Großbritannien und die EU: Rationale Insel – irrationaler Kontinent

Die Beziehungen zwischen der Britischen Insel und dem europäischen Festland sind schwierig, und sie waren es immer. Dies ist nicht nur eine Folge  individualistischer Inselbewohner, die mit kollektivistisch orientierten Kontinentaleuropäern so ihre Probleme haben, es ist auch ein Ergebnis der Weltläufigkeit der meisten Briten, die mehr mit den USA, Australien oder Südafrika verbindet als mit dem europäischen Kontinent. Dennoch haben Briten immer wieder, vermutlich aufgrund des eigenen Sicherheitsbedürfnisses, Anläufe genommen, um die europäische Politik zumindest mit zu gestalten. Wie so häufig hat Baroness Thatcher dies auf den Punkt gebracht: “In my lifetime, all our problems have been come from mainland Europe and all the solutions have come from the English-speaking nations of the world.”

Und wie so oft, gibt es in der britischen Comedy “Yes, Minister” die entsprechende Zusammenfassung britischer Politik, die nicht ohne das auskommt, was Britannien und die meisten hier lebenden Menschen auszeichnet: Selbstironie.

Sir Humphrey on Europe

Selbstironie ist indes etwas, das Britannien und die hier lebenden Menschen nach meiner Beobachtung erheblich vom Kontinent trennt. Hinzu kommt, dass in Britannien die Realität eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, Probleme zu lösen (nicht zufällig hat der Empirismus seine Anfänge in England genommen), während in Kontinentaleuropa und insbesondere in Deutschland, der Ideologie bei der Lösung von Problemen deutlich mehr Gewicht zukommt als der Realität und den Lösungen, die sich angesichts bestimmter Sachlagen nun einmal anbieten oder nicht bieten. Und so haben Inselbewohner und Kontinentaleuropäer seit Jahrhunderten aneinander vorbei geredet. Beispiele für das Staunen von Briten finden sich in Dickens Tale of Two Cities, eine Novelle, die voller britischem Staunen über kontinentaleuropäische, in diesem Fall französische Grausamkeiten ist. Beispiele finden sich in Jerome K. Jerome’s Three Men on the Bummel, der die Radfahrt dreier Briten durch das Deutschland des Kaiserreichs auf höchst amüsante nichts desto trotz aber befremdete Art beschreibt:

“In Germany, you take no responsibility upon yourself whatsoever. Everything is done for you, and done well. You are not supposed to look after yourself; your are not blamed for being incapable of looking after yourself; it is the duty of the German policeman to look after you. That you maybe a helpless idiot does not excuse him should anything happen to you. Wherever you are and whatever you are doing you are in his charge, and he takes care of you – good care of you; there is no denying this. …
‘You get yourself born’, says the German Government to the German citizen, ‘we do the rest….’.
I do not know if it be so, but from what I have observed of the German character I should not be surprised to hear when a man in Germany is condemned to death he is given a piece of rope, and told to go and hang himself. It would save the State much trouble and expense, and I can see that German criminal taking that piece of rope home with him, reading up carefully the police instructions, and proceeding to carry them out in his own back kitchen.
The Germans are a good people. On the whole, the best people perhaps in the world; an amiable, unselfish, kindly people. I am positive that the vast majority of them go to heaven. Indeed, comparing them with the other Christian nations of the earth, one is forced to the conclusion that heaven will be chiefly of German manufacture, But I cannot understand how they get there. That the soul of any single individual German has sufficient initiative to fly up by itself and knock at St. Peter’s door, I cannot believe. My own opinion is that they are taken there in small companies, and passed in under the charge of a dead policeman. …
The curious thing is that the same man, who as an individual is helpless as a child, becomes, the moment he puts on the uniform, an intelligent being, capable of responsibility and initiative. The German can rule others, and be ruled by others, but he cannot rule himself. …
The worst that can be said against them is that they have their failings. They themselves do not know this; they consider themselves perfect, which is foolish of them. They even go so far as to think themselves superior to the Anglo-Saxon: this is incomprehensible. One feels they must be pretending.” (197) Wie aktuell die Beschreibung ist, kann man u.a. nachvollziehen, wenn man “policeman” mit “Staat” ersetzt.

Besonders interessant sind jedoch die akademischen Versuche, mit denen in Großbritannien versucht wird, den Graben, der nicht nur im “Channel” besteht, sondern der letztlich ein Mentalitätsgraben ist und der das Festland von der Insel trennt, zu überwinden. Einer der neuesten Versuche konnte gerade an der University of Cambridge bestaunt werden. Dort haben sich Mitglieder des Department of Political and International Studies getroffen, um über das Verhältnis Großbritanninens zum Kontinent zu diskutieren. Anlaß war, wie könnte es anders sein, die Eurokrise. Um die Inhalte der Diskussion zu verstehen, muss man wissen, dass sich viele Briten seit Jahren darüber wundern, dass die Eurozonenmitglieder bei der Lösung ihrer Probleme nicht auf das zurückgreifen, was es seit Jahrzehnten an ökonomischem Wissen gibt, gemeint ist u.a. die Theorie der “optimum currency area”, die von Mundell (1961) und Kenen (1969) entwickelt wurde und in ihrem Kern besagt, dass eine Währungsunion nur dann Sinn macht, wenn (in der Formulierung von Frankel & Rose, 1998, S.1011):

  • zwischen den Staaten der Währungsunion intensive Handelsbeziehungen bestehen,
  • Ausmaß und Intensität der Handelsbeziehungen gewährleisten, dass externe Schocks innerhalb der Währungsunion gleichmäßig verteilt werden,
  • ein hohes Maß an Mobilität von Arbeitskräften über die Grenzen der Staaten der Währungsunion gegeben ist und ein ebenso hohes Maß an Lohnflexibilität,
  • eine gemeinsame Steuerpolitik und ein gemeinsames Schuldmanagements (z.B. in Form von Eurobonds) vorhanden ist.

Nun mag man zu einer Währungsunion stehen, wie man will, entscheidet man sich jedoch dafür, eine Währungsunion einzuführen, dann ist es elementar wichtig, dass die oben beschriebenen Bedingungen erfüllt sind. Anders formuliert: Wer A (Währungsunion) sagt, muss auch B (vereinheitlichtes Steuerrecht, gemeinsame Schuldverschreibungen, gemeinsame Arbeitsmarktpolitik usw.) sagen. Die Eurozonenmitglieder haben bislang nur A gesagt: Kaum eine der Voraussetzungen für das Gelingen einer Währungsunion ist in der Eurozone erfüllt, und so ist es kein Wunder, dass britische Wissenschaftler wie Brendan Simms, wenn sie nach Europa schauen, als Problemlösung empfehlen, was die Währungsunion voraussetzt und noch ein bischen mehr, nämlich: “federalize its debt and ensure it has sound finances, common political representatives, an elected president, a senate and a common language and army”.

Dass es rational sein mag, eine gemeinsame europäische Sprache an die Stelle der Sprachkakophonie der Europäischen Kommission zu setzen, ist die eine Seite, dass die Sprache für Kontinentaleuropäer aber mehr als ein Verständigungsvehikel und zudem sehr emotional besetzt ist, eine andere Sache, die zeigt, wie fremd Briten die irrationale (oder emotionale) kontinentaleuropäische Welt doch ist. Und so wirkt Robert Tombs, Geschichstprofessor aus Cambridge, mit seinem Hinweis, dass Franzosen eine englischsprachige Europäische Union nie akzeptieren würden, etwas “far out”, und die Idee, dass Franzosen wie Deutsche keine andere als die eigene Sprache als EU-Sprache akzeptieren würden, ist ihm vermutlich noch nie gekommen.

Wer die Saga um die Eurozone beobachtet, die dem sprichwörtlichen Schrecken ohne Ende gleicht, kann nicht umhin den Vorschlag von Simms, die Schulden aller Eurozonenländer einheitlich auf alle Schultern der Eurozonenländer zu verteilen, eine gemeinsame Steuerpolitik aufzustellen und auch die Einwerbung von Mitteln an Kapitalmärkten (Schuldverschreibungen) zentral über z.B. die EZB und Eurobonds abzuwickeln als, zwar angemessene Medizin zur Behandlung der schleichenden finanziellen Demenz Kontinentaleuropas (immer vorausgesetzt man will die Währungsunion fortsetzen), nichts desto trotz aber hoffnunglos rational und die kontinentaleuropäischen Befindlichkeiten nicht in Rechnung stellend zu bezeichnen.

Und abermals steht am Ende der kurzen Analyse, dass Kontinentaleuropäer und Briten viel mehr trennt als der Kanal: Es ist ein Mentalitätsgraben, der auf kurze Sicht nicht zu schließen ist. Dazu wäre eine Rationalitätsoffensive in Kontinentaleuropa vonnöten, die angesichts des derzeit herrschenden Staatsfeminismus wenig Aussicht auf Erfolg hat. Vielmehr sieht es so aus, als müsse man sich auf der Insel auf einen Kampf gegen über den Kanal diffundierende Irrationalität einstellen und dafür gilt, was Winston Churchill bereits vor 70 Jahren gesagt hat: “We shall defend our island, whatever the cost may be, we shall fight on the landing grounds, we shall fight in the fields and the streets, we shall fight in the hills, we shall never surrender”. Das ist heute natürlich bildlich zu nehmen, nicht dass mir noch jemand hegemoniale Männlichkeit vorwirft…

Literatur
Frankel, Jeffrey A. & Rose, Andrew K. (1998). The Endogeneity of the Optimum Currency Area Criteria. Economic Journal 108 (July): 1009-1025.

Kenen, P. B. (1969). The Theory of Optimum Currency Areas: An Eclectic View. Pp. 41-60 in: Mundell, Robert A. & Swoboda, Alexander K. (eds.): Monetary Problems of the International Economy. Chicago: University of Chicago Press.
Mundell, Robert A. (1961). A Theory of Optimum Currency Areas. American Economic Review 51 (4): 657-665.

Bildnachweise
Jeffrey Hill

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