Wird die Todesursachenstatistik manipuliert?

Wer auch immer ihn auf der Fingerspitze hat, bitte sparen Sie sich den Kommentar: “Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe”. Erstens ist dieser Kommentar bereits weg. Wir haben ihn vorweggenommen. Zweitens ist er Humbug, denn das Fälschen einer Statistik ist in keiner Weise einfach. Drittens stammt der Spruch auch nicht von Winston Churchill.

Das gesagt können wir nun von einer Seltsamkeit berichten, die sich in der Todesursachenstatistik, die neuerdings Teil der Gesundheitsberichterstattung des Bundes ist, findet.

Ja, wir können es nicht lassen, die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, deren Daten in einer Weise abgelegt sind, die eine Auswertung massiv erschwert und in Teilen auch verunmöglicht, genau aus diesem Grund zu filzen. Nach unserer Erfahrung hat es einen Grund, wenn vor Datenbanken Hürden aufgebaut werden, die die Auswertung der Daten behindern. Und in der Regel ist dieser Grund keiner, der legitim ist.

Beginnen wir mit einer kleinen Umfrage.

Was denken Sie, ist die Anzahl der Selbstmorde in Deutschland [inklusive Ostdeutschland für den gesamten Zeitraum] im Jahr 2021 höher als im Jahr 1980?

Gab es im Jahr 2021 mehr Selbstmorde als im Jahr 1980 [Ost- und Westdeutschland gemeinsam]?

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Nicht spicken!
Erst abstimmen!

Machen wir zunächst einen Ausflug in die Erklärung von Selbstmord, die auch 126 Jahre nach Veröffentlichung des Buches “Le Suicide” durch Emile Durkheim auf die darin zusammengestellten Erklärungen für Selbstmord zurückgreifen muss. Alles, was zwischenzeitlich veröffentlicht wurde, basiert entweder auf Durkheims Vorarbeit oder ist in den psychotherapeutischen Graubereich zwischen Wissenschaft und Mythologie abgerutscht, der nicht quantifizierbar und daher nicht brauchbar ist.

Für Durkheim ist Selbstmord, wie jedes soziale Handeln, ein Verhalten, das aus der Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum erklärt werden muss, und zwar als Ergebnis der Integration des Individuums in die Gesellschaft, wobei insbesondere die Intensität dieser Integration von Bedeutung ist. Durkheim unterscheidet vier Arten von Selbstmord, die man in eine vier-Felder Matrix einordnen kann, die Integration (ja/nein) und Obstruktion (ja/nein) als Randbeschriftung trägt.

Ein fatalistischer Selbstmord stellt sich ein, wenn Integration (ja) in eine Gesellschaft zur Obstruktion (ja) geworden ist, wenn die Vorgaben individuelle Freiheit so massiv einschränken, dass das Individuum keinerlei Chance auf ein selbstbestimmtes Leben mehr sieht (Durkheim war der Ansicht, Menschen streben nach einem selbstbestimmten Leben).

Ein anomischer Selbstmord stellt sich ein, wenn ein Individuum sich selbst überlassen und ohne Orientierung in einer Gesellschaft dahin vegetiert, die ihm weder Sinn noch Orientierung gibt. Anomischer Selbstmord [Integration (nein), Obstruktion (nein)] ist vor allem dann prävalent, wenn gesellschaftlicher Wandel für Unsicherheiten welcher Art auch immer sorgt.

Altruistische Selbstmorde sind ein Ergebnis hoher Integration in eine Gesellschaft, die die eigene Existenz nicht unabhängig von dieser Gesellschaft denken kann [Obstruktion (nein)]. Der Selbstmord erfüllt hier einen Zweck für das größere Ganze.

Bleibt der egoistische Selbstmord, der bei einem Gefühl der Entfremdung beginnt (Integration (nein)), das durch gesellschaftliche Vorgaben, die eben weil das Individuum entfremdet ist, keine Orientierung mehr zu geben im Stande sind (Obstruktion (nein)) in Apathie und Depression mündet, die wiederum Selbstmord zur Folge haben.

Wie haben Sie unsere Frage beantwortet?

Nun, hätten wir Emile Durkheim dieselbe Frage gestellt, er hätte mit “ja” geantwortet, denn er hätte eine Häufung anomischer und egoistischer, vielleicht auch fatalistischer Selbstmorde erwartet, obschon er in seinem 1897 veröffentlichten Buch die Möglichkeit fatalistischer Selbstmorde in Gesellschaften mit organischer Solidarität ausgeschlossen hat. Letztere sind im Wesentlichen durch ein hohes Maß sozialer Integration und einen Konsens über die grundlegenden Werte der Gesellschaft gekennzeichnet. Indes, Durkheim wäre sicher lernfähig.

Nun, wie hat sich die Häufigkeit von Selbstmorden seit 1980 entwickelt?
So:

Sie sehen hier eines dieser seltsamen statistischen Ergebnisse, das man erst einmal verdauen muss.

Beginnen wir den Verdauungsprozess mit der Feststellung, dass ein Anstieg der Bevölkerungszahl von 78,4 Millionen Einwohnern im Jahre 1980 (Ost- und Westdeutschland) auf 83,2 Millionen Einwohner im Jahre 2021 mit einer Halbierung der Anzahl der Selbstmorde einhergeht, von 18.451 (1980) auf 9.215 (2021).

Geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit von Selbstmorden mit der Zahl der potentiellen Selbstmörder, das ist zunächst einmal die Anzahl aller Einwohner, steigt, dann ist dieses Ergebnis kontra-intuitiv. Es ist auch dann kontra-intuitiv, wenn man in Rechnung stellt, dass die Institutionen, die gemeinhin als Orientierungsgeber angeführt werden, von Kirchen bis zu staatliche Einrichtungen und Medien, einen Vertrauens- und Mitgliederverlust hinnehmen mussten, der nach allem, was über Selbstmord bekannt ist, zu einer Zunahme von Selbstmorden führen müsste.

Tut er aber nicht.

Weniger Orientierung, die in weniger soziale Integration übersetzt wird, ein Zustand, den die Rechtsextremismus-Bekämpfer generell beklagen und für die Wahl der AfD verantwortlich machen, geht mit weniger, nicht mehr Selbstmord einher.

Jedenfalls in der Todesursachenstatistik.

Ist Selbstmord etwas, das letztlich einen Verlauf nimmt, der unabhängig von gesellschaftlichen Randbedingungen ist?

Unfälle sind Ereignisse, die sich weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen Randbedingungen ereignen, die z.B. dem individuellen Willen anheim gestellt sind. Keine rote Ampel kann etwas dagegen tun, wenn ein Autofahrer sie ignoriert. Keine Schutzvorschrift etwas daran ändern, dass sie ignoriert wird. Konfrontiert man die Anzahl der Unfälle, die zum Tod des Verunfallten geführt haben, mit der Anzahl der Selbstmorde, dann ergibt sich das folgende Bild:

Wenn Sie die vorausgehende Grafik noch in Erinnerung haben, dann wissen Sie, dass die Bevölkerung abgesehen von einem leichten Knick in den Jahren 2011/12 kontinuierlich steigt, so, wie die Häufigkeit von Unfällen, nach einer kurzen Zeit des Rückgangs wieder steigt. Korreliert man die Entwicklung der Bevölkerung mit der Häufigkeit von Unfällen, dann ergibt sich eine positive Korrelation für den Zeitraum von 1994 bis 2021 (r = .45): Die Anzahl der Unfalltoten steigt mit der Zunahme der Bevölkerung. Für Selbstmorde ist das Gegenteil der Fall: Je mehr Bevölkerung, desto weniger Selbstmorde (r = -.24 für denselben Zeitraum).

Das ist mehr als seltsam und auch nicht durch vermeintliche Verbesserungen bei der psychischen Betreuung zu erklären, schon weil die wenigsten Selbstmörder, die es ernst meinen, psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Es bleiben letztlich zwei Erklärungen übrig:

  • die Daten sind manipuliert;
  • ein tiefgreifender kultureller Wandel, der Selbstmord aus der Klasse der Handlungsoptionen weitgehend entfernt, und z.B. durch Narzissmus ersetzt hat, ein Wandel, der die eigene Existenz nicht mehr an eigene Träume und Wünsche koppelt, deren Nichterfüllung in krassen Fällen zu Selbstmord führen kann, ein Wandel, der das Überleben um jeden Preis und in jedem Zustand nicht vorhandener Würde über jede Form von Selbstmord stellt.

Was trifft zu?
Letztlich eine spannende Frage.

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