Dämmert ein neues Parteiensystem?

Zu Beginn der Weimarer Republik hatten liberale Parteien bei Reichtstagswahlen einen Stimmanteil von gut 22%. Zum Ende der Republik waren es noch knapp 2%. Die sogenannte Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Demokratischer Partei oder Deutscher Volkspartei (mit oder ohne Regierungsbeteiligung der SPD) startete mit einem komfortablen Stimmenanteil von 76% in die Weimarer Republik. Am Ende der Weimarer Republik waren es noch 31%.

Parteiensysteme, das zeigt die Weimarer Republik, unterliegen einem Wandel: Parteien verschwinden, neue Parteien kommen hinzu. Die Stabilität der Bonner Republik, die im Wesentlichen sechs Parteien die Parlamentssitze unter sich aufteilen sieht und mit der CDU/CSU und der SPD seit der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 zwei Fraktionen hervorbringt, die regelmäßig gut zwei Drittel der Sitze im Bundestag unter sich verteilen, ist insofern etwas Außergewöhnliches.

Und sie könnte ihrem Ende zugehen, denn: Die Stabilität des Parteiensystems und damit der Regierungskoalitionen sie scheint sich aufzulösen. Und das ist nach unserer Ansicht nicht ein Ergebnis, das die AfD zur Ursache hat.

Lipset rokkanSeit sich Politikwissenschaftler empirisch mit Wahlen beschäftigen und vor allem seit dem bahnbrechenden Buch von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan “Party Systems and Voter Alignments”, gehen die meisten Wahlforscher davon aus, dass ein großer Teil der Wähler über eine stabile Parteibindung verfügt, die dazu führt, dass er bei sukzessiven Wahlen immer dieselbe Partei wählt.

Diese Parteibindung, sie hat sich als so stabil herausgestellt, dass Wählergruppen identifiziert werden konnten, die Parteien zugeordnet wurden: Selbständige wählten häufiger die FDP oder die CDU als andere Parteien. Arbeitnehmer haben ihre Loyalitäten zwischen der SPD und der CDU geteilt. Religiöse Menschen, vor allem Katholiken tendieren eher zur CDU, Lehrer wählen Grüne und die Linke findet ihre Unterstützer vornehmlich in Ostdeutschland und oft unter denen, die Hartz IV beziehen.

Jenseits dieser sozialstrukturell identifizierbaren Gruppen, deren Mitglieder eine Bindung zu einer Partei aufweisen, gibt es Wechselwähler. Wechselwähler sind offensichtlich nicht unveränderlich an eine Partei gebunden, sonst würden sie die Partei nicht wechseln und stellen entsprechend ein Erklärungsproblem dar. Gelöst hat man dieses Problem unter anderem über das so genannte “Issue Voting”. Für bestimmte Sachthemen, die einem Wähler wichtig sind, hat eine andere Partei bessere Lösungen als die Partei, der man sich ansonsten verbunden fühlt. Entsprechend wird die andere und nicht die Partei gewählt, der man sich verbunden fühlt.

Diese “Hilfshypothese” hat den Vorteil, dass man die Theorie der dauerhaften Parteibindung modifizieren kann und nicht aufgeben muss, und sie hat den Vorteil, dass weiterhin von stabilen Parteiensystemen ausgegangen werden kann, die in weiten Teilen durch Stammwähler gekennzeichnet sind.

Wir glauben und sehen Anzeichen dafür in den Daten, die wir mit unseren beiden Befragungen gesammelt haben, dass die Zeit der Stablität des deutschen Parteiensystems zu Ende geht. Rund 3.200 Befragte haben zwischenzeitlich an beiden Befragungen teilgenommen, eine solide Basis, die ausreicht um festzustellen, dass es viele Bürger in Deutschland gibt, die dem Parteiensystem komplett entfremdet sind. Sie sind nicht nur den Parteien im Bundestag entfremdet, sie haben mit diesen Parteien abgeschlossen und suchen nach Alternativen.

Normalerweise würde man annehmen, dass sich die FDP als liberale außerparlamentarische Alternative zu den ideologischen Blöcken von Linken und Konservativen im Bundestag anbietet. Das tut sie aber nicht. Unter denen, die mit dem Parteiensystem abgeschlossen haben, ihm vollständig entfremdet sind, ist die FDP nicht in der Lage, Punkte zu machen – vermutlich, weil die FDP keinerlei liberales Profil erkennen lässt, diejenigen, die mit den Leistungen der Parteien im Bundestag völlig unzufrieden sind, sich aber durch ein eher liberales Profil auszeichnen.

ChangeWie dem auch sei, die Alternative, bei der die meisten derjenigen landen, die mit den Parteien im Bundestag völlig unzufrieden sind, ist die AfD und eben nicht die FDP. Entsprechend legen unsere Daten einen Schluss nahe, der im Gegensatz zur Erzählung steht, die aus Mainstream-Medien zu hören ist und die bei den im Bundestag vertretenen Parteien vielleicht die Hoffnung bestärkt, die AfD sei ein Phänomen, das auf Nationalismus und Flüchtlingen gebaut ist.

Sie ist es nicht.

Unsere Daten zeigen deutlich, dass die AfD in der Lage ist, all diejenigen zu sammeln, die vollkommen unzufrieden mit den politischen Parteien sind, wobei diese Unzufriedenheit nicht an bestimmte Themen gebunden ist, also eine generelle Unzufriedenheit ist, keine spezielle. Das macht den Erfolg der AfD zu einem völlig anderen Spiel: Wir sehen hier nicht den Erfolg von Appellen an Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wie man es bei den etablierten Parteien gerne hätte, sondern das Ergebnis der Abkehr einer großen Zahl von – wie wir zeigen können – Stammwählern von etablierten oder im Bundestag vertretenen Parteien.

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eine generelle Unzufriedenheit mit den Leistungen einer politischen Partei, die zur Wahl einer anderen Partei führt, ein vorübergehendes Phänomen ist. Aber es gibt etliche Gründe anzunehmen, dass wir eine komplette Veränderung des deutschen Parteiensystems derzeit in ihren Anfängen sehen.

Die Daten entstammen den beiden ScienceFiles-Befragungen zu:

Beide Befragungen sind weiter online. Wer noch nicht daran teilgenommen hat, kann dies nachholen.

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