiter entsteht. Hochgerechnet auf die Weltwirtschaft ergibt dies einen Schaden von rund 3.5 Billionen US-Dollar jährlich. Die Palette der Straftaten reicht vom Material-Diebstahl, über den Griff in die Kasse, den Transfer von Geldmitteln bis hin zur Abwicklung kompletter Transaktionen im Namen des Unternehmens, aber zum Nutzen der eigenen Tasche. Dickens et al. (1989) haben vor diesem Hintergrund und auf der Basis konkreter Unternehmensdaten bereits 1989 hochgerechnet, dass zwischen 5% und 30% der Insolvenzen in den USA durch Diebstahl und Betrug von Mitarbeitern verursacht sind. Es ist kaum notwendig darauf hinzuweisen, dass im Land der Deutschen, in dem Arbeitnehmer grundsätzlich und ausschließlich als die Opfer der Interressen böser Kapitalisten vorkommen, entsprechende Studien weitgehend unbekannt sind.

Besonders interessant an der Vielzahl US-amerikanischer und britischer Studien, die sich mit dem delinquenten Verhalten von Mitarbeitern beschäftigen, ist die Frage nach den Ursachen, der Motivation der entsprechenden Straftäter. Hier hat abermals Jerald Greenberg (1990, 1993, 1997, 2002; Greenberg & Scott, 1996) Vorarbeiten geleistet und die Delinquenz von Mitarbeitern als Ergebnis wahrgenommener unfairer Behandlung als Verstoß gegen das Equity-Prinzip erklärt. In einer Reihe von Studien, die er in US-amerikanischen Unternehmen durchführen konnte, kam Greenberg immer wieder zu der Erkenntnis, dass Mitarbeiter, die der Meinung waren, ihr Einsatz und ihre Bemühungen für das Unternehmen würden, verglichen mit dem Einsatz und den Anstrengungen anderer Mitarbeiter nicht in angemessener Weise entgolten, sich den aus ihrer Sicht fehlenden Teil ihrer Entlohnung ohne Wissen ihres Arbeitgebers und aus dessen Eigentum beschafft haben.

Eine Studie, die David Gill, Victoria Prowse und Michael Vlassopoulos (2012) an der University of Southampton und mit 641 Studenten durchgeführt haben, bestätigt den von Greenberg gefundenen Zusammenhang und fügt eine neue Nuance zur Erklärung hinzu, die Greenberg gegeben hat. Gill, Prowse und Vlassopoulos haben Studenten zum Arbeiten angehalten und die entsprechende Arbeit, die das Lösen von Aufgaben am Computer umfasst hat, mit einer Bezahlung verbunden. Je besser die Studenten ihre Aufgabe zu lösen im Stande waren, also je besser sie gerarbeitet haben, desto höher ihr Entgelt. Zum Ende des Experiments wurde den Studenten dann eine weitere Zahlung in Aussicht gestellt, deren Höhe sie selbst beeinflussen konnten, und zwar durch Mogeln. Wie sich herausgestellt hat, sind es vornehmlich männliche Studenten und in jedem Fall die produktivsten Studenten, die mogeln, ein Ergebnis, das sich den von Greenberg produzierten Ergebnissen einpasst, wie ein weiteres Puzzleteil um ein Gesamtbild zu ergeben: Offensichtlich haben Mitarbeiter in Unternehmen oder Studenten in entsprechenden experimentellen Settings eine höhere Wahrscheinlichkeit zu delinquentem Verhalten, zu mogeln, wenn sie viel Einsatz gezeigt haben und aufgrund dieses hohen Einsatzes der Ansicht sind, ihnen stünde mehr Entgelt zu als dem Mitarbeiter nebenan, von dem sie wissen, dass er weniger Einsatz gezeigt hat: “Being unfair to an unfair payment mechanism provides a moral justification for negativ reciprocity in the form of more dishonesty” (Gill, Prowse & Vlassopoulos, 2012, S.4).

Dieses Ergebnis ist Sprengstoff. Jeder, der in einem Unternehmen beschäftigt ist, weiß, dass unterschiedliche Mitarbeiter unterschiedlich produktiv sind. Jeder, der die Fesseln deutscher Tarifverträge kennt, weiß dass einer unterschiedlichen Entlohnung unterschiedlicher Mitarbeiter sehr enge Grenzen gesetzt sind und dass weitgehend Entgeltgleichheit besteht. So erhält z.B. ein Professor, dessen Themen in der Regel zwischen einem und drei Studenten in die Seminare locken, und bei dem nicht mehr als ein Student pro Semester vorstellig wird, um eine Diplomarbeit zu verfassen, dieselbe Vergütung nach W-Besoldung wie sein Kollege überm Gang, dessen Seminare, Sprechstunde und Diplomantenkolloquien überfüllt sind. Dass der Kollege überm Gang der Ansicht ist, er werde durch das Entlohnungssystem unfair behandelt, ist unter diesen Umständen kein Wunder, dass er sich eine alternative Einnahmequelle sucht, nur die logische Konsequenz. Und was an Universitäten gilt, gilt in Unternehmen, in denen man weit mehr als den Bleistift, die 500 Blatt Papier, die Software-Lizenz usw. “mitnehmen” kann, erst recht. Folglich weisen die Studien daraufhin, dass diebische Mitarbeiter (auch) das Ergebnis unfairer Entlohnungsstrukturen sind, an denen die Gewerkschaften einen großen Anteil haben, da sie das, was Mitarbeiter als prozedurale Gerechtigkeit ansehen, dem Gewerkschaftsgott der Entgeltgleichheit opfern.

Die beschriebenen unerwünschten Effekte, die von einem Verstoß gegen die prozedurale Gerechtigkeit ausgehen, sind nur der Anfang. Wie sich eine Frauenquote, die weibliche Mitarbeiter in Führungspositionen gehievt sieht, auf die andere Mitarbeiter seit Jahren warten und sich Aussichten machen, auf die von der Frauenquote negativ Betroffenen auswirkt, kann man sich angesichts der soeben berichteten Ergebnisse von Gill, Prowse und Vlassopoulos ohne den Einsatz von Phantasie ausmalen: Die von einer Frauenquote negativ betroffenen Mitarbeiter werden sich nach einer (finanziellen) “Kompensation” für die erfahrende Ungerechtigkeit umsehen. Und so sehen sich Unternehmen mit einerseits Regulationen konfrontiert, die ihnen Unmengen bürokratischer Notwendigkeiten bei Bilanzierung, Auftragsbewerbung uvm aufbürden, was heutzutage als “Compliance” bezeichnet wird, andererseits werden sie mit Regulierungen tracktiert, die die prozedurale Gerechtigkeit im Unternehmen beschädigen und damit notwendig zu höheren Verlusten durch Mitarbeiterdiebstahl und -betrug führen müssen. Wie lange können Unternehmen, deren Kosten durch die “Compliance” -Bürokratisierung ständig höher werden und deren Verluste durch Diebstahl und Betrug durch Mitarbeiter ebenfalls steigen, den Umsatz erwirtschaften, der ihnen nach Steuern noch einen Gewinn lässt?

Literatur
Association of Certified Fraud Examiners (ACFE) (2012). Report to the Nations on Occupational Fraud and Abuse: 2012 Global Fraud Study. Austin: ACFE.

Dickens, William T., Katz, Lawrence F., Lang, Kevin & Simmers, Lawrence H. (1989). Employee Crime and the Monitoring Puzzle. Journal of Labour Economics 7(3): 331-347.

Gill, David, Prowse, Victoria & Vlassopoulos, Michael (2012). Cheating in the Workplace: An Experimental Study of the Impact of Bonuses and Productivity.  Bonn: Institute for the Study of Labor, IZA DP No. 6725.

Greenberg, Jerald (2002). Who Stole the Money, and When? Individual and Situational Determinants of Employee Theft. Organizational Behavior and Human Decision Processes 89(1): 985-1003.

Greenberg, Jerald (1997). The STEAL motive: Managing the Social Determinants of Employee Theft. In: Giacalone, Robert A. & Greenberg, Jerald (eds.). Antisocial Behavior in Organisations. Thousand Oaks: Sage, pp.85-108.

Greenberg, Jerald (1993). Stealing in the Name of Justice: Interpersonal and Informational Moderators of Theft Reactions to Underpayment Inequity Organizational Behavior and Human Decision Processes 54(1): 81-103.

Greenberg, Jerald (1990). Employee Theft as a Reaction to Underpayment Inequity: the Hidden Cost of Pay Cuts. Journal of Applied Psychology 75(5): 561-568.

Greenberg, Jerald & Scott, K. S. (1996). Why Do Workers Bite the Hands that Feed them? Employee Theft as a Social Exchange Process. In: Shaw, Barry M. & Cummings, Larry L. (eds.). Research in Organizational Behavior. Greenwich: JAI-Press, pp.111-155.

Leeson, Nick (2000). Rogue Trader. London: Penguin.

Bildnachweis
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