Jugendkriminalität früher und heute: Machen Sozialarbeiter den Unterschied?
Es gibt Datensätze, die neidisch machen.
Pamela Cox, University of Essex, sowie Barry Godfrey und Zoe Alker, University of Liverpool haben einen solchen Datensatz.
500 Personen aus Merseyside und aus Chesire in England sind in diesem Datensatz enthalten. 500 Personen, die zwischen 1870 und 1910 von einem englischen Gericht dazu verurteilt wurden, bis zum Alter von 16 Jahren in einer sogenannten Reformatory School zu verbleiben, also in einer Mischung aus Gefängnis und Schule, die den Inhaftierten eine rudimentäre allgemeine Bildung und bestimmte Fertigkeiten vermitteln sollte.
Bei den 500 Inhaftierten handelt es sich überwiegend um männliche Jugendliche im Alter von 7 bis 14 Jahren. Sie stammten in der Regel aus armen und aus den Verhältnissen, die man heute wohl als zerrüttet bezeichnen würde. Inhaftiert wurden sie in der Mehrzahl der Fälle wegen kleiner Straftaten wie Diebstahl, Störung der öffentlichen Ordnung oder Vagabundiererei.
Für diese 500 überwiegend männlichen Häftlinge waren Cox, Godfrey und Alker in der Lage, ihren weiteren Lebensweg nach der Entlassung aus der Reformatory School zu rekonstruieren. Grundlage dafür waren Dokumente von Gerichten, Informationen aus Vokszählungen, Heirats- und Sterbeurkunden und andere Quellen.
Die Rekonstruktion des weiteren Lebens nach der Entlassung hat Erstaunliches zu Tage befördert:
Nur 22% der Jugendlichen, die aus einer Reformatory School entlassen wurden, wurden wieder straffällig.
Unter diesen 22% waren nur 6%, die ihren weiteren Lebensunterhalt mit Straftaten bestritten haben.
Verglichen mit den Zahlen, vor denen Kriminologen heute stehen, wenn sie die Rückfallwahrscheinlichkeit analysieren bzw. den Anteil der jugendlichen Strafttäter bestimmen, die nach Haftentlassung rückfällig werden, müssen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts paradiesische Zustände geherrscht haben.
Die wenigen Daten, die dazu für Deutschland zur Verfügung stehen, zeigen folgendes Bild:
Jehle, Heinz und Sutterer (2003) haben für den Zeitraum von 1994 bis 1998 gezeigt, dass 79% der Jugendlichen, die aus der Haft entlassen werden, rückfällig werden, also wieder Straftaten begehen.
Was ist die Ursache dafür, dass in modernen Staaten wie Deutschland, in denen ein eigenes Jugendstraftrecht vorhanden ist, in denen sich eine große Zahl von Sozialarbeitern darum bemüht, jugendliche Straftäter auf den Pfad des straftatfreien Lebens zurück zu bringen, in denen riesige Verwaltungen, wie die Jugendgerichtshilfe, eigens dazu geschaffen wurden, um jugendlichen Straftätern beiseite zu stehen und dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen im straffreien Leben Fuss fassen können, was ist die Ursache dafür, dass alle diese Helfer in ihrem Bemühen so grandios scheitern?
Cox, Godfrey und Zoe, die auf den britischen Inseln mit einer geringeren als in Deutschland, aber dennoch mit 73% sehr hohen Rückfallrate konfrontiert sind, sehen den Grund dafür, dass das viktorianische System der Behandlung von jugendlichen Strafttätern so erfolgreich war, während das moderne System so gnadenlos versagt, darin, dass die Straftäter nach dem Verlassen der Reformatory School in überwachte Lehrverhältnisse gesteckt wurden. Dort erlernten sie einen Beruf, und auf diese Weise erhielten sie eine Grundlage, auf der es möglich war, ein erfolgreiches und straffreies Leben aufzubauen.
Aus ökonomischer Sicht könnte man entsprechend argumentieren, dass die Kosten für Rückfall-Kriminalität mit jedem Tag, an dem ein jugendlicher Straftäter in seine Ausbildung und somit in ein eigenständiges und mit dem Gesetz konformes Leben investiert hat, gestiegen sind. Die Jugendlichen hatten etwas zu verlieren.
Aber nicht nur das: Die Strafen, die auf einen Rückfalltäter gewartet haben, waren aus heutiger Sicht drakonisch, und aus heutiger Sicht waren bereits die Strafen, die es für einen vermeintlich kleinen Diebstahl gab, drakonisch. Kein Jugendlicher, der im Supermarkt eine Spielkonsole zu stehlen versucht und erwischt wird, muss heute in Deutschland mit einer Inhaftierung rechnen.
Im Gegenteil: Das Jugendstrafrecht sieht es vor, Jugendliche mit Samthandschuhen anzufassen. Entsprechend sehen sich Jugendrichter regelmäßig mit denselben Gesichtern konfrontiert, nicht nur mit dem selben Jugendgerichtshelfer, sondern auch mit dem selben jugendlichen Straftäter, und ab der 10ten, vielleicht auch erst nach der 20sten Straftat, je nach Schwere und emotionalem Engagement des Jugendgerichtshelfers, steht eine Verurteilung des Jugendlichen, der oftmals die Grenze zum Heranwachsenden überschritten hat, an.
Wenn ein jugendlicher Strafttäter heute inhaftiert wird, dann ist er nicht zwischen 7 und 14 Jahre, wie noch 1870, sondern mindestens 14 Jahre alt, denn erst mit 14 Jahren fällt er in den Geltungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes. Aber mit 14 Jahren wird niemand inhaftiert, denn der Auftrag des Jugendgerichtsgesetzes besteht darin, Jugendliche zu erziehen, wozu ist nicht ganz klar. Dagegen ist klar, dass die Erziehung zunächst darin besteht, von Strafe abzusehen.
Folglich wird in der Regel der erste bis dritte Diebstahl mit einer Weisung enden, vielleicht dem Erbringen von 30 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Wiederholte Straftaten, sagen wir der vierte bis siebte aktenkundige Diebstahl, werden regelmäßig als Erziehungsversagen der Erziehungsberechtigten gewertet, was eine Hilfe zur Erziehung (§ 12, JGG) zum Ergebnis haben wird. Wenn auch die Hilfe zur Erziehung durch den netten Onkel oder die nette Tante von der Jugendgerichtshilfe nichts bringt außer Diebstahl acht bis 15, dann wird sich der Jugendrichter genötigt sehen, eine Verwarnung auszusprechen oder, wenn er schlecht gelaunt ist, einen Jugendarrest von, sagen wir drei Wochenenden, als Vorgeschmack auf das, was nunmehr mit Sicherheit nachfolgt, denn das deutsche Jugendstrafrecht vergisst nichts (im Gegensatz zu Google).
Erscheinen jugendlichen Straftäter vor einem Richter und kommen mit einer Weisung davon, dann ist diese Weisung einerseits aktenkundig, andererseits eine Mahnung zum straffreien Leben, eine Mahnung mit in Falten gelegter richterlicher Stirn und sonst keinen Folgen für den Jugendlichen. Kommt er wieder, wegen der Diebstähle vier bis acht, dann verurteilt der Jugendrichter nicht nur die Diebstähle vier bis acht, denn es gibt noch die offene Rechnung der Diebstähle eins bis drei. Und so geht das weiter, mit jedem Mal, mit dem ein Jugendlicher vor einem Jugendrichter erscheint, wird die Liste der bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Straftaten in der Weise länger, wie der Jugendliche älter wird. Bis es ihn dann trifft, und er die zwei Jahre, ab denen eine Haftstrafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann, überschreitet.
Und dann wird er inhaftiert.
Über Jahre hat ein Jugendlicher in Deutschland, wenn er es ins Gefängnis schafft, gute Bekanntschaft mit dem zuständigen Jugendrichter geschlossen. Er ist mit den Sozialarbeitern von der Jugendgerichtshilfe per Du. Er hat gelernt, dass er für Straftaten keine Straffolgen zu tragen hat, daraus den Schluss gezogen, dass es keine Notwendigkeit gibt, seinen Lebenswandel umzustellen. Entsprechend investiert er nicht in Bildung, nimmt in der Regel keine Berufsausbildung auf und sieht die Aussichtslosigkeit seiner Situation erst dann, wenn die Strafen so aufgelaufen sind, dass seine Inhaftierung unumgänglich ist.
Dann hat er eine gute Chance im Verlauf der Haft das 21. Lebensjahr zu erreichen, was ihn für die gleichen Jugendgerichtshelfer und Sozialarbeiter, die ihn die ganze Zeit umschwärmt haben, wie die Motten das Licht, uninteressant macht, weshalb unser junger Straftäter, für den die ganze Zeit Sozialarbeiter gesorgt haben, für den Sozialarbeiter und Jugendgerichtshelfer vor dem Jugendrichter geworben haben, nunmehr alleine da steht, ohne Ausbildung, ohne Beruf, mit Vorstrafe und Zeit im Gefängnis und keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Wenn man den Unterschied zwischen der viktorianischen Zeit und der heutigen Zeit im Hinblick auf die Behandlung jugendlicher Straftäter auf zwei Ursachen bringen wollte, dann wären dies:
- Sozialarbeiter bzw. Jugendgerichtshelfer;
- Jugendstrafrecht
Das Jugendstrafrecht wird von jugendlichen Straftätern offensichtlich lange Zeit nicht als Strafrecht wahrgenommen. Sie nehmen es nicht ernst. Warum auch? Ihr Erscheinen vor Gericht hat in der Regel keine besonderen Folgen.
Für diese Argumentation spricht ein Ergebnis, das Pichler und Römer (2011) veröffentlicht haben. Sie können zeigen, dass Jugendliche (zwischen 18. und 21. Jahren), die nach Jugendstrafrecht verurteilt wurden, eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, wieder straffällig zu werden, als Jugendliche (zwischen 18. und 21. Jahren), die nach Erwachsenenstrafrecht und somit härter bestraft werden.
Sozialarbeiter und Jugendgerichtshelfer sind das eigentliche Übel im deutschen Strafrecht. Sie wirken in der Regel erfolgreich dabei mit, die Inhaftierung von Jugendlichen und damit den Marker: “Straftaten haben Folgen”, so lange hinauszuzögern, bis der entsprechende Jugendliche eine erkleckliche Anzahl von Straftaten zusammen hat, um für Jahre im Gefängnis zu verschwinden. Nach Entlassung ist der dann in einem Alter, das ihm auf dem Ausbildungs- und Berufsmarkt keine Chancen belässt. Er ist zu alt, um in der Konkurrenz mit Realschülern und Gymnasiasten um eine Lehrstelle bestehen zu können, hat also Nachteile auch wenn man seine Haftstrafe, die ihn ohnehin als Bewerber disqualifizieren wird, unberücksichtigt lässt.
Aber das alles stört die Jugendgerichtshelfer und Sozialarbeiter, die dafür mitverantwortlich sind, nicht. Sie arbeiten bereits am nächsten Opfer und sind nur zu froh, dass das letzte Dokument des vollständigen Scheiterns ihrer Bemühungen zu alt ist, als dass sie sich noch um ihn kümmern müssten.
©ScienceFiles, 2015
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EINSPRUCH
“Verglichen mit den Zahlen, vor denen Kriminologen heute stehen, wenn sie die Rückfallwahrscheinlichkeit analysieren bzw. den Anteil der jugendlichen Strafttäter bestimmen, die nach Haftentlassung rückfällig werden, müssen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts paradiesische Zustände geherrscht haben.”
NEIN!
Damals herrschten keine “paradiesischen Zustände”. Das hätte damals auch niemand behauptet. Das Problem besteht darin, dass heute viele gerne hätten, dass wir in paradiesischen Zuständen leben und sich so verhalten, dass es paradiesischen Zuständen (wie sie sie sich vorstellen) entspräche, wenn wir denn in ihnen leben.
Doch wir leben nicht in ihnen.
Damals wusste man das. DAS ist der Unterschied.
Hat dies auf DiskursKorrekt im Tagesspiegel rebloggt.
EINSPRUCH
In allen deutschen Justiz-Vollzugsanstalten für Jugendliche und junge Erwachsene gibt Ausbildungsangebote mit externem Abschluss als Geselle oder ohne Abschluss. Oft allerdings ist die Dauer der Haft nicht ausreichend um solche Ausbildungsgänge mit Prüfung abzuschließen.
Das ist bekannt. Genauso ist bekannt, dass die entsprechenden Ausbildungen auf dem freien Markt nichts wert sind, schon weil die meisten in JVAs erst einmal damit beschäftigt sind, einen Hauptschulabschluss zu machen, ehe sie an den dubiosen Ausbildungsangeboten so genannter Bildungsträger partizipieren können, um massenhaft zum Trockenbauer ausgebildet zu werden, eine Lehre, die sie dann, wenn sie lang genug im Gefängnis sind, nicht nur anfangen, sondern auch abschließen können, mit rund vier Jahren Verspätung oder so…
EINSPRUCH ABGELEHNT.
schon mal was von degeneration gehört – glaubt hier tatsächlich jemand, dass wir es heutzutage noch mit gesunden menschen zu tun haben ?
“…sehen den Grund dafür, dass das viktorianische System der Behandlung von jugendlichen Strafttätern so erfolgreich war, während das moderne System so gnadenlos versagt, darin, dass die Straftäter nach dem Verlassen der Reformatory School in überwachte Lehrverhältnisse gesteckt wurden. Dort erlernten sie einen Beruf, und auf diese Weise erhielten sie eine Grundlage, auf der es möglich war, ein erfolgreiches und straffreies Leben aufzubauen.”
Eigentlich angewandte praktische Erziehung mit Zielsetzung. Unsere Welt ist so erfinderisch darin, anderen aus Machtvollkommenheit oder anderen egoistischen Motiven Schmerz – psychisch und physisch – zuzufügen, in dem vollen Bewusstsein, daß Menschen dies nicht erleiden mögen (mit wenigen Ausnahmen). Nur im Erziehungsbereich wird alles in unsichtbare Watte gepackt, damit ja nichts weh tut. Wie sollen Grenzen erfahren werden, wenn keine Grenzen gespürt werden? Aber dann würden wohl Stellen wegfallen. Empfehlenswert auch zum Thema: Heisig, Das Ende der Geduld.