Öffentliche Verkehrsmittel sind schuld an Bildungsungleichheit

Eine Revolution, ein Paradigmenwechsel in der Bildungsforschung bahnt sich an!

Unglaublich wichtige Erkenntnisse aus der Welt der Bildungsforschung haben heute unser Augenmerk erregt. Dabei ist das Ergebnis einer Untersuchung, nein, was sage ich, einer “korrelativ angelegten Studie” (wenn jemand weiß, was das ist, dann soll er sich bitte bei uns melden, denn wir kennen nur quantitative Befragungen, die in einen Datensatz münden, der in Zeilen und Spalten organisiert ist und es z.B. erlaubt, Kreuztabellen oder Korrelationen zu berechnen. Insofern ist jeder Datensatz grundsätzlich der Berechnung von Korrelationen zugänglich, was die Frage, was eine “korrelativ angelegte Studie” ist, umso dringlicher macht), also eine “korrelativ angelegte Studie” hat ein besonders interessantes Ergebnis gebracht, nämlich den Stein der Bildungsweisen, nein, die Erklärung für alles, worauf die Bildungsforschung seit Jahrzehnten gewartet hat: Die Erklärung für Bildungsungleichheit.

Universitaet_zu_Koeln-SiegelBildungsungleichheit, also z.B. die soziale Stratifizierung von Bildungsabschlüssen: je höher der Bildungsabschluss desto weniger Kinder aus Arbeiterhaushalten, oder die Stratifizierung nach Geschlecht: Jungen machen seltener ein Abitur als Mädchen, dafür bleiben sie häufiger ohne Schulabschluss als Mädchen, oder die Stratifizierung nach Herkunft: Migranten, egal, wie viele Generationen vor ihnen die Einwanderung nach Deutschland stattfand, schneiden im deutschen Schulssystem schlechter ab als nicht-Migranten, all diese Formen der Bildungsungleichheit sind auf einen Schlag und mit einer “korrelativ angelegten Studie”, die Ralf Rummer, Professor für Allgemeine Psychologie und Instruktionspsychologie an der Unversität Erfurt und Petra Herzmann, Professor für Empirische Schulforschung an der Universität Köln durchgeführt haben, gelöst.

Schlechte Schulnoten, so eine (idealistische) Annahme, sind ursächlich für schlechte Schulabschlüsse und ursächlich für Grundschulempfehlungen, die auf Hauptschulen und nicht auf Gymnasien verweisen. Bildungsungleichheit resultiert (idealtypisch und) somit aus schlechten Schulnoten und den sich daraus ergebenden Schulwahlen. Entsprechend ist die Ursache schlechter Schulnoten mittelbar ursächlich für die Bildungsungleichheit in Deutschland (das ist eine einfach Anwendung der Transitivität der Implikation). Und nach langer Suche haben deutsche Forscher nun die mittelbare Ursache für die Bildungsungleichheiten gefunden: Öffentliche Verkehrsmittel sind schuld! Schlimmer noch: je mehr Zeit Schüler in öffentlichen Verkehrsmitteln verbrachten, desto negativer die Wirkung der öffentlichen Verkehrsmittel auf die schulische Leistung.

Uni erfurtDieses revolutionäre Ergebnis haben Ralf Rummer und Petra Herzmann bisher nur als Pressemeldung über die Universität Erfurt lanciert. Eine Veröffentlichung behalten sich die beiden Revolutionäre der Bildungsforschung offensichtlich noch vor, denn auch der Bitte von ScienceFiles, doch Näheres über die Ergebnisse und die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind, mitzuteilen, wurde von Ralf Rummer bislang mit Schweigen begegnet. Und so müssen wir die Brocken kommentieren, die uns die Pressemitteilung der Universität Erfurt bereitstellt.

Der Umsturz in der Bildungsforschung, dieser Paradigmenwechsel, der die Suche nach den an der Bildungsungleichheit Schuldigen ein für alle Mal von Schülern oder Lehrern oder von den Eltern von Schülern auf die öffentlichen Verkehrsmittel konzentriert, basiert auf den Angaben von “137 Schülerinnen und Schüler[n] der 6. Jahrgangsstufe eines großen, im ländlichen Raum angesiedelten Gymnasiums in Nordrhein Westfalen”, die Rummer und Herzmann “ins Visier” genommen haben. Erlegt haben sie dabei, wie schon gesagt, die bisherige Bildungsforschung, mit einer “korrelativ angelegten Studie”, wie bereits festgestellt (Ich kann die Studenten der Universität Köln, an der Petra Herzmann “empirische Schulforschung” lehrt, nur ermuntern, die Vorlesungen insbesondere zu “Methoden der empirischen Schulforschung” zu besuchen, denn dort werden scheinbar Geheimnisse ausgebreitet und revolutionäre Neuerungen eingeführt – man merkt, ich bin immer noch nicht über die “korrelativ angelegte Studie” weg gekomemn).

Doch zurück zu den “bahn”brechenden Ergebnissen, dazu verrät uns die Pressemeldung:

Schulbus“Erstaunlich: Die Daten weisen signifikante korrelative Zusammenhänge [das sind dann wohl Zusammenhänge, wie man sie nur in korrelativ angelegten Studien finden kann…?] zwischen dem in öffentlichen Verkehrsmitteln absolvierten Schulweg [ich habe meinen Schulweg immer mit, nie in öffentlichen Verkehrsmittel absolviert…] und der Gesamtdurchschnittsnote und der Durchschnittsnote der Kernfächer aus: Je länger Schüler in Bussen, Bahnen oder Pkw unterwegs waren, desto schlechter fielen ihre Schulnoten aus”. Aber: “Darüber hinaus zeigte sich, dass Kinder mit langen Fahrzeiten sogar mehr Zeit auf die Erledigung der Hausaufgaben … verwendeten als Kinder mit kürzeren Anfahrtszeiten”. Und: “Interessanter Weise zeigt sich kein Effekt der zu Fuß bzw. mit dem Fahrrad zurückgelegten Zeiten”. Und deshalb: “Rummer: ‘Basierend auf weiteren statistischen Analysen haben wir festgestellt, dass nicht in erster Linie fehlender Schlaf oder weniger häusliche Lernzeit für die beeinträchtigende Wirkung langer Fahrzeiten verantwortlich ist, sondern dass sich die in Bussen und Bahnen oder Pkw verbrachte Zeit direkt in negativer Weise auf die Schulleistungen auswirkt”.

Damit haben wir die Hauptschuldigen: alles, was mit Motorkraft betrieben wird, ist schuld an der Bildungsungleichheit und nicht nur öffentliche Verkehrsmittel, nein, auch der Pkw ist schuld, während Fahrrad fahren und zu Fuß gehen als zumindest nicht leistungsbeeinträchtigend identifiziert sind. Schlimmer noch: Wer mit Motorkraft und in (öffentlichen) Verkehrsmitteln zur Schule kommt, dem hilft auch ein Mehr an Aufwand zur Erledigung der Hausaufgaben nicht, um die negative Wirkung der Verkehrsmittel zu kompensieren.

Was folgt aus diesen Ergebnissen? Zunächst muss man Vorsicht walten lassen, denn es ist nicht klar, wie lange die schädlichen Fahrzeiten eigentlich sind, da die Pressemeldung ohne ein relevantes Datum veröffentlicht wurde. Aber ignorieren wir diese Hürde, so ist die Forderung klar: Hausunterricht muss her oder Schüler müssen wieder per Rad oder zu Fuß zur Schule fahren/laufen. Wie Charles Dickens berichtet, war es z.B. im 18. Jahrhundert üblich, dass Schüler mehrere Stunden auf sich nahmen, um zu Fuß zur Schule zu kommen. Und natürlich wirkt sich diese Leibesertüchtigung nicht nur positiv auf die schulische Leistung aus, wie uns die Forscher aus Erfurt und Köln gerade gezeigt haben, nein, sie wirkt sich auch positiv auf Adipositas und körperliche Tüchtigkeit aus und: mens sana in corpore sano!

Schulweg_ErfurtLeider gibt es in der Pressemeldung einen abschließenden Satz, der den Paradigmenwechsel in Frage stellt und den Verdacht nährt, dass hier Artefakte berichtet werden und die öffentlichen Verkehrsmittel gar nicht schuld sind: bei Kindern mit überdurchschnittlichen Leistungen hat ein in öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegter Schulweg keinen negativen Effekt auf die schulische Leistung. Also wirkt sich der Schulweg “korrelativ” auf die Leistung aus bzw. er wirkt sich nicht auf die schulische Leistung aus, jedenfalls dann, wenn die Leistungen “überdurchschnittilch” sind. Man fragt sich zunehmend, was die beiden Forscher da eigentlich gerechnet haben, und noch mehr frage ich mich, was man im Rahmen der “empirischen Schulforschung” an der Universität Köln eigentlich so lernt.

Bleibt abschließend noch darauf hinzuweisen, dass der nach wie vor mögliche Paradigmenwechsel bislang dadurch erschwert ist, dass es keinerlei theoretische Grundlage für den gemessenen Zusammenhang gibt. Wie (öffentliche) Verkehrsmittel Bildungsungleichheit verursachen, ist bislang ein Rätsel, leistungsmindernde Abgase oder leistungsmindernde und wenig kognitiv erbauliche Landschaften sind zwei ad-hoc Hypothesen, deren Gültigkeit erst noch zu klären sein wird. Aber es besteht kein Zweifel, dass irgend ein Forscher an irgend einer Universität in Deutschland einen “korrelativen” Datensatz hat oder gerade ein paar Fragen im Kopf hat, die er schon immer einmal stellen wollte und die dann, sind sie erst “korrelativ” untersucht, ganz wichtige, ja revolutionäre Erkenntnisse liefern. Wir haben dann eine weitere Antwort auf der Suche nach der passenden Frage.

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