Mutter Angela

Kultur ist schon etwas Lustiges. Generationen von Wissenschaftlern, Anthropologen, Soziologen, Philosophen, haben sich abgemüht, zu bestimmen, was Kultur ist und doch ist die Frage, was man unter “Kultur” zu verstehen hat, nach wie vor eine offene.

HofstedeVielleicht ist Geert Hofstede mit seiner “Software of the mind” am nähesten dran, an dem, was Kultur ist: eine Art, die Welt zu sehen, die denen, die kulturelle Kollegen sind, wie Harold Garfinkel es genannt hat, gemeinsam ist.

Wer kulturelle Kollegen sind? Na diejenigen, die eine Kultur, eine Art und Weise, die Welt zu sehen, gemeinsam haben. Das ist übrigens ein Musterbeispiel für einen Zirkelschluss und ein schönes Beispiel dafür, welche Probleme sich mit der Definition von Kultur verbinden.

Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn haben mehr als 200 verschiedene Definitionen von “Kultur” verglichen. Hier ist ihr Extrakt:

“Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behaviour acquired and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievements of human groups, including their embodiment in artefacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e. historically derived and selected) ideas and especially their attached values; culture systems may, on the one hand, be considered as products of action, on the other, as conditional elements of future action.” (aus: Kroeber, Alfred Louis & Kluckhohn, Clyde (1952). Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions. Cambridge: Cambridge University Press, p.181).

Handlungserwartungen sind demnach der Kern von Kultur. Man erwartet ein bestimmtes Verhalten als Reaktion auf eigenes Verhalten, geht davon aus, dass man das Verhalten von Kulturfremden auf Grundlage von Artefakten und Symboliken, von Werten und Normen ihrer Kultur erklären und verstehen kann – Voraussetzung dafür ist, dass einem die entsprechenden Werte und Normen etwas sagen.

Yushau Shuaib und Angela Merkel sind zueinander kulturfremd. Sie sind keine kulturellen Kollegen. Yushau Shuaib ist Journalist, Autor und Muslim und schreibt unter anderem für die Daily Post, die in Lagos erscheint:

May Allah bless Chancellor Merkel of Germany [Möge Allah den deutschen Kanzler Merkel segnen], so hat er gerade getitelt.

FDP Shuaibür Shuaib, der sich gleich zu Anfang als Muslim identifiziert, ist Angela Merkel eine “große Frau unserer Dekade”. Während manche arabischen und muslimischen Regenten, so schreibt Shuaib, ihre Länder mit Terror und Krieg überziehen und in blasphemischer Weise behaupten, dies im Namen von Allah zu tun, während sie Teile ihrer Bevölkerung zur Flucht zwingen, öffnet Angela Merkel, so seine Bewertung, in großherziger Weise die Grenzen von Deutschland, um einer Million Flüchtlingen Sicherheit und Hilfe zu bieten.

Sie verlangt viel von der deutschen Bevölkerung, da ist sich Shuaib mit dem Herausgeber des Time Magazin, das Angela Merkel gerade zur “Person of the Year 2015” gemacht hat, einig. Anders als der Herausgeber des Time Magazin fragt sich Shuaib jedoch, warum Merkel die Grenzen Deutschlands für eine Million Flüchtlinge geöffnet hat.

Seine Antwort zeigt, wie Kultur die Wahrnehmung und Bewertung von Fakten beeinflusst. Shuaib, wie gesagt, ist Muslim und betont die Einheit der Menschen, wie sie im Koran beschrieben ist:

“O mankind, fear your Lord, who created you from one soul and created from it its mate and dispersed from both of them countless men and women”

Ein Muslim, der im Einklang mit dem Koran lebt, ebenso wie ein Christ, der im Einklang mit der Bibel lebt, er kann für Shuaib nur ein guter Mensch, einer voller Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft sein. Und so ist es kein Wunder, dass er auf dieser kulturellen Basis eine Erwartung formt, die er als Erklärung für das von ihm als großherzig bezeichnete Verhalten von Angela Merkel anbietet: Sie sei eine praktizierende Christin, religiös nach eigener Angabe, Tochter eines Pastors und sagt von sich, sie wisse, dass ein höheres Wesen als Menschen vorhanden sei und dass man die Welt in Verantwortung für andere gestalten müsse.

Und schon ist die Erklärung – kurz vor der Heiligsprechung – fertig, die Yushau Shuaib seinen (nigerianischen) Lesern für das Verhalten von Merkel anbietet: Religiosität und Nächstenliebe, Gottesfürchtigkeit, Hilfsbereitschaft und Christentum, das sind die Zutaten seiner Erklärung.

Lauter Zutaten, die in der öffentlichen Diskussion in Deutschland keinerlei Rolle spielen, wenn es darum geht, die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge durch Angela Merkel zu erklären. Da die CDU immer noch das C für Christlich im Parteinamen trägt, ist das Fehlen jeder Referenz zum Christentum, zu Nächstenliebe und Religiosität zumindest erstaunlich.

Indes fragt in Deutschland niemand danach, warum Angela Merkel sich entschlossen hat, Deutschland auch offiziell zum Einwanderungsland zu machen. Statt Erklärungen gibt es Bewertungen: genau zwei, nämlich enthusiastisches Gutfinden der Zuwanderung und vergrätzte Katastrophenstimmung angesichts der Zuwanderung.

Nichts dazwischen.

Das sagt auch etwas über Kultur, über die politische Kultur in diesem Fall, die nur noch in Extremen möglich ist, nicht mehr in Maßen, nicht zielorientiert und schon gar nicht mit jener Zutat, die alleine Verständigung möglich macht: dem anderen etwas zu-gute-halten.

Yushau Shuaib würde sich gehörig wundern, er, der denkt, gute Handlungen müssten auf einer ethischen, in seinem Fall einer religiösen Grundlage basieren. Aber hier ist er eben kulturfremd mit den meisten Deutschen.

Während es für Menschen in Nigeria nachvollziehbar zu sein scheint bzw. Shuaib glaubt, dass es nachvollziehbar ist, wenn man auf christliche und muslimische oder humanistische Werte von Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft zurückgreift, um in diesem Fall das Verhalten von Angela Merkel zu erklären, kann man in Deutschland damit keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, schon weil es niemand glauben würde.

Im sozialen und reichen Westen liegen Statusängste oder moralische Profilierungssucht als kulturelle Handlungsmuster näher als humanistische Werte und damit zwangsläufig auch als Handlungsmotiv – Hilfe gegen Auszeichnung …

Das sind kulturelle Unterschiede.

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