Volksgemeinschaft: Eine (ursprünglich) linke Idee (demokratischer Sozialismus)

Volksgemeinschaft, das lernt heute jeder Schüler, das ist ein Konzept der Nationalsozialisten, das auf dem Mythos der arischen Blutsverwandtschaft baut und im Wesentlichen dazu benutzt wurde, um die, die als „Schädlinge am Volkskörper“ galten, auszugrenzen. Wie die meisten, wenn nicht alle Konzepte, derer sich die Nationalsozialisten bemächtigt haben, so ist auch das Konzept der Volksgemeinschaft schon lange vor ihnen diskutiert worden und verbreitet gewesen. Ein guter Überblick über den Raubzug durch ideologische Konzepte, den die Nationalsozialisten vorgenommen haben, findet sich bei Peter Gay in seinem Buch über die politische Kultur der Weimarer Republik. Nach Lektüre dieses Buches weiß auch der Letzte, dass die Nationalsozialisten Sammler und Konsumenten eines Patchworks aus Ideen und Konzepten waren, die andere vor ihnen entwickelt und die die Nationalsozialisten nun für ihre Zwecke okkupierten und nicht selten vollkommen entstellt haben.

Der Begriff der Volksgemeinschaft ist eines ihrer Opfer.

Michael Wildt zeigt in seinem Beitrag „Die Ungleichheit des Volkes. ‚Volksgemeinschaft‘ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik“, dass der Begriff der Volksgemeinschaft zum Vokabular nahezu aller Parteien der Weimarer Republik gehört hat. Friedrich Ebert (SPD) benutzte den Begriff ebenso selbstverständlich wie Vertreter des katholischen Zentrums, der liberalen Parteien der DVP oder der DDP:

„Die Liberaldemokraten in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die unter anderem mit Hugo Preuß in ihren Reihen, als die Verfassungspartei par excellence galt, propagierten die Volksgemeinschaftsidee, um den Klassenkampfgedanken zu bekämpfen und die soziale Einheit der Nation herzustellen“ (Wildt 2012: 29) Und weiter: „Auch die Sozialdemokraten bandelten mit der ‚Volksgemeinschaft‘ an. Die labile Situation nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, in der die Sozialdemokraten die politische Verantwortung übernahmen und sich von den revolutionären Aufstandsversuchen von links bedroht fühlten, führte zu einer Rhetorik der inneren Geschlossenheit, der Einheit und Abwehr jedweder Spaltung“ (Wildt 2012: 31).

Über Parteigrenzen hinweg wurde der Begriff der Volksgemeinschaft als einer verwendet, der die Einheit des Volkes betonen, soziale, ideologische und Klassenunterschiede zum Verschwinden bringen sollte, der fast schon an der Grabenromantik anschloss, die Ernst Jünger in „Unter Stahlgewittern“ beschrieben hat.

Volksgemeinschaft geht als Begriff jedoch der Weimarer Republik voraus. Einer derjenigen, die den Begriff der Volksgemeinschaft populär gemacht haben, ist der Soziologe Ferdinand Tönnies, dessen Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ die Zerstörung organisch gewachsener sozialer Beziehungen, wie sie die agrarischen Gemeinschaften nach seiner Ansicht ausgezeichnet haben, durch die mechanische Gesellschaft, in der nichts mehr um seiner selbst willen und alles zum Mittel für einen bestimmten Zweck wird. Die Frontstellung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft mündet bei Tönnies später in die Gegenüberstellung von englischem Rechtsstaat und deutschen Wohlfahrtsstaat. Dabei beschreibt Tönnies den englischen Rechtsstaat als einen Staat, der durch Verträge zwischen Individuen ausgezeichnet ist, dieselben Individuen, die auch ihre sozialen und ökonomischen Beziehungen untereinander aushandeln. Erst die Individuen bringen durch ihre Verträge den Rechtsstaat hervor. Dagegen ist der deutsche Wohlfahrtsstaat ein organisch gewachsener Staat, der die sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen den Individuen per Gesetz regelt. Und der Wohlfahrtsstaat ist ausgezeichnet durch die Volksgemeinschaft, die Tönnies in seinem Buch „Der englische Staat und der deutsche Staat – Eine Studie“ wie folgt beschreibt:

„Die  V o l k s g e m e i n s c h a f t, durch Sprache, Stile und Recht, durch Kunst und Wissenschaft, durch Überlieferung und Geschichte, aber auch durch das Staatsleben selber verbunden, ist eine Tatsache. Durch die ganze gesellschaftliche Entwicklung durch das Wachstum des Handels und Verkehrs und der kapitalistischen Produktionsweise in hohem Grade gefährdet und vielfach zerrüttet, ringt sie doch um ihre Erhaltung und bewährt sich als lebendige Kraft im  n a t i o n a l e n  Staat und in national-volkstümlichen Einrichtungen, daher auch in deren Pflege und Vermehrung. Im soziologischen Sinne kann man den Staat, zumal wenn er, wie das Deutsche Reich, aus Wunsch und Wille einer lebendigen Volksgemeinschaft hervorgegangen ist, das organisierte Volk nennen, wenn das auch kein Rechtsbegriff ist; der Staat als Persönlichkeit gedacht enthält wenigstens die Anlage dazu, mit dem Volke sich gleichsam zu vermählen und in einigem Maße zu verschmelzen. Es ist ein mögliches Ziel der Entwicklung und als solches längst vorgestellt und gesetzt worden“. (Tönnies 1917: 192).

Die Anklänge an den Sozialismus, der schon im Kaiserreich als Kathedersozialismus von Universitäten aus (z.B. von Lorenz von Stein oder Adolphe Wagner) gepredigt wurde, sind offenkundig: Die Ablehnung des Kapitalismus, der Gegensatz zwischen organischer Entwicklung und mechanischer Verfassung, das Verschmelzen individuellen Wünschens und Wollens im guten Staat, der als Übervater für seine Schäfchen sorgt, das alles sind Merkmale, die sich auch heute noch in den sozialistischen Heilslehren finden.

Ist die enge Verbindung des Sozialismus mit Tönnies Volksgemeinschaft hier schon deutlich, so wird sie geradezu überdeutlich und führt zu entsprechendem Erschrecken, wenn man die organische Gemeinschaft, die Tönnies durch die Volksgemeinschaft im Wohlfahrtsstaat vor der mechanischen Gesellschaft des Rechtsstaates und seines Kapitalismus retten wollte, genauer betrachtet. Arthur Mitzman hat dies in einem Artikel aus dem Jahre 1971 getan und gezeigt, dass es Tönnies zunächst einmal darum ging, Zellen der Gemeinschaft, die sich wiederum aus familiären Einheiten rekrutieren, zu schaffen und die man nicht anders denn als Kommune bezeichnen kann. Ihnen obliegt eine gemeinsame Haushaltsführung, die gemeinsame Beschaffung von Gütern und deren gemeinsamer Verbrauch, die gemeinsame Organisation des nachbarschaftlichen Lebens und vieles mehr, was man heute in den Formeln, mit denen die Zivilgesellschaft und das Soziale des Menschen zum Beispiel im Zusammenleben im Mehrgenerationenhaus beschworen wird.

Damit aber nicht genug, in seinen Fünfzehn Thesen zur Erneuerung des Familienlebens, die Tönnies 1893 in der Zeitschrift „Ethische Kultur“ veröffentlicht hat, legt er die gesellschaftlichen Voraussetzungen des nämlichen Familienlebens wie folgt dar:

  • Abschaffung privaten Wohneigentums;
  • Verbot der Kinderarbeit;
  • Begrenzung der Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche;
  • Staatliche Versicherung gegen alle Formen des persönlichen Notstands bzw. alle Formen persönlicher Notlage;
  • Verkürzung der Arbeitszeit;
  • Und wie in der DDR auch lange Zeit üblich, stellt Tönnies die gesundheitlichen Aspekte körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft den krämerischen Aktivitäten des Handels, der nur dem Luxus weniger diene, gegenüber.

Mit diesen Punkten würde Tönnies heute Karriere bei der LINKEN machen. Er hätte einen Posten im Berliner Senat, würde den Rückkauf von Wohnungen (die Beseitigung von privatem Eigentum an Wohnraum) durch den Senat abwickeln und sich für die Schaffung einer Bürgerrente (als Versicherung gegen alle Eventualitäten) stark machen. Und natürlich würde er sich dafür einsetzen, dass die Work-Life-Balance der arbeitenden Bevölkerung durch vermehrte Teilzeitarbeitsmöglichkeiten optimiert wird. All dies, so würde Tönnies heute sagen, komme der Gesundheit der Menschen und ihrer Lebenszufriedenheit zugute und die staatlichen Eingriffe in die Gesellschaft würde er entsprechend mit der Wohlfahrt der Menschen und der Notwendigkeit, soziale Ungleichheit zu beseitigen (also den Luxus abzubauen, von dem nur wenige profitieren) begründen. Der Staat wäre Tönnies der gute Hirte, der die Wünsche und das Wollen der Menschen leitet, denn er ist organisch aus den Wünschen und dem Wollen der Menschen gewachsen, er ist Verkörperung der Volksgemeinschaft, wie sie sich trotz aller Diversität in kulturellen Gemeinsamkeiten niederschlägt.

Vermutlich würde Tönnies heute seinen eigenen Begriff der Volksgemeinschaft aufgeben und ihn als Sozialstaat der Gerechtigkeit und Gleichheit im demokratischen Sozialismus bezeichnen. Damit enden jedoch die Unterschiede zwischen dem Konzept der Volksgemeinschaft und dem, was als demokratischer Sozialismus bezeichnet wird.

Literatur

Mitzman, Arthur (1971). Tönnies and German Society, 1887-1914: From Cultural Pessimism to Celebration of the Volksgemeinschaft. Journal of the History of Ideas 32(4): 507-524.

Tönnies, Ferdinand (1917). Der englische Staat und der deutsche Staat. Eine Studie. Berlin: Verlag Karl Curtius.

Tönnies, Ferdinand (1914). Rechtsstaat und Wohlfahrtsstaat. Referat, erstattet auf dem III. Kongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 8(1): 65-70.

Tönnies, Ferdinand (1893). Fünfzehn Thesen zur Erneuerung des Familienlebens. Ethische Kultur 1(1): 302-304.

Tönnies, Ferdinand (1883). Gemeinschaft und Gesellschaft: Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Berlin: Fues.

Wildt, Michael (2012). Die Ungleichheit des Volkes. ‘Volksgemeinschaft’ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik. In: Bajohr, Frank & Wildt, Michael (Hrsg). Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. München: dtv, S.24-40.

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