Wo kommen nur die Führer her?

Lehnen Sie sich zurück. Denken Sie an das Bundeskabinett oder Wahlweise an den Vorstand der SPD Berlin-Mitte. Und jetzt fragen Sie sich: Wie konnte das passieren? Nein, das ist die falsche Frage. Die richtige Frage lautet: Wo kommen Führer her? Oder allgemeiner und mehr soziologisch formuliert: Wieso sind Gesellschaften hierarchisch organisiert?

leadershipDiese Frage, also die letzte der gestellten Fragen, beschäftigt Wissenschaftler schon lange. Sie ist dem Rätsel vergleichbar, vor dem Ökonomen stehen, wenn sie sich mit Ronald Coase fragen: Warum gibt es Unternehmen? Unternehmen produzieren Transaktionskosten, die man vermeiden könnte, wenn man direkt im Markt agieren würde: Rohstoffe und Halbfertigprodukte kaufen, Gelegenheitsarbeiter kaufen, Anlagen mieten, produzieren und verkaufen. Wozu sich also die Last fest angestellter Arbeiter aufhalsen. Wozu einen bürokratischen Moloch wie ein Unternehmen gründen, das einer extra für Unternehmen ersonnenen Gestzgebung unterzogen werden kann? Wozu sich mit Gewerkschaftsvertretern herumärgern, wenn alles im Markt einfacher erzielt werden kann.

Haben Sie eine Antwort auf diese Fragen?

Nun, Ökonomen haben eine, vor allem solche, die der Neuen Institutionen Ökonomie zuzurechnen sind und die Antwort hat etwas mit Verlässlichkeit und Kontrolle, mit Unsicherheit und Leistung zu tun. Man kann sie am besten in Oliver Williamsons Buch: “The Economic Institutions of Capitalism” nachlesen.

Und das werden Interessierte auch müssen, denn wir widmen uns hier der Frage, wie das, was heute als Führer angesehen wird, geschehen konnte. Diese Frage, in etwas anderer Diktion haben sich Simon Powers und Laurent Lehmann gestellt. Sie haben sie beantwortet, und die “Proceedings of the Royal Society B” haben die Antwort gedruckt, und die Antwort lautet:

Gesellschaften werden sich dann hierarchisch organisieren, wenn die Führer in der Lage sind, überschüssige Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die wiederum ein Bevölkerungswachstum zur Folge haben, und mit einer wachsenden Bevölkerung ist es für die nunmehr Untertanen immer weniger möglich, Alternativen zum Führer bereit zu stellen.

Kurz: Menschen organisieren ihre Gesellschaft dann hierarchisch, wenn sie etwas davon haben, wenn die hierarchische Organisation mehr Ressourcen zu erwirtschaften in der Lage ist als die akephale.

The trackerDas ist nicht unbedingt eine umwerfende Erkenntnis. Aber eine umwerfende Erkenntnis ist vielleicht auch nicht zu erwarten, wenn man ein Computermodell zur Simulation gesellschaftlichen Wandels mit Annahmen füttert, die z.B. lauten: Menschen streben danach, in einer produktiveren Gesellschaft zu leben oder: Menschen streben nach einer Verbesserung ihres Lebens, oder Kinder erben die Werte ihrer Eltern. Dies alles sind mehr oder minder Trivialitäten, denn niemand wird dann, wenn er die Wahl zwischen wenig und viel Gutem hat, das wenige Gute wählen, jedenfalls nicht in einer Modellwelt, die von rationalen Akteuren bevölkert ist und Wahnsinn nicht zulässt.

Die Annahmen werden von trivial zu haarig, wenn man sie mit dem unterfüttert, was wir bislang nicht erwähnt haben, nämlich dem, was vor der hierarchischen Organisation stand: die akephale Gesellschaft. Die akephale Gesellschaft findet sich bei einer Reihe von Romantikern als Idyll. Das Idyll singt zur Schalmei das Lied der kleinen Menschengruppen, die vor dem Neolithikum über die Erde zogen, nein, sprangen, vor Freude und in Gleichheit geeint, Männleins, Weibleins und Kindleins und alle waren sie gleich. Es gab keine Hierarchie, niemand hat gesagt, wo es lang geht, alle haben in gleicher Weise in den Tag hinein gelebt und sich gefreut.

Von diesem Idyll gehen Powers und Lehmann aus. Und wenn man nun dieses Idyll verlassen soll, um als Mensch in das Neolithikum mit seiner Sesshaftigkeit und seinem Ackerbau überzuwechseln, dann stellt sich die Frage, warum man das sollte. Und weil Powers und Lehmann das Neolithikum mit hierarchischer Gesellschaftsorganisation verbinden, während vor dem Neolithikum die Kleingruppe der Gleichen durch die Lande zog, stellt sich zudem die Frage: Warum sollten die Gleichen ihre Freiheit aufgeben und sich einem Gleicheren unterordnen?

Weil sie etwas davon haben, lautet die Antwort, die Powers und Lehmann geben, mehr Ressourcen, ein besseres Leben und mehr Status oder Einkommen, eine Antwort, die man teilen kann, wenn man die Annahme teilt, dass vor dem Neolithikum kleine Gruppen von Gleichen durch die Welt gezogen sind, eine Annahme, die man allerdings nur teilen kann, wenn man die Zeit vor dem Neolothikum in eine sozialistische Paradiesvorstellung kleidet, in der Menschen ganz anders funktionierten, als sie das tatsächlich tun: Sie machten keinen Unterschied nach körperlicher Leistungsfähigkeit. Sie machten keinen Unterschied nach Erfahrung. Sie machten keinen Unterschied nach Geschicklichkeit. Sie machten keinen Unterschied nach Fertigkeit – eben keinen Unterschied, ganz so, als könne sich eine Menschengruppe das leisten.

Es ist völlig irrational anzunehmen, dass dieser sozialistische Paradieszustand irgendwann in der Menschheitsgeschichte bestanden haben soll. So wie es ein Unsinn ist, zu denken, akephale Gesellschaften seien, nur weil es in ihnen keinen klar definierten Führer gibt, nicht hierarchisch organisiert. Im Gegenteil: akephale Gesellschaften werden von einem Netz der Statusunterschiede durchzogen. Nur weil dieses Netz nicht in die Kategorien dessen passt, was man sich aus westlicher Perspektive unter Herrschaft vorstellt, heißt das nicht, dass es nicht eine Form der Herrschaft ist.

neolithic istoneAber, die Annahme der akephalen führerlosen und gleichen Gesellschaft ist für die Forschung von Powers und Lehmann wichtig, wollen sie doch zeigen, dass hierarchische Gesellschaften von einst freien Gleichen errichtet werden können und ihnen nicht aufgezwungen werden müssen. Und damit bekämpfen Powers und Lehmann einen Feind, des es gar nicht gibt: Wer hat behauptet, Führer hätten sich einst ihren Mitmenschen aufgezwungen? Die meisten Vertragstheorien, die sich mit der Entstehung hierarchischer Gesellschaften beschäftigen, gehen davon aus, dass eine Hierarchie auf Beschluss der Gesellschaftsmitglieder zu Stande kam, ohne dabei vom Idylll auszugehen, wie dies Powers und Lehmann tun (z.B. Locke oder Rousseau oder Hobbes).

Also fragt man sich am Ende, warum zwei Forscher einmal mehr am Mythos der schönen Frühzeit der Menschheitsgeschichte basteln, der Zeit, in der die Menschen noch gleich waren. Und man fragt sich, warum sie den Aufbau einer Gesellschaft mit Herrschaft verwechseln oder beides vermengen? Und bei der Suche nach einer Antwort kommt man nicht umhin, die romantischen Schwärmereien eines Friedrich Engels einzubeziehen, wie sie Dr. habil. Heike Diefenbach z.B. im Bezug zum angeblichen Patriarchat beschrieben hat. Das frühe Idyll ist ebenso wie die freie Wahl und die Vermegung von Herrschaft und Gesellschaftsorganisation wichtig, um einen modernen Mythos zu stützen, den Mythos nämlich, dass Führer in modernen Gesellschaften ausschließlich im Interesse ihrer Untertanen handeln, die man heute Bürger nennt und dass diese Führer nur deshalb in ihre Position gelangt sind, weil die Bürger-Untertanen davon einen Vorteil haben – weiter entfernt von der Wirklichkeit kann man kaum sein.

Powers, Simon T. & Lehmann, Laurent (2014). An Evolutionary Model Explaining the Neolithic Transition from Egalitarianism to Leadership and Despotism. Proceedings of the Royal Society B; online first.

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