Fehde um die Wissenschaft: Erinnerung an den Kulturanthropologen Napoleon A. Chagnon
von Dr. habil. Heike Diefenbach
Vor gut einem Jahr, am 21. September 2019, ist Napoleon A. Chagnon im Alter von 81 Jahren in Traverse City, in Michigan, gestorben. Napoleon Chagnon war ein U.S.-amerikanischer Kulturanthropologe, der seit 1964 bei den Yanomami – auch als Yanomamö oder Yanomama bezeichnet – im Amazonas-Regenwald, an der Grenze zwischen Venezuela und Brasilien, regelmäßig Feldforschung betrieben hat. Im Jahr 2013 konnte Chagnon auf 35 Jahre des Studiums der Yanomami zurückblicken, die noch in den 1950er-Jahren der Weltbevölkerung und der Mehrheit der Anthropologen weitgehend unbekannt, jedenfalls unerforscht, waren. Chagnon hat mehr als 25 Forschungsaufenthalte bei den Yanomami aufzuweisen, die sich auf einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren, die Chagnon bei den Yanomami verbracht hat, summieren. Der längste zusammenhängende Aufenthalt bei Yanomami dauerte siebzehn Monate (Chagnon 2013: 3). Er hat ihre Sprache erlernt und eine riesige Menge von Daten über eine Vielzahl von Aspekten des Lebens der Yanomami gesammelt, wobei er versuchte, möglichst viele quantitative bzw. quantifizierbare Informationen zu sammeln, statt sich nur oder hauptsächlich von Informanten Geschichten erzählen zu lassen, wie dies damals unter Kulturanthropologen üblich war:
„He seized all available opportunities to study the Yanomamö quantitatively, looking precisely, for example, at how causes of death correlated with age and sex, at protein intake, and at kinship patterns. Indeed, Chagnon was so oriented to the quantitative that he was one of the first anthropologists to bring a computer to a remote field site. This extraordinarily deep and broad work on a relatively isolated indigenous people was a boon for science” (Dreger 2016: 140; Hervorhebung i.O.).
Seine Ethnographie der Yanomamö mit dem Titel „Yanomamö: The Fierce People“, die erstmals im Jahr 1968 erschien, wurde nicht nur zu einem „klassischen“ Text in der Kulturanthropologie, sondern zu einem Bestseller, und das Buch löste Margaret Meads „Coming of Age in Samoa“ als das bis dahin meistgelesene kulturanthropologische Werk ab. Es folgte eine ganze Reihe von Publikationen von Chagnon als Autor oder Koautor, die (mehr oder weniger) direkt von den Yanomami handeln; die bekanntesten unter ihnen dürften sein: der Aufsatz von Chagnon mit dem Titel „Life Histories, Blood Revenge, and Warfare in a Tribal Population“ (1988) und sein Buch mit dem Titel „Nobel Savages: My Life Among Two Dangerous Tribes – The Yanomanmö and the Anthropologists“ (2013), das eine Rückschau auf seine Feldforschung bei den Yanomami und die Reaktionen, die es ausgelöst hat, enthält.
Wie der Untertitel des zuletzt genannten Buches von Chagnon andeutet, ist Chagnon aufgrund seiner Feldforschugen bei den Yanomami nicht nur einer der bekanntesten Kulturanthropologen geworden, sondern auch einer der am heftigsten kritisierten und in bestimmten Kreisen bestgehasste Forscher, den die Kulturanthropologe (bislang) hervorgebracht hat.
Manche mögen von der sogenannten „Yanomami-Kontroverse“ gehört haben, die nur zum (eher kleinen) Teil als wissenschaftliche Kontroverse durchgehen kann. Vielmehr war Chagnon ein vergleichsweise frühes wissenschaftliches Opfer einer ideologisch motivierten Diffamierungskampagne, wie sie heute im Zuge ideologischer Übergriffe auf die Wissenschaft fast schon an der Tagesordnung ist.
Die Historikerin, Journalistin und Buchautorin Alice Dreger beschreibt (u.a.) den „Fall“ Chagnon bzw. Yanomami in ihrem Buch „Galileo’s Middle Finger“ (2016), in dem sie eine Reihe von Fällen beschreibt, in denen Wissenschaftler bzw. ihre Arbeiten um der „sozialen Gerechtigkeit“ willen von Aktivisten, darunter auch von als Wissenschaftler getarnten Aktivisten, attackiert und Schmierenkampagnen unterzogen wurden, insbesondere durch Patrick Tierney, dessen Buch „Darkness in El Dorado“ eine ganze Reihe von Behauptungen über Chagnon und seine Arbeit enthält, die inzwischen als freie Erfindungen erwiesen sind (Dreger 2016: 157-170. Sie schreibt zum „Fall“ Chagnon bzw. Yanomami:
“I had decided to carefully investigate Chagnon’s story because his was said by scientists I now trusted to illuminate like no other the dangerous intellectual rot occurring within certain branches of academia – the privileging of politics over evidence. Chagnon’s appeared to be a story of what happens when liberal hearts bleed so much that brains stop getting enough oxygen. Although I had no hope of curing this pathology now infecting parts of the ivory tower, I thought it might at least be useful to study and describe an index case” (Dreger 2016: 139).
Dregers Bericht über den Fall“ Chagnon bzw. Yanomami ist m.W. der beste, weil informativste, der zur Sache bislang vorliegt. Die wesentlichen Tatsachen in diesem “Fall“ sind alle unabhängig verifizierbar (und verifiziert worden). Er sei deshalb dem interessierten Leser zur Lektüre empfohlen. Was die Hintergründe und die organisierten Interessen der an der Kontroverse Beteiligten betrifft, kann dieser Text nur sehr weit hinter der Darstellung von Dreger zurückbleiben. Eine Erinnerung an und Würdigung von Napoelon A. Chagnon kann aber kaum ohne Bezüge auf die „Kontroverse“ erfolgen.
Worin besteht die „Kontroverse“?
In der „Kontroverse“ ging es um die Beschreibung der Yanomami durch Chagnon als gewalttätig und in einem mehr oder weniger konstanten Kriegszustand befindlich und vor allem um seine Erklärung für diesen Zustand.
Chagnon berichtet von Infantizid sowohl durch Männer als auch durch Frauen, gewöhnlich durch die Mutter selbst:
„At least 38 of the 211 females eleven years old or older have terminated one or more of their live births by infanticide: a rate of 18 percent … About 4 percent of women between 11 and 19 years are reported to have killed at least one of their own infants at birth, and approximately 20 percent of females over the age 19 have done so” (Chagnon 2013: 245-246).
Chagnon berichtet ebenfalls von massiver körperlicher Gewalt gegen Frauen durch ihre – im übrigen häufig in polygynen Ehen lebenden – Männer, die anscheinend gewöhnlich durch – tatsächliche oder bloß vermutete – sexuelle Untreue der Frau ausgelöst wird (Chagnon 2013: 228-232), und er berichtet von Frauen, die aus anderen Dörfern entführt worden waren:
„In my early publications I reported that some 20 percent of the adult women in the ‚core‘ villages I worked in were abducted from other villages. This estimate did not change appreciably as a consequence of the fieldwork I did after that. The core villages I studied had a total population of 769, and an average of 22.6 percent abducted females in them” (Chagnon 2013: 228).
Wenn Chagnon (2013: 247) außerdem “…[s]everal forms of Yanomamö [f]ighting” beschreibt, muss man von der Alltäglichkeit von Gewalt bei den Yanomamö sprechen. Verbale Kämpfe und Drohrituale sind eigenständige Kampfformen bei den Yanomamö, werden aber von Chagnon nicht genauer beschrieben. Die von ihm beschriebenen Kampfformen reichen vom Wrestling über das Boxen und „side slapping“, über Kämpfe mit dem nabrushi, einer Art Kampfstab, und Kämpfen mit dem himo, einem Knüppel, aus hartem Palmholz, die in studenlanger Arbeit hergestellt und mit scharfen Kanten versehen werden (Chagnon 2013: 255; 476), bis zu Überfällen auf andere Dörfer mit Tötungsabsicht:
„… intervillage killings are not simply homicides comparable to killing someone in your own village, for example in a club fight, nor are they just blood feuds, because the Yanomamö also raid and kill people in other villages to whom they are not related and whose members may not have inflicted lethal casualties on their own village“ (Chagnon 2013: 259).
Chagnon hält fest:
“Yanomamö conflicts constitute a graded sequence of increasing seriousness and potential lethality: shouting matches, chest pounding duels, side slapping duels, club fights, fights with axes and machetes, and shooting with bows and arrows with the intent to kill … In all but the last case, fights are not intended to and generally do not lead to mortalities. Nevertheless, many fights lead to killings both within and between villages” (Chagnon 1988: 986).
Wieviel “many”, also “viele” Auseinandersetzungen, die tödlich enden, sind, zeigt Chagnon anhand quantitativer Daten:
„Studies of the Yanomamö Indians of Amazonas during the past 23 years [nämlich seine eigenen, die er seit 1964 durchgeführt hat] show that 44 percent of males estimated to be 25 or older have participated in the killing of someone, that approximately 30 percent of adult male deaths are due to violence, and that nearly 70 percent of all adults over an estimated 40 years of age have lost a close genetic relative due to violence” (Chagnon 1988: 985).
Und
„In the area I lived in during most of my research career, some 30 percent of the deaths among adult males was due to violence, mostly victims shot with arrows … About 5 percent of the deaths of adult females were also due to violence, mostly from husbands who beat them to death or shot them … (Chagnon 2013: 230);
“In my 1988 sample two-thirds of all living Yanomamö over the age of forty have lost one or more close genetic kinsman – a father, a brother, husband, or son – to violence. This fact should underscore the importance that blood revenge plays in the Yanomamö population” (Chagnon 2013: 275).
Diejenigen,die einen Menschen getötet haben, werden „unokais“ genannt; mit diesem Titel geht ein hoher sozialer Status einher. Chagnon hat festgestellt, dass „unokais“ nicht nur eine durchschnittlich größere Anzahl von Frauen hatten als Männer, die keine „unokais“ waren, sondern auch mehr Kinder:
„The bottom row (einer zuvor präsentierten Tabelle) reveals that unokais have, on average, 4.91 children compared to same-age non-unokais, who average only 1.59 offspring each, that is, unokais have three times as many offsprings as non-unokais“ (Chagnon 2013: 277; Hervorhebungen im Original).
Man kann sich leicht vorstellen, dass all dies großes Unwohlsein bei denjenigen ausgelöst hat, die im Bild vom „edlen Wilden“ und in kulturellem Relativismus sowie in Feminismus und sonstigen Varianten von Identitätspolitik für sich selbst eine emotionale Heimat zu finden versuchten. Daher konnte nicht sein, was nicht sein durfte:
„A number of my anthropological detractors accused me of inventing or exaggering Yanomamö violence – and a few of them even claimed that I was the cause of much of it. They arguend that my allegedly unpleasant demeanor provoked the Yanomamö to do violent things they never before did. But often I witnesses violence directed at wives whom I barely knew, and I frequently saw horrible scars that resulted from machete blows or arrow wounds [übrigens liegt hierfür Evidenz in Form von Photographien vor]. Missionaries and Malarialogía employees described to me similar instances in Yanomamö areas I only occasionally visited” (Chagnon 2013: 230).
Und
„Anthropologists who collect the traditional kinds of data among tribesmen now find themselves in the peculiar position of being censured simply for reporting their observations in academic journals because these data will offend some group that believes in the concept of the Noble Savage. Never mind that this concept is inconsistent with ethnographic facts. This virtual Noble Savage is a construct based on faith: In that respect anthropology has become more like a religion – where major truths are established by faith, not facts” (Chagnon 2013: 232).
Dass Chagnon die für Personen mit bestimmten Menschen- und Weltbildern verstörenden Verhältnisse bei den Yanomamö beschrieb, und zwar auf der Basis quantitativer Daten, die der Uminterpretation in weniger Verstörendes enge Grenzen setzen, war das Eine. Das Andere, für diese Personen nicht weniger verstörende, war, welche Erklärung er für die Verhältnisse bei den Yanomamö vorschlug: es war eine soziobiologisch orientierte Erklärung.
So war Chagnon, was die Erklärung der gewalttätigen Aspekte im Leben der von ihm beobachteten Yanomami – insbesondere die Blutfehde – betrifft, der Auffassung, dass sie der Aneignung natürlicher und reproduktiver Ressourcen dienen, oder anders ausgedrückt: dass sie ein Mittel darstellen, die Überlebens- und Reproduktionschancen zu maximieren, und zwar auf der individuellen wie auf der Gruppenebene:
„Human conflicts throughout history can be traced to conflicts over two fundamentally different kinds of resources. somatic resources and reproductive resources. The first kind satisfy bodily needs like growth and physiological maintenance; the second – members of the opposite sex – make it possible to leave descendants … A more sophisticated – and comprehensive – approach draws attention to the biological dimensions of natural selection and the importance of the individual survival: Reproductive resources include not only members of the opposite sex (mates) but also those immediate neighbours and allies who take risks .. helping you to acquire and protect your mates. These allies are useful, if not crucial in a social sense” (Chagnon 2013: 221).
Damit wurde Chagnon zur Zielscheibe der Ideologen unter seinen Kollegen:
„Neither field biologists nor intelligent laymen find my results strange or unusual. But a small, highly vocal number of cultural anthropologists seem to be very upset by my data. One anthropologist … even accused me of suggesting that the Yanomamö ‘had a gene for warfare.’ In cultural anthropology, when you want to pour scorn on an adversary, you suggest that he is claiming that ‘genes’ cause ‘culture’ and he is therefore a ‘genetic determinist’. For good measure, you can call him a “biological reductionist’ as well. One of my former professors cynically observed that anthropologists really don’t have colleagues – they just have co-conspirators” (Chagnon 2013: 278).
Wo Autoren, die Chagnons Beschreibung oder Erklärung emotional ablehnen, Gegenrede üben wollen, ohne vernünftige Argumente gegen sie vorbringen zu können, werden sie Opfer ihrer eigenen Assoziationen. Beispielsweise haben Lizot und Dart (1994: 845) – in Ermangelung methodischer oder theoretischer Gegenargumente – Chagnon unterstellt, er zeichne
„[a] grotesque and malevolent image of the Yanomami … in indisputably racist terms, the Indians being presented as bloodthirsty people obsessed with the desire for murder”.
Tatsächlich spricht Chagnon an keiner Stelle von einem “Wunsch nach Mord” oder einem “Kriegsgen”, aber das Zitat macht deutlich, wie die Assozationskette von Lizot und Dart aussieht: Biologische Konzepte lösen bei ihnen wüste Phantasien über Mordwünsche und Kriegslust aus, und diese, ihre eigenen, Phantasien, projizieren sie dann zurück auf Chagnon, der biologische Konzepte angesprochen hat, und „strafen“ ihn sozusagen für ihre eigene mentale Befindlichkeit, indem sie die Benutzung biologischer Konzepte mit „Rassismus“ gleichsetzen, d.h. einmal mehr: assoziieren.
Wenig überraschend bleiben sie jeden Beleg dafür schuldig, was an Chagnons Darstellung „rassistisch“ sein soll; in ihrer Assoziationskette erscheint es als eine Zwangsläufigkeit, und dass ihre Assoziationskette einigermaßen idiosynkratisch ist, ist ihnen offensichtlich nicht bewusst. Wenn empirische Daten im Vergleich zur psychologisch machtvollen Assoziationskette der Autoren bloß eine Randerscheinung sind, dann erklärt das, warum sich Lizot und Dart nicht mit den Daten auseinandersetzen, auf die Chagnon seine Beschreibung der Yanomami gründet, bzw. mit den Methoden der Datensammlung oder mit der Angemessenheit von Schlussfolgerungen aus den Daten, wie man dies von Wissenschaftlern erwarten würde.
Vielmehr wollen sie Chagnon dafür verantwortlich machen, dass
„[i]n Brazil, the newspapers that support the mining interests [im Siedlungsgebiet der Yanomami] have taken up the Science article [von Chagnon über die Yanomami] and the ensuing commentary with relish, using them to justify the ongoing genocide” (Lizot & Dart 1994: 845),
also dafür, dass etwas, was er geschrieben hat, von entsprechend interessierter Seite so interpretiert oder absichtlich so dargestellt werden kann, dass es ihren Interessen dient.
Nach Lizot und Dart müssen Anthropologen (und vermutlich alle Wissenschaftler), weil
„… content and … unfortunate political consequences of [a] theory … quite obviously intimately intertwined” (Lizot & Dart 1994: 845)
sind, zuerst die – im übrigen unmöglich zu bewältigende – Aufgabe erfüllen, alle möglichen, plausiblen und unplausiblen, naheliegenden und nicht naheliegenden Varianten des ideologischen oder politischen Missbrauchs ihrer Daten durch alle möglichen Interessenvertreter absehen und anschließend auswählen, welche Interessen ihnen gerade sympathischer sind als andere, welche sie eher teilen als andere, um auf dieser Grundlage eine Theorie darzubieten, die notwendig ist, um eine Arbeit als eine wissenschaftliche Arbeit erscheinen zu lassen. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Umgang mit der eigenen Arbeit an ideologischen Maßstäben auszurichten oder ggf. zu manipulieren und Theorien von vornherein zu verwerfen oder totzuschweigen, die von jemandem, den man nicht mag, für dessen Zwecke missbraucht werden könnte.
Chagnons zynischer Professor scheint Recht zu haben; zumindest diese Anthropologen, Lizot und Dart, sind nicht Anthropologen-Kollegen von Chagnon, sondern Konspirateure und Manipulateure im Dienst dessen, was sie sich als „gute Sache“ auf die Fahnen geschrieben haben, denn die Forderung nach ideologischer Unbedenklichkeit würde Anthropologen zwingen, ideologische oder politische Stellung zu nehmen und ihre wissenschaftliche Arbeit ideologischen oder politischen Konflikten unterzuordnen, bis hin zu absichtlichen Auslassungen oder Falschdarstellungen Materialien, die sie gesammelt haben.
Die konsequenten unter den Anthropologen würde diese Forderung dazu zwingen, Wissenschaft, hier: Anthropologie, gänzlich aufzugeben, weil jedes Datum, das irgendwie interpretiert und benutzt wurde, gegen sie als Urheber verwendet werden kann und sie einer Schmierenkampagne unterzogen werden können – wenn sie nicht wie in totalitären Staaten der regelrechten, Leib und Leben bedrohenden, Verfolgung ausgesetzt sein können.
In jedem Fall ist die Wissenschaft der Verlierer. Chagnon geht es aber um die Wissenschaft Anthropologie, und wie jede Wissenschaft erfordert sie eine möglichst breite Datenlage, weshalb Chagnon in einem im Jahr 2001 geführten Interview – völlig zurecht – mit ein wenig Stolz auf die eigene Arbeit festgehalten hat:
„I think that I’ve produced one of the most significant and rare sets of archives and anthropological data that could have possibly been collected in this kind of a society … It may turn out that future anthropologists will have to rely entirely on archived materials – the sort I collected – to figure out some of the questions they want answers to about the primitive world. People like the Yanomamö arent’t going to be around very long”
Anthropologische Berichte, die auf Daten beruhen, die nach bestem Wissen und Gewissen und in im Prinzip überprüfbarer Weise – und das heißt u.a.: quantitative Daten – gesammelt wurden, zu unterschlagen, würde nicht nur die Anthropologie als Wissenschaft unmöglich machen und sie zu einer Laber-Einrichtung zur Pflege der Flosklen degradieren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt en vogue sind. Es wäre auch ein Diebstahl der Geschichte der Menschheit.
Das bedeutet nicht, dass man Menschen mit technologisch einfache(re)n Kulturen in der Zeit „einfrieren“ soll oder kann, und Ferguson (2015: 380) hat zurecht bemerkt, dass Chagnon den Yanomami keine Geschichte zugesteht oder sie nicht hinreichend in Rechnung stellt, wenn er die Yanomami als „… our contemporary ancestors“ (Chagnon 1983: 213–214) bezeichnet.
Aber wenn es auf der beschreibenden Ebene Aufgabe von Kulturanthropologen ist, Lebensweisen und kulturelle Erzeugnisse verschiedener Gruppen von Menschen für die Nachfahren zu dokumentieren, die ansonsten mit großer Wahrscheinlichkeit der Vergessenheit anheim fallen würden, dann ist auf der explanativen Ebene, d.h. der Ebene der Erklärung aber immer noch zu fragen, welche Aspekte welcher Geschichte für die Erklärung kultureller Erzeugnisse oder Phänomene relevant sind und welche nicht.
Ferguson selbst illustriert diesen Umstand sehr gut. In seinem Text stellt er eine ganze Reihe von Veränderungen dar, die der Kontakt der Yanomami mit Europäern (wahrscheinlich) ausgelöst hat, vom Verschwinden der Kreuzcousinenheirat über einen veränderten Status des „[h]eadman“ (Ferguson 2015: 390) u.a.m. bis hin zur Verfügbarkeit von Waffen und Geräten aus Stahl im Rahmen neuer Handelsbeziehungen, und er begeht auf der Grundlage seiner Beschreibung der Veränderungsprozesse den ob seiner Einfältigkeit erstaunlichen Fehlschluss:
„When Chagnon arrived, the people of the Orinoco-Mavaca area represented a Yanomami life-style in extreme conflict mode, unlike most other Yanomami … Incessant warfare is not their natural condition” (Ferguson 2015: 301).
Aus der Existenz von historischen Ereignissen oder Veränderungsprozessen kann man nicht logisch korrekt schließen, dass diese Ereignisse oder Veränderungsprozesse die (oder auch nur: eine) Ursache für eine zu einem späteren Zeitpunkt beobachtete Realität sind. Und selbst dann, wenn sie es wären, könnte man daraus nicht logisch korrekt auf das schließen, was die „natural condition“ von Menschen oder Menschengruppen ist.
Der Vergleich der von Chagnon beobachteten Yanomami mit „other Yanomami“, in deren Leben Gewalttätigkeiten anscheinend eine (deutlich?) geringere Rolle spielen, sagt ebenfalls nichts aus, denn wenn Ferguson meint, historische Ereignisse oder Veränderungsprozesse zur Erklärung der Gewalttätigkeit mancher Yanomami-Gruppen heranziehen zu können, dann muss er auch die Möglichkeit einräumen, dass die relative Abwesenheit von Gewalttätigkeit bei anderen Yanomami-Gruppen eine Folge historischer Ereignisse oder von Veränderungsprozessen ist. Und das bedeutet, dass deren relative Gewaltlosigkeit die durch historische Ereignisse oder Prozesse – wie z.B. der Anspruch einer zentralen Verwaltung auf das Gewaltmonopol oder die Friedensbotschaft der christlichen Missionare – zu erklärende „Abweichung“ darstellt.
Will man durch Geschichte erklären, dann ist die Gefahr, eine Geschichte zu behaupten, die man nicht belegen kann, damit sie zur erwünschten Erklärung passt, sehr groß. Und auch das illustriert Ferguson sehr gut, wenn er schreibt:
„Raiding is likely to be frequent when there is a major change in the [W]estern presence which dramatically alters the influx of steel – such as when a mission opens, moves, or shuts down. Major change means that established intergroup relations break down. If the western presence remains steady in one place, accommodations of one sort or another eventually lead to little or no raiding. That, in a nutshell, is how I explain variations in times of war or peace, and what sort of group attacks whom (Ferguson, 1995: 55, 344–9).
Woher will Ferguson wissen, dass “raiding” vor der “Western presence” nicht häufiger war als im häufigsten Fall nach „Western presence“? Als Chagnon sich in den 1960er-Jahren zum Forschungsaufenthalt zu den Yanomami aufmachte, waren diese – wie schon gesagt – so gut wie unbekannt und dementsprechend unerforscht. Ferguson spekuliert über die Geschichte der Yanomami nach seinem gusto und ohne seine Spekulation auf entsprechende Daten stützen zu können.
Genau deshalb ist es für die Anthropologie so wichtig, quantitative Daten zu sammeln, wann irgend möglich, und für die Nachwelt zu dokumentieren (und hierum hat sich Chagnon zweifellos sehr verdient gemacht): Erklärungen durch Rückgriffe auf historische Ereignisse sind bestenfalls möglich, wenn verlässliche Daten, idealerweise im Zeitverlauf, vorliegen. Liegen sie nicht vor, bleiben solche Erklärungen bloße Spekulationen und sind nicht mehr und nicht weniger willkürlich und unprübar wie Erklärungen durch „natürliche Anlagen“ oder durch Zugewinne evolutionsbiologisch aufgefasster „fitness“ o.ä.m.
Die In-Rechnung-Stellung von „Kontext“ in Form von Historie ist deshalb nicht an sich ein „gutes“, d.h. ein für die Wissenschaft nützliches, Unterfangen. Es dürfte normalerweise sehr schwierig und häufig unmöglich sein, durch Daten belegen zu können, dass genau dieser oder jener Aspekt der Geschichte diese oder jene Folge gehabt hat (oder gar: gehabt haben muss).
Wenn Erklärungen für beobachtbare Phänomene angeboten werden, die diese Phänomene als nachgerade notwendige Folge geschichtlicher Ereignisse oder Abläufe darstellen, tut dies Wissenschaft also ebenso Gewalt an wie der Versuch, die Sammlung und Veröffentlichung von Beobachtungsdaten ideologischen oder politischen Erwägungen unterwerfen zu wollen. Wissenschaftler müssen sich faktengestützter Forschung verpflichtet fühlen. Wer sie politischen oder ideologischen oder sonst welchen missbräuchlichen Erwägungen unterwerfen will, der ist Ideologe oder Aktivist, aber kein Wissenschaftler.
Das bedeutet nicht, dass das, was der Aktivist sagt, per se irrelevant oder unrichtig sei, aber es bedeutet, dass man nicht Aktivist und Wissenschaftler gleichzeitig sein kann:
„Good scholarship had to put the search for truth first and the quest for social justice second … I realized that there’s a practical reason for this order: Sustainable justice couldn’t be achieved if we didn’t know what’s true about the world … But there was also a more essential reason for putting the quest for truth first: it was who we scholars were supposed to be … We scholars had to put the search for evidence before anything else, even when the evidence pointed to facts we did not want to see. The world needed that of us, to maintain – by our example, our existence – a world that would keep learning and questioning, that would remain free in thought, inquiry, and word” (Dreger 2016: 136-137).
Es gehört zum Leben als erwachsener Mensch, dass man Wahlen trifft, und es gibt nun einmal keine Wahlen zwischen nur Gutem und nur Schlechtem. Das gilt es auszuhalten, um handlungsfähig zu sein.
Kulturanthropologen wie generell alle Wissenschaftler werden, wenn sie sich als Moralisten aufführen, zur Gefahr sowohl für die Wissenschaft als auch die Moral, auch oder gerade dann, wenn sie sich auf der „richtigen“ Seite wähnen, und dies wurde mit Bezug auf die Anthropologie in neuerer Zeit auch von Fassin vertreten:
“I would not consider too reassuring the fact of supposedly being on the ‘good’ side, since blurring of genres (analytical and normative) serves neither science nor politics” (Fassin 2008: 337).
Das bedeutet nicht, dass für Moral in der Anthropologie kein Platz wäre; es bedeutet vielmehr, dass eine „moralische Anthropologie“ nur eine Anthropologie der Moral sein kann, ganz so, wie man eine Anthropologie der Verwandtschaft oder eine Anthropologie der Wirtschaft betreiben kann. D.h. eine „moralische Anthropologie“ hat Moral zum anthropologischen Forschungsgegenstand; sie ist keine Anthropologie, die unter der Aufsicht der Moral – die notwendigerweise eine Moral bestimmter Leute zu bestimmten Zeiten ist – steht. In den Worten von Fassin.
„When I talk of ‘moral anthropology’, the validity and relevance of which I assert here, I do not mean that I want anthropology to act for the good of humanity (which, anyway, would not be shameful) and anthropologists to become moralists (at least as part of their professional activity): I merely plead for an anthropology which has morals for its object – in other words, which explores how societies ideologically and emotionally found their cultural distinction between good and evil, and how social agents concretely work out this separation in their everyday life. A medical anthropology does not cure – it is interested in local knowledge and practice about illness. A religious anthropology does not proselytize – even if researchers sometimes get converted to the doctrine or mystique they study. A political anthropology does not tell whom to vote for – although some might let their audience know where their preference lies. Similarly, a moral anthropology does not propose a code of good conduct or a guide towards a better society” (Fassin 2008: 334; Hervorhebung d.d.A.).
Und sie verwirft Interpretationen bestimmter beobachteter Sachverhalte (oder sogar die Existenz dieser Sachverhalte) bei einer Gruppe von Menschen nicht einfach deshalb, weil sie dem eigenen Geschmack nicht entspricht oder weil sie für diese Gruppe von Menschen irgendwie nachteilig sein könnte.
Vor dem Hintergrund, dass der Idee der Wissenschaft ein Streben nach Erkenntnis empirisch zutreffender Sachverhalte zugrundeliegt, ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Moral, wenn sie integer ist, d.h. ohne ideologische Vorbehalte und unter Einhaltung der Regeln logischen Denkens und wissenschaftlicher Forschungsmethodologie erfolgt, immer auch in diesem anderen Sinn eine moralische Anthropologie, d.h. eine Anthropologie, die den wissenschaftlichen Grundsätzen treu bleibt.
Anthropologen müssen als Menschen, als Individuen, moralische Verantwortung übernehmen, und als Anthropologen haben diese Menschen eine Verantwortung der Wissenschaft und den Rezeptoren wissenschaftlicher Forschungsbefunde (die im übrigen gewöhnlich die Forschungen durch ihre Steuergelder finanzieren) gegenüber.
Chagnon hat insofern zweifellos moralische Anthropologie betrieben (was man von der Mehrzahl seiner Kritiker schwerlich behaupten kann). Nicht nur seine kulturanthropologischen Arbeiten zeigen dies. Chagnon hat sich Zeit seines Lebens für eine wissenschaftliche Kulturanthropologie eingesetzt und sich (wie Fassin; s.o.) gegen die Vermischung von Normativem und Analytischem gewendet. So hat er sich z.B. in einem Interview zum Zustand der Kulturanthropologie bzw. Veränderungen in der Kulturanthropologie wie folgt geäußert:
“In addition to these changes in the subject matter itself, new approaches, styles, and intellectual directions developed — “postmodernism,” political activism on behalf of native peoples, gender studies, and other -isms that shared, in general, a skepticism bordering on contempt for the scientific method and evolutionism. Finally, in my estimation, the cultural branch of anthropology tended to have increasingly fewer academic guidelines and rules, intellectual demands, and rigorously structured graduate programs that entailed comprehensive training in, for example, linguistics, statistical methods, field research requirements, and general knowledge about the history of the discipline. It was very possible for someone to earn a Ph.D. in anthropology and essentially know only about one specialized topic — like the reasons why women in rural Poland were suppressed and unable to have their voices heard”
Hoffen wir, dass Chagnons Vermutung, dass sich die wissenschaftliche Anthropologie gegenüber normativen Übergriffen durchsetzen wird, möglichst bald bewahrheiten wird:
„… I think those departments of anthropology whose members adhere to the scientific method will endure and again come to be the ‘standard’ approach to the study of Homo Sapiens, while those that are nonscientific will become less and less numerous or eventually be absorbed into disciplines that are nonanthropological, like comparative literature, gender studies, philosophy, and others”.
Und falls bestehende anthropologische Abteilungen an bestehenden Einrichtungen Idee und Praxis der Anthropologie als Wissenschaft nicht wiedergewinnen können, mag das bedauerlich sein, aber kein nachhaltiger Schaden, denn dann werden andere oder neue Institutionen an die Stelle der untauglich gewordenen Einrichtungen treten solange es die Idee der Wissenschaft gibt und den Wunsch, Wissenschaft zu betreiben.
Literatur:
Chagnon, Napoleon A., 2013: Noble Savages: My Life Among Two Dangerous Tribes – the Yanomamö and the Anthropologists. New York: Simon & Schuster.
Chagnon, Napoleon A., 1988: Life Histories, Blood Revenge, and Warfare in a Tribal Population. Science 239(4843): 985-992.
Chagnon, Napoleon A., 1968: Yanomamö: The Fierce People. New York: Holt, Rinehart & Winston.
Dreger, Alice, 2016: Galileo’s Middle Finger: Heretics, Activists, and One Scholar’s Search for Justice. New York: Penguin.
Fassin, Didier, 2008: Beyond Good and Evil? Questioning the Anthropological Discomfort with Morals. Anthropological Theory 8(4): 333-344.
Ferguson, R. Brian, 2015: History, Explanation, and War among the Yanomami: A Response to Chagnon’s Noble Savages. Anthropological Theory 15(4): 377-406.
Ferguson, R. Brian, 1995: Yanomami Warfare: A Political History. Santa Fe: American Research Press.
Lizot, Jacques & Dart, Sarah, 2008: On Warfare: An Answer to N. A. Chagnon. American Ethnologist 21(4): 845-862.
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Wertvoller Beitrag, werde ich mir bookmarken zusammen mit:
https://evolutionistx.wordpress.com/2015/06/08/no-hunter-gatherers-were-not-peaceful-paragons-of-gender-equality/
@Bill Miller
Danke! Ich freue mich, dass Sie den Text wertvoll fanden.
Eigentlich sollte jeder mit ein wenig Lebenserfahrung den menschlichen Hang zur Gewalt kennen. Und der begleitete uns von Anfang an. Nur die Mittel (Waffen) haben sich verändert und wurden weiterentwickelt. Er ist genauso bei unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Schimpansen vorhanden. Ich erinnere mich an ein Interview mit Jane Goodall, in dem sie erzählte, wie schockiert sie war, als sie das erste Mal erlebte, wie eine Schimpansengruppe eine andere überfiel und mit welcher Gewalttätigkeit das einher ging.
Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Hang zur Gewalt zu tun haben, sondern mit dem nackten Kampf ums überleben. Wer die Vorstellung vom Edlen Wilden hat glaubt wahrscheinlich auch, der Strom kommt aus der Steckdose und das Essen wächst (umweltfreundlich) im Bio-Laden.
Es muss ja einen Grund haben, dass der Mensch das Jäger- und Sammler Leben zugunsten der schweren Feldarbeit aufgegeben hat.
So habe ich mal vor längere Zeit in der ARD(!) eine Doku über Amazonas-Indianer gesehen. Da wurde gesagt, dass bei Mehrlingsgeburten nur ein Baby leben gelassen wurde, weil sie max. nur ein Kind durchbringen konnten (sonst wären alle verhungert).
Die Frauen entführen? Leicht zu verstehen: Inzest vermeiden; schließlich waren die Dörfer sehr klein (auch in Europa gibt es heute noch vielerorts den Hochzeitsbrauch, die Braut vorher zu “entführen”).
Es gibt inzwischen viele Forschungen, die die Gewalt unter den Germanen belegen. Daran stört sich seltsamerweise niemand (naja, auch zu “verstehen”, denn das sind ja Weiße, also per se schlecht und damit nicht rassistisch :-()
Sehr geehrte Frau Dr. Diefenbach,
ich bin ein Ungschdudierter, deswegen fehlt mir wegen der englischen Texte wahrscheinlich Wesentliches. Und genau darauf kommt es mir an; das Verhalten der Feinde von Chagnon. Das soziale Verhalten der Yanomami ist wohl in Variationen ähnlich dem der Römer vor der Christianisierun, quasi Abtreibung halt nach der Geburt.
Wenn sich Herr Chagnon erlaubt, die Zuständ dort moralisch zu bewerten, dann hat er natürlich nicht nur Sozialisten am Hals.
Freundliche Grüße
Ich habe auch Schwierigkeiten mit engl. Texten; da hilft z.B. DeepL (https://www.deepl.com/de/translator)
@Konrad Kugler; user 0815
Ach ja, ich weiß, dass ein Teil unserer Leser Schwierigkeiten mit dem Englischen hat, und es tut mir sehr leid, wenn deshalb einiges, wovon wir berichten, unklar bleibt oder nur in Teilen verständlich ist.
Wir versuchen bei Zitaten, auf deutsche Übersetzungen zurückzugreifen, wenn es uns möglich ist, aber oft ist es leider nicht möglich:
Häufig gibt es einfach keine deutsche Übersetzungen von wichtigen Büchern oder Texten, und schon gar nicht von Büchern oder Texten, die ihrerseits wichtige Bücher und Texte zum Gegenstand haben. Im Fall von Chagnon ist das Buch von Dreger ein solches Buch, und solche Bücher – Bücher, die andere, wichtige Bücher, ihre Autoren, ihr Zustandekommen, die Reaktionen auf sie, zum Gegenstand haben, werden typischerweise nicht ins Deutsche übersetzt, selbst, wenn das Buch, das behandelt wird (hier: von Chagnon) übersetzt worden ist.
Wenn es deutschsprachige Übersetzungen gibt, sind sie oft schwierig zu bekommen (besonders hier in Wales) und besonders dann, wenn es sich um relativ alte Bücher handelt. Während der letzten Jahrzehnte ist Deutschland auch zunehmend provinziell geworden; viel englischsprachige Literatur, die in anderen Ländern rezipiert und übersetzt wird, wird in Deutschland einfach nicht zur Kenntnis genommen oder – aus welchen Gründen auch immer; das wäre ein anderes Thema – nicht übersetzt.
Gerade deshalb bemühen wir uns, solche in Deutschland mehr oder weniger unbekannten oder “vergessenen” Bücher und die Diskussionen um die Dinge, die sie behandeln, aufzunehmen und sie deutschen Lesern vorzustellen (oder in Erinnerung zu bringen) und einigermaßen zugänglich zu machen. Aber wenn wir, was wir schreiben, mit Textstellen oder Zitaten belegen, dann müssen wir in diesen Fällen eben in Englisch zu zitieren.
Und hinzu kommt, dass wir zwar über eine recht große und, wie ich meine, gut sortierte, eigene Bibliothek verfügen, aber die bei Weitem meisten der Bücher in der Bibliothek sind englischsprachig, eben weil es – wie gesagt – keine Übersetzungen gibt, aber vor allem, weil wir meinen, dass man Bücher, wenn es einem möglich ist, immer in der Originalsprache lesen sollte. Erfahrungsgemäß ist die Qualität von Übersetzungen sehr unterschiedlich (sie reicht von wirklich guten, sinnadäquaten Übersetzungen bis hin zur Entstellung des Inhaltes).
Deutsche Übersetzungen von Büchern anzuschaffen, die wir bereits im Original in der Bibliothek stehen haben, wäre zeitaufwendig, teuer, oft gar nicht möglich (wenn die Bücher vergriffen sind).
Wenn wir die Zeit dafür finden, dann übersetzen wir wichtige englische Zitate manchmal selbst ins Deutsche, aber meistens ist unsere Zeit knapp (und die Zitate lang), und wir können das oft nicht leisten – leider.
Immerhin kann man den Inhalt englischsprachiger Zitate im Kern erfassen, wenn man ein Übersetzungsprogramm wie Google Translate benutzt: einfach “Google Translate” im Google suchen, den englischsprachigen Text in die eine Spalte kopieren, und für die andere Spalte “German” bzw. “Deutsch” auswählen!
Diese Übersetzungen sind gewöhnlich etwas “schräg”, Nuancen gehen verloren, aber wie gesagt wird der Kern dessen, was im Zitat steht, oft hinreichend klar.
“deepl.com/de/translator” kenne ich nicht und kann daher nicht sagen, wie angemessen die Übersetzungen sind, die es produziert, aber wenn “user0815” das Programm hilfreich findet, ist es sicherlich einen Versuch wert.
Also: Wir sind uns des Problems bewusst, können es aber nur ansatzweise lösen und bitten um Ihr Verständnis hierfür.
Immerhin hat das Ganze auch zwei positive Aspekte:
Es klingt komisch, aber es ist ja ein Grund zur Freude für uns, wenn es jemand bedauerlich findet, dass er die Zitate in einem Text nicht verstehen kann; immerhin findet er die Texte interessant genug, um das zu bedauern!
Und außerdem ist es nicht schlecht, wenn man ein Gefühl dafür bekommen, WIE eingeschränkt der Zugang zu Informationen in Deutschland ist, wenn man auf deutschsprachiges Material angewiesen ist. Man lernt dann, in Rechnung zu stellen, dass da draußen vieles ist, was andere Leute wissen und diskutieren, was es noch über die in Frage stehende Sache zu wissen gäbe, was vielleicht ein anderes Licht auf die Dinge wirft.
Das ist etwas, was einem umso mehr bewusst wird, je mehr Sprachen man lernt – und das ist das eigentlich Faszinierende am Sprachen-Lernen: dass sie einem jede Menge neue Zugänge zu Informationen verschaffen und damit neue Einblicke in oft gänzlich andere Kontexte, neue Argumente etc.
Ich erlebe das gerade wieder: ich habe den lockdown dazu genutzt, Italienisch zu lernen und kann inzwischen schon einige Bücher lesen und wissenschaftlichen Texten folgen, die “meine” Gebiete behandeln. Mal sehen, wann ich “reif” bin, Antonio Genovesi oder Bruno Leoni im Original zu lesen …
Leider bin ich ein Fremdsprachen-Depp; Ich habe bisher jeden Fremdsprachenlehrer zur Verzweiflung gebracht 😉 . Deswegen kann ich in dieser Frage nur neidisch auf Sie sein, denn schließlich ist es für mich schon hinderlich, dass ich praktisch kein Englisch kann (ich MUSSTE in der Schule Russisch lernen).
Mir ist schon klar, dass wiss. Arbeiten heute alle in englisch verfasst werden. Deswegen bin ich sozusagen ein Experte für Übersetzungsprogramme geworden und deshalb kann ich sagen, dass DeepL erheblich besser ist als Google oder Bing (ich bekomme kein Geld von denen), sowohl was das Ergebnis betrifft als auch die Bedienung (wenn man das Programm installiert; man kann es aber auch so benutzen wie Google Translate).
Zur Aussage:
“Wenn es deutschsprachige Übersetzungen gibt, sind sie oft schwierig zu bekommen (besonders hier in Wales) und besonders dann, wenn es sich um relativ alte Bücher handelt”
Bei Archive.org war ich vor 1-2 Jahren sehr positiv überrascht zu sehen daß viele der alten Bücher (4,7 Mio Bücher, mit vermutlich auch doppelt Zählungen)
https://archive.org/details/books
dort verfügbar sind.
Andererseits, u.a. das grundlegende Buch: “Logik der Forschung” von Karl Popper ist zunächst auf Deutsch erschienen. Leider sind das anteilig vermutlich immer weniger Bücher. (Auf Archive konnte ich übrigens nur die englischsprachige Version: “The logic of scientific discovery” finden).
Sehr interessanter Artikel! Danke hierfür!
Großen Dank für diese lehrreichen Ausführungen. Vielleicht interessiert Sie noch Folgendes, das für genetische Faktoren und das Fitness-Konzept bei den Y. spricht. Zu den ungelösten Fragen der Evolutionsbiologie des Menschen gehört, warum es eigentlich noch Linkshänder gibt. Vergessen wir die Folklore über die besonderen Begabungen von Linkshändern etc. und wenden wir uns harten Daten zu. Linkshändigkeit, die i.W. erblicher Natur ist, ist gegenüber Rechtshändigkeit mit Fitness-Kosten verbunden, so haben Linkshänder im Mittel weniger Nachkommen, erreichen später die Pubertät und haben eine kürzere Lebenserwartung. Warum also gibt es sie noch? Hier kann man versuchsweise das Konzept der antagonistischen Pleiotropie anwenden, welches besagt, dass Fitness-Kosten eines Merkmals durch damit verbundene anderweitige Fitness-Vorteile kompensiert werden können. Wir kennen das z.B. von der Sichelzellenanämie. Was also könnten die Vorteile der Linkshändigkeit sein? Werkzeugmachen usw. kommen nicht in Frage, wohl aber der Kampf. Ein Linkshänder hat gegenüber einem Rechtshänder im Kampf Vorteile, da er unerwarteterweise auf der gleichen Seite kontern kann. Das geht natürlich nur, solange die Linkshänder nicht allzu häufig sind, da sie sonst auch leicht auf Linkshänder treffen könnten, bei denen ihr Kampfvorteil entfällt. Der maximale Prozentsatz könnte bei 20% liegen. Diese Hypothese wurde von Faurie & Raymond 2005 geprüft, indem man die Zahl der homicides pro Jahr pro 1000 Einwohner in verschiedenen Populationen als Maßstab nahm und den Prozentsatz der Linkshändigkeit dagegen auftrug. Es ergab sich eine wunderbare Korrelation, wobei die Dioula und die Ntumu ganz unten liegen mit 1/100 pro Jahr und 1000 und ca. 5% Linkshändern und die Eipo und die Yanomamö ganz oben mit fast 1 pro Jahr und 1000 und 20% Linkshändern. Man hat das auch für verschiedene Sportarten geprüft, denn man würde erwarten, dass bei Akteuren interaktiver Sportarten die Linkshändigkeit häufiger ist als bei solchen nicht-interaktiver Sportarten. Das ist der Fall (ca. 20% versus ca. 10%, sowohl für Männer als auch für Frauen, Grouios et al. 2000). Das alles spricht dafür, dass die (jenseits Chagnon gut bekannte) Gewalttätigkeit der Yanomanö auch genetische Korrelate hat, nämlich den hohen Prozentsatz Linkshändiger. Für die Linkshändigkeit i.A. mag das nicht die einzige Erklärung sein, es ist aber eine solche, die sich als testbar erwiesen hat. Sie finden diese Angaben (und vieles mehr) in Cartwright: Evolution and Human Behaviour, Palgrave, 3rd ed, 2016.
“….wohl aber der Kampf. Ein Linkshänder hat gegenüber einem Rechtshänder im Kampf Vorteile, da er unerwarteterweise auf der gleichen Seite kontern kann.”
Dieses scheint mir ein Fehlschluß zu sein, da der Vorteil nicht im “Links” besteht, sondern in “unerwartet, was dem Kontrahenten allerdings auch zur Verfügung steht. Andererseits, aber nur wenn Kampf/Sport geübt wird, hat der Linkshänder viel Erfahrung mit Rechtshändern, der Rechtshänder aber wenig Erfahrung mit Linkshändern.
Ich sehe den “Fehlschluss” nicht, Erstens haben diese Leute viel Kampferfahrung. Zweitens liegt der Erfolg darin begründet, zu einer Minderheit zu gehören, die unerwartet, nämlich mit links reagiert. “Links” ist hier, in der Sache, um die es geht, gleich “unerwartet”. Darüber hinaus aber auch ein gleichstarkes Kontern auf einer Seite, das kommt noch hinzu. Ebenso die von Ihnen genannte ungleiche Verteilung der Erfahrung. Gleiches dürfte für den Angriff statt der Verteidigung gelten. Der entscheidende Punkt (ein Optimierungsproblem) dürfte sein, dass diese Eigenschaft nicht zu häufig auftritt, da sie sonst ihren Vorteil verliert. Die maximale Proportion dürfte um die 20% liegen.
Was mir so nebenher auffällt :
Unqualifizierte Kritiker stehlen den Wissenschaftlern die -ganz abgesehen von den Kosten-, die wichtigste Resource, Zeit. Zu den psychologischen Gegebenheiten dieser Resourcenräuber ist hier ja schon viel geschrieben worden.
Die taktische Variante dieser Bedeutungserhöhung über unsinnige, oft verletzende Angriffe bis hin zur Denuntiation , wird ja auch politisch als Waffe eingesetzt, heute schon fast Standard in der Auseinandersetzung.
Die oft notwendigen Prozesse, -Zeit und Kosten-, schwer nachvollziebare und unverständliche, politisch gefärbte Entscheidungen belasten.
Frau Diefenbach hat solches ja auch leidvoll erfahren müssen.
Wer sich zu viel Zeit mit dem Schlechten befassen muss, dem fehlt am Schluss die Zeit für das Gute.
Zum Problem des erfolgreichen Resourcen-Zugangs für Gewalttätige, -mehr Nachfolger-, habe ich den Verdacht, dass wir “Zivilisierten” die Gewalt einfach durch Kapital ersetzt haben, was z.B. den Zugang zur Weiblichkeit betrifft.
Gleichmacherei dürfte dann zwangsläufig zum Wieder-Aufleben von Gewalt führen.
Das für mich paradoxe ist aber, dass bei uns der bevorzugte Zugang zu Frauen seltsamerweise nicht zu zahlreicherer Nachkommenschaft führt.
Ich möchte gerne auf James DeMeo aus den USA als Anthropologen und seine “Saharasia-These” hinweisen und Prof. Bernd Senf aus Berlin zu VWL und psychosozialen Hintergründen.
http://www.berndsenf.de siehe auch Orgon-Therapie und “Lebensenergieforschung” usw.
Siehe auch Judith Reisman aus den USA zu den Einflüssen des Christentums. Viele Amazonas-Indianer wie auch die heidnischen Kelten lebten und leben in ständiger Geisterfurcht usw.