Rechenspiele mit Bertelsmann: Deutschland braucht 260.000 Zuwanderer pro Jahr oder doch nicht?

„Ich freue mich schon darauf, wenn Sie die Bertelsmann-Studie auseinandernehmen“, so schreibt uns ein Journalist, der seine Brötchen beim ZDF verdient. Sie wissen schon, die Bertelsmann-Studie, auf deren Grundlage die „Bertelsmann-Stiftung“ nach Ansicht der Jungen Freiheit, „jährlich eine Viertelmillion Zuwanderer“ fordert, also die Bertelsmann-Studie, in der „Forscher“ nach Ansicht der FAZ „jährlich 146.000 Zuwanderer aus Drittstaaten“ fordern, nein, die Bertelsmann-Studie, der man entnehmen kann, dass „Deutschland … 260.000 Zuwanderer aus Drittstaaten … braucht“, wie die Alpenprawda behauptet, bzw. die Bertelsmann-Studie, der die Tagesschau entnommen hat, dass „mehr Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten nötig“ sind.

Keine, der zitierten Titelzeilen ist korrekt. Sie sind alle falsch. Nun muss man den Angehörigen der rechercheverweigernden Zunft zugute halten, dass es ihnen Johann Fuchs, Alexander Kubis und Lutz Schneider nicht gerade einfach machen und das Vorwort von Jörg Dräger und Ulrich Kober, beide von der Bertelsmann-Stiftung, tut seinen Teil dazu, die oben zitierten Falschmeldungen zustande zu bringen, aber dennoch: Mit etwas Recherche wäre das jedoch nicht passiert.

So findet sich z.B. auf Seite 70 ein eindeutiger Hinweis: „Damit das Erwerbspotential bis 2035 nicht unter die genannten 44,6 Millionen sinkt, müssten im Durchschnitt jedes Jahr 260.000 Personen mehr nach Deutschland zuziehen als fortziehen“. Die Angaben, die in den deutschen Qualitätsmedien die Runde machen, sind somit alle Angaben der „Nettozuwanderung“, des „Zuwanderungsüberschusses“, den man nur erreichen kann, wenn in diesem Fall 260.000 Personen MEHR ZUZIEHEN als fortziehen.

Für die einen wird damit alles nur noch schlimmer, für die anderen wird damit alles nur noch dringlicher, allen gemeinsam ist eine Hysterie angesichts von Zahlen, angesichts eines Textes, in dem die Worte „Prognose“ oder „prognostizieren“ nicht ohne Grund 187 Mal vorkommen.

Fuchs, Kubis und Schneider haben mehrere „Szenarien“ berechnet und daraus eine Zahl herausgegriffen „260.000 Zuwanderer“ bis 2060 jährlich, die eigentlich schon als solche zeigen sollte, dass sie kaum eine reales Datum darstellt, sondern das Ergebnis, eben eines Szenarios. Ein Szenario zeichnet sich dadurch aus, dass es auf einer Vielzahl von Annahmen basiert. Weil Forscher in der Regel nicht wirklich sicher sind, welche ihrer Annahmen zutreffen, sofern sie überhaupt einen dahingehenden Dunst haben, berechnen sie drei bis vier Szenarien, je nachdem, in dem Veränderungen konstant gehalten werden, geringe und hohe Veränderungen modelliert werden. Die präsentierten Ergebnisse sind dann zumeist im „bottom-line“-Modell zu finden, so auch im vorliegenden Fall: Eine jährliche Nettozuwanderung von 260.000 Ausländern aus EU und Drittstaaten ist notwendig, um „die genannten 44,6 Millionen“, die von Fuchs, Kubis und Schneider als „Erwerbspersonenpotential“, das 2060 notwendig sein wird, geschätzt werden, zu erreichen.

Die 44,6 Millionen „Erwerbspersonenpotential“ sind gleichzeitig der von den Autoren als Minimum definierte Wert, bei dem „der Arbeitskräftebedarf der deutschen Wirtschaft in der Summe gerade erfüllt wird“. Wenigen wird auffallen, dass hier von „ErwerbspersonenPOTENTIAL“ und nicht von Erwerbspersonen die Rede ist. Das erklärt sich dadurch, dass das ErwerbspersonenPOTENTIAL nicht nur aus Erwerbspersonen zusammensetzt ist, 43,0 Millionen in der Schätzung von Fuchs, Kubis und Schneider, sondern auch aus Arbeitslosen, 1,6 Millionen nehmen die Autoren für 2060 an. Warum? Weil Sie die NAIRU mit 3,6% veranschlagen. Die NAIRU, die Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment“, ist das, was man früher strukturelle Arbeitslosigkeit genannt hat, der Anteil derjenigen, die gerade arbeitslos sind, weil sie einen Job wechseln, Krank sind oder aus anderen Gründen dem Arbeitsmarkt temporär nicht zur Verfügung stehen, dem sie aber potentiell zur Verfügung stehen könnten. Die NAIRU hat mit „normaler Arbeitslosigkeit“, also dem, was man gemeinhin als Arbeitslosigkeit versteht, nichts zu tun.

Zurück zu den 44,6 Millionen Erwerbspersonenpotential, das die Autoren für 2060 bestimmt haben. Es ist die Zielgröße. Diese Zielgröße versuchen sie nun, auf Grundlage von Daten zur

  • Demographischen Entwicklung Deutschlands;
  • Entwicklung der Dauer des Erwerbslebens (das ist die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters);
  • Erwerbsbeteiligung von Frauen;
  • Zuwanderung aus der EU;
  • Stillen Reserve

Für 2060 zu erreichen.

Es fehlen die Zuwanderer aus Drittstaaten, sie fehlen deshalb, weil die Bertelsmann-Stiftung die drei Forscher wohl damit beauftragt hat, die Anzahl der Zuwanderer aus Drittstaaten zu berechnen, die notwendig ist, um das Erwerbspersonenpotential, das für 2060 als Minimum definiert wurde, zu erreichen:

„Entsprechend der Fragestellung unserer Studie geht es um Zuwanderer aus Drittstaaten. Der Umfang dieser Zuwanderung wird hier als Residualgröße abgeleitet: Die durchschnittliche Nettozuwanderung aus Drittstaaten, die nötig ist, um mit dem Erwerbspotenzial den Arbeitskräftebedarf zu decken, ist die Differenz aus dem gesamten Zuwanderungsbedarf und der EU-Zuwanderung“.

Im Schnitt für die Jahre 2018 bis 2060 ergibt sich aus dieser Rechenweise ein „Zuwanderungsbedarf von jährlich 146.000 Migranten aus Drittstaaten“, schreiben die Autoren, meinen aber natürlich einen NETTO-Zuwanderungsbedarf: Es müssen 146.000 Migranten aus Drittstaaten mehr zuziehen als aus Deutschland wegziehen, pro Jahr, von letztem Jahr bis zum Jahr 2060, 146.000 Migranten Nettoüberschuss, aus Drittstaaten…

Wie lange muss man das wiederholen, bis auch der Letzte den Aberwitz solcher Berechnungen bis ins Jahr 2060 einsieht? Es handelt sich hier um ceteris paribus Rechnungen, die davon ausgehen, dass alles, was ab heute passiert, dem entspricht, was in der Vergangenheit passiert ist. Wie wahrscheinlich ist es, dass die EU-Zuwanderung demselben Muster folgt, dem sie die letzten Jahre gefolgt ist? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Erwerbsquote unter ausländischen Frauen den Annahmen folgt, die die Forscher ihren Szenarien zugrunde gelegt haben? Wie wahrscheinlich ist es, dass die Anzahl der Rentner, die auch mit 75 noch arbeiten, den Annahmen folgt, die Fuchs, Kubis und Schneider bis 2060 gemacht haben. Man kann derartige Szenarien als großangelegten induktiven Fehlschluss ansehen.

Und in der Tat haben sich die meisten Szenarien, die aufgestellt wurden, im Verlauf der Zeit, für die prognostiziert wurde, selbst überholt, als falsch erwiesen. Das schönste Beispiel einer himmelschreiend falschen Prognose ist die Ablösung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch das Paradies klassenloser Planwirtschaft, die Karl Marx vorhergesagt hat. Der Club of Rome ist geradezu für seine falschen Prognosen berühmt. 1974 haben die Spezialisten zum Beispiel das Versiegen aller Ölquellen noch vor 2000 prophezeit und eine Mega-Hungersnot für Asien vorhergesehen, die sich von Mitte der 1980er Jahre bis in die frühen 2000er Jahre ziehen soll. Morbidität scheint eine besondere Qualifikation von Prognostikern zu sein. Ob es Modelle des Klimawandels, Bevölkerungsvorausberechnungen oder die Prognosen vom Untergang der Britischen Inseln nach dem Brexit sind, sie haben sich noch alle als falsch erwiesen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich mit der Prognose von Fuchs, Kubis und Schneider anders verhält, aber jeden Grund anzunehmen, dass sich ihre Prognose nahtlos in die lange Reihe der Fehlprognosen einreihen wird.

Wer sich für die bemerkenswerte Reputation des Club of Rome, mit seinen Prognosen voll daneben zu liegen, interessiert, der kann die Reihe der Fehlschläge hier nachlesen.

Prognosen wie die von Fuchs, Kubis und Schneider haben nicht den Zweck, die Zukunft möglichst genau vorherzusagen. Sie dienen politischen Zwecken. Welchen, das kann man der Schlagzeile der Tagesschau gut ansehen: „Mehr Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten nötig“, heißt es da. Nun sind über die letzten Jahre sehr viele Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Sagen Fuchs, Kubis und Schneider, dass davon noch mehr benötigt werden?

Gerade nicht. Vielmehr finden sich in der Studie, die die Bertelsmann-Stiftung so freizügig verteilt, leise Anklänge der Kritik an der nicht-vorhandenen Planung der Zuwanderung, denn Deutschland, so die Autoren, benötigt keine Zuwanderung als solche, Deutschland benötigt Zuwanderer mit hoher Qualifikation. Vor diesem Hintergrund ist die Zuwanderung der letzten Jahre ein Fiasko, erscheint doch die „gegenwärtige Qualifikationsstruktur der Zuwanderer angesichts der künftigen Bedarfe als zu wenig von Hochqualifizierten oder zumindest vom mittleren Qualifikationsniveau geprägt“ (14). Mit anderen Worten: Die Zuwanderung der letzten Jahre war eine Zuwanderung in die Arbeitslosigkeit, interessante Konklusionen, die man aus Studien der Bertelsmann-Stiftung ziehen kann.

Blättern wir ein paar Seiten in der Studie, dann zeigen zwei Tabellen, dass bisherige Zuwanderungen die deutsche Gesellschaft unterschichtet haben. Die Asylbewerber und Flüchtlinge, selbst die Zuwanderer aus dem Osten der EU, sie wandern nicht als Fachkraft, Spezialist oder Experte in den Arbeitsmarkt, sondern als „Helfer“. Sie unterschichten den Arbeitsmarkt in genau dem Segment, in dem der Arbeitskräftebedarf in den nächsten Jahren massiv zurückgehen wird. Auch diese Zuwanderung in Hartz-IV zeigen die drei Autoren, die für die Bertelsmann-Stiftung tätig waren.

Wir haben ein Paar sehr schöne Tabellen aus der „Bertelsmann-Studie“ entnommen, die zeigen, was wir gerade berichtet haben.

Diese Funde in dem rund 100-Seiten-Werk machen die Lektüre dieser Rechenübung erquicklich und wir könnten diesen Post an dieser Stelle beenden, wenn da nicht etwas wäre, das durchgängig vorkommt und so gar nicht dargestellt wird: Das Minimum-Erwerbspersonenpotential.

Kein Journalist hat auch nur die Frage gestellt, wie die Autoren auf die Zahl von 44,6 Millionen Erwerbspersonenpotential kommen. Kein Journalist hat sich gefragt, ob Produktivitätssteigerungen, neue Verfahren, Innovationen in Fertigungstechnik, die nach aller Wahrscheinlichkeit zwischen 2020 und 2060 auf den Markt kommen werden, wie Veränderungen, die sich direkt auf den Arbeitskräftebedarf einer Wirtschaft auswirken und wie unvorhersehbare Entwicklungen in den Szenarien berücksichtigt wurden. Ja, auch unvorhersehbare Entwicklungen kann man z.B. als zufälligen Fehlerterm in einem Szenario berücksichtigen. Haben Journalisten danach gefragt, um die Qualität des Rechenmodells, mit dem Bertelsmann nun hausieren geht, bewerten zu können?

Nein.

Haben die drei Autoren Größen der Veränderung, der Innovation, der Produktivitätssteigerung, der Verhaltensänderung von Menschen, der unvorhersehbaren, deshalb zufällig modellierten Veränderungen in ihren Modellen berücksichtigt?

Nein.

Sie haben ihre 44,6 Millionen Personen, die 2060 als Minimum-Erwerbstätigenpotential notwendig sein sollen, einfach als Fortschreibung einer entsprechenden Zahl, die Zika, Helmrich, Maier, Weber und Wolter berechnet haben, gewonnen. Zika et al. haben ihre Berechnung indes in einem komplett anderen Zusammenhang angestellt. Sie haben berechnet, wie sich die Digitalisierung auf die Anzahl der Arbeitsplätze bis 2035 niederschlagen wird und sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Digitalisierung kaum auf die Menge der Arbeitsplätze auswirken wird, weil sich wegfallende und neu entstehende Arbeitsplätze fast die Waage halten. Die Analysen basieren auf 18 Annahmen. Jede einzelne davon kann sich als falsch erweisen. 18 Bruchstellen in einem Modell, die dazu führen, dass das Ergebnis schneller falsch sein kann als es den Autoren lieb ist.

Modelle, Simulationen, Szenarien sind immer so gut und so lange zutreffend, wie die Annahmen, auf denen sie beruhen, zutreffen. Kein Modell hat es je über mehr als 10 Jahre geschafft, ohne dass ein Großteil der Annahmen überholt oder falsifiziert worden wäre. Wer für einen Zeitraum von 40 Jahren eine Entwicklung oder einen Bedarf vorausberechnen will, der maximiert seine Wahrscheinlichkeit, zu scheitern, was dann irrelevant ist, wenn es nur darum geht, Politdarstellern und ihren Aktivisten-Freunden Material für den politischen Kampf oder die Legitimation getroffener Abkommen, wie z.B. den Migrationspakt oder gebrochene Abkommen wie Schengen zu verschaffen.

Für alle anderen Wissenschaftler gilt. Warum sollte man Modelle für einen Zeitraum berechnen, der die Wahrscheinlichkeit, dass die Modelle sich als falsch erweisen, maximiert?

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