Patriarchat II: Harris’ “starke Kerle” und die Phantasien von Engels

Die folgende Version des Beitrags von Dr. habil. Heike Diefenbach unterscheidet sich von der für die  Wikipedia verfassten Version darin, dass zwei Literaturangaben ergänzt wurden und ein Satz ergänzt wurde. Die im Text angegebene Literatur folgt am Ende von Teil III. Zudem stellen wir im Laufe der Woche einen PDF-File mit dem gesamten Text bereit.

Das Patriarchat – Teil II

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Empirischer Gehalt des Begriffs “Patriarchat” oder: Gibt es “Patriarchate” oder gar das “Patriarchat”?

Ob sinnvoll von einem oder gar dem Patriarchat gesprochen werden kann, hängt davon ab, dass klar angegeben wird, wann genau von einer Herrschaft, Dominanz oder Vormachtstellung von Vätern oder Männern gegenüber Müttern oder Frauen gesprochen werden soll, und dass nachgewiesen wird, dass aufgrund dieser Kriterien in einem konkreten Fall vom Vorliegen einer solchen Herrschaft, Dominanz oder Vormachtstellung von Vätern oder Männern gesprochen werden kann. Erst wenn dies erfolgt ist, kann vernünftigerweise darüber diskutiert werden, ob und aus welchen Gründen man dies als Mißstand bewerten sollte oder könnte. Weil klare Antworten auf diese Fragen in der Regel nicht gegeben werden, ist die intersubjektive Verständigung schwierig, und dies dürfte zumindest zum Teil erklären, warum große Uneinigkeit darüber besteht, ob irgendwann irgendwo ein “Patriarchat” herrscht/e oder es sogar das “Patriarchat” schlechthin gegeben hat oder derzeit gibt oder nicht.

Zur Klärung des empirischen Gehaltes des Begriffs “Patriarchat” ist es also notwendig, sich auf einen spezifischen Patriarchatsbegriff zu beziehen oder anzugeben, auf welchen konkreten Kontext man die Rede vom “Patriarchat” bezieht. Ungeachtet der zahlreichen Variationen im Detail lassen sich prinzipiell drei Patriarchatsbegriffe zur Bezeichnung von Formen gesellschaftlicher Ordnung unterscheiden, nämlich

  1. das Patriarchat als gesellschaftliche Organisationsform vorindustrieller Bevölkerungen,
  2. das Patriarchat als Form familialer Organisation,
  3. das Patriarchat als (aktuell zu beobachtende) gesellschaftliche Organisationsform postindustrieller, moderner Staaten oder der Weltbevölkerung insgesamt.

1. Das Patriarchat als gesellschaftliche Organisationsform vorindustrieller Bevölkerungen

Das Patriarchat wird häufig als die gesellschaftliche (oder in diesem Kontext häufig treffender: gemeinschaftliche) Organisationsform vorindustrieller Bevölkerungen betrachtet, die unter den Bedingungen der modernen oder postindustriellen Gesellschaft überwunden sei oder noch überwunden werden müsse, weil aufgrund der in diesen Gesellschaften anderen Lebensumstände der Menschen keine Plausibilität oder Legitimität mehr habe. Jedenfalls wird behauptet, das Patriarchat sei eine historische Tatsache. Diese Vorstellung wird in zwei Varianten formuliert. Beide Varianten erläutern nicht, was genau unter “Patriarchat” zu verstehen sei und woran man es erkennen könnte; vielmehr wird beschrieben, unter welchen Umständen es sich entwickelt habe. Die erste Variante argumentiert diesbezüglich mit Ressourcenknappheit oder, wenn man so sagen will: relativer Armut, die zweite Variante argumentiert – im Gegenteil – mit relativem Wohlstand.

1.1 Das Patriarchat als Reaktion auf Ressourcenknappheit

Nach der ersten Variante, die z.B. der teilweise soziobiologisch argumentierende Kulturanthropologe Marvin Harris vertritt, entwickelt sich ein Patriarchat in Folge knapper Ressourcen und hierdurch bedingter Kriegführung sowie Bevölkerungsdruck. Diese wiederum hätten auf eine Bevorzugung männlicher Kinder und die Polygynie, also die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen, hingewirkt – wobei offen bleibt, warum nicht das Gegenteil der Fall ist, also eine Frau als das aufgrund der postulierten Bevorzugung männlicher Kinder ‘knappere Gut’ mehrere Männer geheiratet haben sollte. Das habe zu “Neid, Ehebruch, einem geschlechtsbedingten Antagonismus zwischen Männern einerseits und Frauen andererseits sowie zu Feindseligkeiten zwischen Männern und zwar besonders zwischen den jungen Männern, die keine Frauen haben, und den älteren Männern, die mehrere besitzen …” (Harris, 1989: 355) geführt, wobei auch hier offen bleibt, warum das der Fall gewesen sein soll. Dementsprechend sei “in allen Gesellschaften, die wenig Krieg führen und nur einem geringen Bevölkerungsdruck ausgesetzt sind, der Komplex männlicher Suprematie nur schwach ausgeprägt oder praktisch nicht vorhanden …” (Harris 1989: 355), und dies gelte für “viele Wildbeutergesellschaften” (Harris 1989: 355).

Demnach sind es also spezifische “vorindustrielle…[…] Bedingungen” (Harris 1989: 353) der Ressourcenknappheit, die ein Patriarchat begründet haben sollen. Falls dies zuträfe, würde es keinen Sinn machen, von dem Patriarchat zu sprechen, sondern patriarchalische Organisationsformen wären historisch dann und dort entstanden, wann und wo Ressourcenknappheit herrschte. Patriarchate wären also zeitlich und räumlich klar spezifizierte gesellschaftliche Phänomene.

Kritik:

In dieser Darstellung wird zwar begründet, warum sich ein Patriarchat entwickelt haben könnte oder müsste, wenn die angegebenen Umstände vorlagen, aber die Darstellung enthält weder einen Nachweis der Existenz eines Patriarchats in Gesellschaften, der voraussetzen würde, dass Angaben darüber gemacht werden, was die ein Patriarchat definierenden Elemente wären bzw. woran man ein Patriarchat erkennen könnte, noch einen Nachweis dafür, dass vorindustrielle Lebensbedingungen in nennenswert vielen Fällen von “Ressourcenknappheit” gekennzeichnet gewesen wären. Darüber hinaus weist die gegebene Begründung (wie oben schon angedeutet) erhebliche Argumentationslücken auf.

Vor allem aber ist “Ressourcenknappheit” kein absoluter Begriff, sondern ein relativer, und der Zusammenhang zwischen Ressourcenknappheit und patriarchalischer Organisationsform kann daher ohne eine Festlegung dessen, was genau als “Ressourcenknappheit” gelten soll, nicht geprüft bzw. widerlegt werden: Wenn keine patriarchalische Organisationsform beobachtet würde, dann wären die Ressourcen eben nicht (hinreichend) knapp (gewesen), und wenn eine patriarchalische Organisationsform beobachtet würde, würde dies automatisch als Beleg dafür gedeutet, dass Ressourcen (hinreichend) knapp sind oder gewesen sein müssen. Es handelt sich also um eine Darstellung, deren Richtigkeit kaum durch empirische Daten überprüft werden kann; man kann sagen: sie stimmt immer (irgendwie), und deshalb, eben als weitgehend unprüfbare Aussage über die vergangene Realität, kann die Darstellung keine Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben und hat dementsprechend keine Aussagekraft über die Formulierung hypothetischer Zusammenhänge hinaus.

Will man von den Verhältnissen in bestimmten zeitgenössischen (technologisch) einfache(re)n Gesellschaften auf die Verhältnisse der Menschheit im Ganzen zu früheren Zeiten schließen, dann ist dies nur möglich, wenn man voraussetzt, dass diese materiell oder technologisch einfache(re)n Gesellschaften in ihrer Entwicklung “stehengeblieben” seien und ihre Lebensweise deshalb der Lebensweise der Menschen in früheren Zeiten entspräche. Dies ist aber selbst eine spezifisch westliche Vorstellung vom Verlauf der Menschheitsgeschichte und von der relativen Bedeutung materieller und kultureller Komplexität für Fortschritt und Zivilisation (Berhard 1988: 63/64). Darüber hinaus sind heute beobachtete “Traditionen” häufig gar keine, sondern relativ neue Phänomene, die teilweise ganz bewusst zur Verfolgung bestimmter Interessen entwickelt und vermarktet werden.FN1

1.2 Das Patriarchat als Reaktion auf Wohlstand und Privateigentum: Die Vertreibung aus dem kommunistischen Paradies

Friedrich Engels

In der zweiten Variante wird die Existenz eines, also des, Patriarchats als Epoche der universellen Menschheitsgeschichte behauptet, der wiederum eine Epoche des Matriarchats oder “Mutterrechts” vorausgegangen sei. Diese Vorstellung ist heute untrennbar mit dem Namen Friedrich Engels verbunden, der gemeinsam mit Karl Marx das Kommunistische Manifest verfasst hat und neben Marx selbst als Begründer des Marxismus gilt. Engels hat sie im Jahr 1884 in seinem Buch “Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats” (1984[1884]) formuliert, das bis heute als Grundlagenwerk der marxistischen und der kommunistischen Weltanschauung gilt.

Engels ging davon aus, dass eine “kommunistische Haushaltung … die sachliche Grundlage jener in der Urzeit allgemein verbreiteten Vorherrschaft der Weiber …” (Engels 1984[1884]: 61) gewesen sei. Letztere sei dadurch begründet, dass in der frühen Menschheitsgeschichte Gruppenehe geherrscht habe und dort, wo Gruppenehe herrsche, Vaterschaft praktisch nicht feststellbar und daher “die Abstammung nur von mütterlicher Seite nachweisbar sei, also nur die weibliche Linie anerkannt wird” (Engels 1984[1884]: 53). Engels übernimmt für die so begründete “Vorherrschaft der Weiber” den Begriff des “Mutterrechts” von Johann Jakob Bachofen (1975[1861], der seinerseits gemeint hatte, aus seiner Interpretation antiker Mythen auf einen tatsächlichen historischen Übergang vom Vater- zum Mutterrecht, der in den Mythen in symbolischer Sprache beschrieben werde, schließen zu können.FN2

Friedrich Engels: “Der Ursprung der Familie”

Mit der Domestizierung von Tieren und der folgenden Viehzucht hätte sich, so Engels, erstmals in der Menschheitsgeschichte eine “ungeahnte Quelle des Reichtums” (Engels 1984[1884]: 66) entwickelt, und hieraus hätte sich “schon früh … Privateigentum an den Herden entwickelt [haben müssen]” (Engels 1984[1884]: 66). Dies wiederum habe zu einer erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften zur Betreuung der eigenen Herden geführt, und dies sei der Grund dafür, dass die Sklaverei erfunden worden wäre und Frauen nunmehr einen “Tauschwert” erhalten hätten (Engels 1984[1884]: 67), und zwar von Männern bzw. für Männer. Engels meint nämlich zu wissen, dass “[n]ach dem Brauch der damaligen Gesellschaft … der Mann auch Eigentümer der neuen Nahrungsquelle, des Viehs, und später des neuen Arbeitsmittels, der Sklaven” (Engels 1984[1884]: 68) gewesen sei. Männer hätten nach Engels die Kontrolle über Frauen aber nicht nur angestrebt, weil sie Frauen als Arbeitskräfte benötigten, sondern auch deshalb, weil sie ihren Reichtum an ihre eigenen, biologischen Kinder vererben wollten, und es hierzu notwendig gewesen wäre, die sexuelle Treue der eigenen Frau(en) sicherzustellen und die Erbfolge nur nach der mütterlichen Linie aufzuheben. Hier setzt Engels die von ihm postulierte alleinige Anerkennung der Abstammung einer Person von der mütterlichen Seite umstandslos in einen notwendigen Zusammenhang mit der alleinigen Erbschaftsfolge in der mütterlichen Linie, die sich angeblich “daraus [aus der ausschließlichen Anerkennung der Abstammungsfolge nach der Mutter] … mit der Zeit ergeben[…]”(Engels 1984[1884]: 53) habe: “In dem Verhältnis also, wie die Reichtümer sich mehrten, gaben sie einerseits dem Mann eine wichtigere Stellung in der Familie als der Frau und erzeugten andrerseits den Antrieb, diese verstärkte Stellung zu benutzen, um die hergebrachte Erbfolge zugunsten der Kinder umzustoßen. Dies ging aber nicht, solange die Abstammung nach Mutterrecht galt. Diese musste also umgestoßen werden, und sie wurde umgestoßen” (Engels 1984[1884]: 68). Diesen fiktiven Umsturz des Mutterrechts bezeichnet Engels als die “weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts” (Engels 1984[1884]: 70; Hervorhebung im Original).

Die monogame Familie ist für Engels also eine Institution des Patriarchats, die “im Keim nicht nur Sklaverei …, sondern auch Leibeigenschaft [enthält], da sie von vornherein Beziehung hat auf Dienste für Ackerbau. Sie enthält in Miniatur alle die Gegensätze in sich, die sich später breit entwickeln in der Gesellschaft und in ihrem Staat” (Engels 1984[1884]: 71; Hervorhebung im Original), womit Engels auf den Klassenantagonismus zwischen den Besitzern von Produktionsmitteln und den Nicht-Besitzern von Produktionsmitteln verweist. Mit der “bevorstehenden Wegfegung der kapitalistischen Produktion” sieht Engels daher das Auftreten eines neuen Menschengeschlecht[es] verbunden: “ein Geschlecht von Männern, die nie in ihrem Leben in den Fall gekommen sind, für Geld oder andre soziale Machtmittel die Preisgebung einer Frau zu erkaufen, und von Frauen, die nie in den Fall gekommen sind, weder aus irgendwelchen andern Rücksichten als wirklicher Liebe sich einem Mann hinzugeben, noch dem Geliebten die Hingabe zu verweigern aus Furcht vor den ökonomischen Folgen” (Engels 1984[1884]: 98/99).

Es verwundert daher nicht, dass der Feminismus wie der Kommunismus oder Sozialismus nach Engels und anderer Vertreter des Sozialismus (wie August Bebel) im 19. Jahrhundert ebenso wie heute in einem engen Zusammenhang standen bzw. stehen, und beide mehr oder weniger durch Eigentums- Leistungs-, Wettbewerbs- und allgemeine Wirtschaftsfeindlichkeit sowie durch Rationalitätsfeindlichkeit und eine konsequente Individualismus- und allgemeine Männerfeindlichkeit gekennzeichnet sind, denn damit das “neue Geschlecht” Engels’ auftreten kann, muss “[d]ie platte Habgier … [als] die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute, Reichtum und abermals Reichtum und zum drittenmal Reichtum, Reichtum nicht der Gesellschaft, sondern dieses einzelnen lumpigen Individuum, ihr einzig entscheidendes Ziel” (Engels 1984[1884]: 204; Hervorhebung d.d.A), überwunden werden, und nach Engels sind die “lumpigen Individu[en]”, die aus “platte[r] Habgier” nach Reichtum streben, ja Männer. Frauen erscheinen daher nicht nur als Opfer historischer Umstände, sondern als Opfer von Männern, und dies suggeriert, Frauen seien bessere Menschen als Männer, seien kollektivistisch, würden nicht oder weniger nach Reichtum streben als Männer. Männer und Frauen stehen einander daher nicht nur als antagonistische Klassen gegenüber, sondern sie werden nach moralischen Maßstäben in ein hierarchisches Verhältnis gestellt; Frauen werden Männern moralisch übergeordnet.FN3

Bei der Entwicklung der beschriebenen Auffassung vom Patriarchat hat sich Engels – wie der Untertitel des “Ursprungs der Familie” schon sagt – sehr viel von dem übernommen, was der Amerikaner Lewis Henry Morgan in seinem Buch mit dem Titel “Ancient Society” (Morgan 1878) beschrieben und argumentiert hat. Engels hat dieses Buch allerdings nie selbst gelesen, sondern hat seine Kenntnis dessen, was in diesem Buch steht, aus den Notizen bezogen, die Marx aufgrund seiner Lektüre des Buches von Morgan angefertigt hat (Eller 2011: 105; 107; Engels 1984[1884]: 217, Anmerkung 10). Wie oben bereits angedeutet hat Engels auch Anleihen bei Johann Jakob Bachofen gemacht (Eller 2011: 109), und einiges spricht dafür, dass Engels sein Interesse an der Stellung von Frauen in der Gesellschaft erst entwickelt hat, nachdem er August Bebels “Die Frau und der Sozialismus” “Bebel 1974[1879]) gelesen hatte (Eller 2011: 115). Und bereits Bebel, der Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und (gemeinsam mit Karl Liebknecht) der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1869, hat in diesem Buch formuliert: “Die Geltung des Mutterrechts bedeutete Kommunismus, Gleichheit aller; das Aufkommen des Vaterrechts bedeutete Herrschaft des Privateigentums, und zugleich bedeutete es Unterdrückung und Knechtung der Frau” (Bebel 1974[1879]: 63; Hervorhebung im Original). Gleichheit aller, Kommunismus und “Mutterrecht” werden von Bebel also ebenso wie von Engels in einem gegenseitigem Bedingungsverhältnis gesehen; wer das eine will, muss auch das andere wollen (oder zumindest in Kauf nehmen).

Kritik:

Zunächst gilt für Engels Darstellung, was schon für die Darstellung von Harris galt, dass sie nämlich keinen Nachweis der Existenz eines Patriarchats, hier: eines (mehr oder weniger?) universellen Patriarchats seit Anbruch der menschlichen Zivilisation enthält. Dies sieht er als gegeben an, möglicherweise deshalb, weil hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern in den westlichen Gesellschaften zu seiner Zeit sicherlich von einer juristisch abgesicherten Bevorteilung von Männern gegenüber Frauen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens gesprochen werden kann. Er möchte vielmehr belegen, dass es zum Patriarchat nicht nur eine Alternative in der Zukunft geben könnte, sondern dass es im Matriarchat einmal eine universell gelebte Alternative zum Patriarchat gegeben hätte. Hierin folgt er ganz und gar Lewis Henry Morgan, dessen Buch –wie es sich in den Notizen von Marx präsentiert hat (s.o.) – niedergeschlagen haben – er im “Ursprung der Familie…” verarbeitet hat.FN4

Insbesondere stützt sich Engels auf Morgans Überzeugung, dass bestimmte Verhältnisse bei den Irokesen, einem Zusammenschluss verschiedener indigener Gruppen im Nordosten Nordamerikas, und insbesondere ihr matrilineares Verwandtschaftssystem und ihre Verwandtschaftsterminologie “Überbleibsel” eines ehemals existierenden Matriarchats seien. Bei den Irokesen werden die Schwestern der Mutter, aber nicht die des Vaters, mit dem Begriff bezeichnet, mit dem die Mutter selbst bezeichnet wird, und auch die Parallelcousinen und Schwestern werden mit demselben Terminus bezeichnet (Kreuzcousinen aber mit einem anderen) (Womack 1998: 163).FN5 Für Morgan zeigte die Praxis, bei matrilinearer Abstammungsregel kollaterale Verwandte mit denselben Termini wie lineare Verwandte zu bezeichnen, dass in der frühen Menschheit Gruppenehen üblich gewesen seien, denn wenn die Schwestern meiner Mutter ebenso wie meine Mutter die Frauen (auch) meines Vaters sind, dann mag es plausibel erscheinen, dass ich sie gleichermaßen als meine Mütter bezeichne und deren Töchter (also meine Parallelcousinen mütterlicherseits) als meine Schwestern.

Allerdings sollte man sich nicht – wie Morgan – von der Existenz klassifikatorischer Verwandtschaftsterminologien (der Begriff stammt von Morgan selbst), bei denen für lineare und kollaterale Verwandte dieselben Bezeichnungen verwendet werden (Srivastava 2005: 101/102), darüber hinwegtäuschen lassen, dass gleiche Bezeichnungen nicht unbedingt gleichartige Beziehungen und damit gleichartige Rechte und Pflichten gegenüber denjenigen, die gleich bezeichnet werden, implizieren. So wenden sich auch bei den Irokesen Kinder in der Regel zunächst an ihre eigene (biologische) Mutter, wenn sie Hunger oder sonst ein Bedürfnis spüren, als an deren Schwestern, und von der biologischen Mutter erwartete man auch bei Irokesen normalerweise zuerst, dass sie versucht, die Bedürfnisse ihres Kindes zu befriedigen.FN6

Patrilineare Abstammungslinie; Dreieck = männlich, Kreis = weiblich

Darüber hinaus bilden Abstammungs- und Erbschaftsfolgen, die nur die weibliche Linie anerkennen, also Matrilinearität, ebenso wie Matrilokalität (d.h. die Wohnfolge eines Paares bei der Familie der Frau; Panoof & Perrin 1982: 202) oder die Existenz von Frauen in wichtigen Ämtern noch kein Matriarchat, also keine Mütter- oder Frauenherrschaft, ab. So herrscht z.B. bei den Nayar in Indien Matrilinearität. Einer Matrilineage gehören alle Männer und Frauen an, die auf eine bestimmte Vorfahrin zurückgeführt werden können und Kinder weiblicher Mitglieder der Gruppe sind. Diese Gruppe stellt eine Art Kooperative dar, die ein bestimmtes Land und bestimmte Häuser besitzt und bestimmte Rechte an ihren Mitgliedern (z.B. mit Bezug auf ihre Arbeitskraft) hat. Die Kontrolle über diesen Besitz übt in der Regel aber der älteste Mann in der Gruppe aus. Man würde allerdings auch nicht bloß aufgrund dieser zuletzt genannten Tatsache von einem Patriarchat bei den Nayar sprechen wollen, denn die Kontrolle, die dieser älteste Mann ausübt, ist keineswegs umfassend und erfolgt nicht in despotischer Weise; vielmehr kann er angemessen als “Manager” des Besitzes der Gruppe bezeichnet werden (Radcliffe-Brown 1965[1952]: 36/37).

Matrilineare Abstammungslinie: Dreieck = männlich, Kreis = weiblich

Dies illustriert, dass es bei der Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse wichtig ist, zwischen der gelebten Realität in verschiedenen Lebensbereichen und zwischen der gelebten Realität und den verwendeten Bezeichnungen oder Nomenklaturen zu ihrer Beschreibung zu unterscheiden. Dementsprechend sind erhebliche Zweifel daran angebracht, dass Matrilinearität oder eine klassifikatorische Verwandtschaftsterminologie ein Überbleibsel eines ehemals existierenden Matriarchats sein müssten oder – umgekehrt – Patrilinearität immer ein Patriarchat anzeigen müsse, und damit daran, dass Morgan und Engels mit ihrer These von einem ursprünglichen Matriarchat Recht haben. Es bedeutet auch, dass die Begriffe “Matriarchat” und “Patriarchat” als zusammenfassende Bezeichnungen für Konglomerate von Abstammungs- und Erbfolgen, Wohnortsregelungen und Machtverhältnissen unangemessen sind; sie verallgemeinern die beobachtbare Realität in unangemessener Weise, indem sie von einem einzigen Elemente der Realität (wie z.B. Verwandtschaftsbezeichnungen) auf die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse schlussfolgern. Mit dem Grad, in dem diese Begriffe pauschalisieren, wird ihr Informationsgehalt aber ärmer (Zimmer 1986: 19), und soweit die Zusammenhänge der Elemente, die gemeinsam ein Patriarchat oder Matriarchat ausmachen sollen, genauer betrachtet werden, erweisen sie sich regelmäßig als schwach, teilweise als nicht vorhanden, aber niemals als zwingend.

Die pauschalisierenden Begriffe “Patriarchat” und “Matriarchat” werden daher der empirisch beobachtbaren Realität nicht gerecht, und deshalb werden diese Begriffe in der Ethnologie seit mehreren Dekaden so gut wie nicht mehr benutzt,FN7 auch nicht in der feministischen Anthropologie (Uberoi 2003: 90), denn selbst dann, wenn man den Glauben an eine systematische Unterdrückung von Frauen durch Männer nicht aufgeben möchte, gilt: “… the concept of patriarchy posits the unversality of women’s subordination in a way that tends to mask the specificities of different social formations, cultures, and stages in the individual life cycle” (Uberoi 2003: 91/92).

Ende Teil 2

In Teil 3 lesen Sie, warum Wissenschaftler mit dem Begriff “Patriarchat” nichts mehr zu tun haben wollen und, wie das Patriarchat im Rahmen des Staatsfeminismus als Kampfbegriff eingesetzt wird.

Fussnoten

FN1 Um nur einige Beispiele aus der großen Zahl von Sudien zu diesem Thema zu geben, seien genannt: Adams 1997; Haley & Wilcoxon 1997; Hanson 1989; Hobsbawm & Ranger 2012; Linnekin 1983.
FN2 Bachofen gilt der Mythos als “getreue[r] Ausdruck des Lebensgesetzes jener Zeiten, in welchen die geschichtliche Entwicklung der alten Welt ihre Grundlagen hat, als die Manifestation der ursprünglichen Denkweise, als unmittelbare historische Offenbarung, folglich als wahre, durch hohe Zuverlässigkeit ausgezeichnete Geschichtsquelle” (Bachofen 1975[…1861]: 5). Zur Kritik dieser Auffassung bzw. zu einer alternativen und den historischen Tatsachen, soweit bekannt, angemesseneren Interpretation einiger der von Bachofen zur Stützung seiner Mutterrechtstheorie angeführten Mythen s. Wesel 1980: 54-65.
FN3 Dies lässt sich auch empirisch belegen. So berichtet z.B. Gemünden von seiner Studie: “Diese Ergebnisse zeigen, dass die Rolle des Hilfsbedürftigen und [die] Rolle des Opfers für Frauen sozial anerkannt ist. Umgekehrt bestätigen sie die Annahme, dass es für Männer schwerer ist, Hilfe von Freunden oder Verwandten zu erhalten …. Die Misshandlung von Frauen wird als schwerwiegender eingestuft als Gewalt an Männern, und Frauen nehmen tatsächlich häufiger Hilfe von Freunden in Anspruch; hinzu kommt, dass Frauen üblicherweise eine höhere soziale Kompetenz als Männern zugesprochen wird und angenommen wird, dass Frauen besser über ihre Probleme sprechen können” (Gemünden 1996: 261).
FN4Einer der wenigen Punkte, in denen sich Engels von Morgan unterscheidet, ist Engels großes Interesse an der Rolle der Sexualität mit Bezug auf die gesellschaftliche Organisation bzw. den postulierten Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat und seine Auffassung von Männern als stark von sexueller Lust angetrieben und von Frauen als sexuell passiv oder Opfer der männlichen sexuellen Lust. Morgan geht im Unterschied zu Engels nicht davon aus, dass Frauen im Zuge der Promiskuität der Menschen im Zustand der Wildheit sexuellen Übergriffen von Männern ausgesetzt gewesen seien, sondern “either equal to, or dominant over, men, and … in control of sexual relations, descent, and property” (Fedigan 1986: 30) gewesen seien.
FN5 Das heißt, die Tochter der Schwester meines Vaters (also meiner Tante väterlicherseits) und die Tochter des Bruders meiner Mutter (also meines Onkels mütterlicherseits), meine so genannten Kreuzcousinen, werden von mir mit demselben Terminus bezeichnet. Die Tochter der Schwester meiner Mutter (d.h. meiner Tante mütterlicherseits) und die Tochter des Bruders meines Vaters (meines Onkels väterlicherseits) – sie sind meine Parallelcousinen – bezeichne ich ebenfalls mit demselben Terminus, der aber ein anderer ist als derjenige, den ich für meine Kreuzcousinen verwende (vgl. Panoff & Perrin 1982: 173 und 235).
FN6 Beispielsweise zitiert Mann aus einem Bericht, den Charlevoix im Jahr 1761 über die Pflege von Säuglingen bei den Irokesen gegeben hat, wie folgt: “The care which the mothers take of their children while they are still in the cradle is beyond all expression. … They never leave them, they carry them everywhere about with them” (Mann 2004: 271). Und Shafer berichtet: “Children were greatly loved, …. But each family had only the number of children which could care for adequately, seldom more than three …” (Shafer 1990: 75).
FN7 Und zwar seit der Mitte der 1960er-Jahre, um genau zu sein, denn in dieser Zeit unterzog der britische Sozialanthropologe Radcliffe-Brown die Argumentation Morgans und anderer Argumentationen für ein Matriarchat oder angebliche Überbleibsel hiervon in einfachen Gesellschaften einer Kritik (in Radcliffe-Brown 1965[1952]). “Radcliffe-Brown … noted that the terms patriarchal and matriarchal were too vague to be scientifically useful, and he operationalized these terms so that he could scrutinize them empirically. Radcliffe-Brown did not redefine the terms to save (or necessarily destroy) them. Then, using, cross-cultural, empirical accounts, Radcliffe-Brown demonstrated that no society conforms to a patriarchy or a matriarchy” (Kuznar 2008: 42/43).

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