Ihr Name und Sie: Wie Ihr Name Sie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verortet

Wer sind Sie?

Die meisten von uns dürften auf diese Frage mit der Angabe unseres Namens reagieren. Das hat nicht nur praktische Gründe, ermöglicht es also z.B. dem Frager, uns anzusprechen und mit anderen auf ziemlich eindeutige Weise über uns zu sprechen. Es hat auch damit zu tun, dass unsere Namen, unsere Akzeptanz unserer selbst und unsere Identität eng miteinander zusammenhängen, wie sozialpsychologische Forschung gezeigt hat (Aldrin 2016; Dion 2013; Emmelhainz 2012; Jourard 1974: S. 150-151; Watzlawik et al. 2016).

Unser Name ist also ein zentraler Bestandteil unserer selbst, aber selten denken wir über unsere/n Namen, seine/ihre Bedeutung/en für uns oder andere oder über sein/ihr Zustandekommen nach. Einen Namen hat man eben, und normalerweise führt man den Namen, den man von seinen Eltern bekommen oder geerbt hat, sein ganzes Leben lang, ohne großartig über den Namen nachzudenken oder darüber, warum man ihn wie gebraucht oder nicht gebraucht, oder warum ihn andere wie gebrauchen oder nicht gebrauchen; bestenfalls hat man sich schon einmal gefragt, ob man den eigenen Namen mag oder nicht.

Dabei ist der Name nicht nur ein zentraler Teil der eigenen Identität, sondern auch ein Indikator für sozio-demographische Merkmale seines Trägers. So kann der Vorname

  • auf das Geschlecht seines Trägers hinweisen und tut es in der Regel auch, aber nicht immer, nämlich nicht bei androgynen oder geschlechtsneutralen Namen wie „Kim“, „Toni“ oder „Alex“,
  • auf den Zeitraum, in dem er wahrscheinlich geboren ist – schätzen Sie das Alter von Doris, Rita, Ulrike, Annette, Wilhelmine, Anneliese, Lisa, Egon, Arnold, Alexander, Thorsten, Rainer. Sebastian und Leon! –,
  • auf seine ethnische Zugehörigkeit (in den USA z.B.: „Latoya“ und „Duane“, „Amy“ und „Jeffrey“; Lieberson & Bell 1992, (nicht nur) in Deutschland: „Thomas,“ „Ahmad“, „Salma“, „Araya“),
  • auf die religiöse Zugehörigkeit oder Bindung seiner Eltern („Gottfried“, „Abraham“, „Ephraim“, „Zacharias“, „Matthäus“, „Esther“, „Ahmad“, „Mohammad“)
  • sowie auf die Schichtzugehörigkeit seiner Eltern (im Vereinigten Königreich: z.B. „Kevin“ im Vergleich mit „Alastair“, „Rupert“; in Deutschland: z.B. „Zina“ im Vergleich mit „Viktoria“ gemäß der Sozialprestige-Angabe auf vornamen.blog).

In Vornamen kommt oft zum Vorschein, „… what sort of child they [the parents] want to be parent of“ (Zittoun 2004: 143) d.h. “… von welcher Art von Kind sie [die Eltern] Eltern sein wollen“, z.B. dann, wenn Eltern bewusst einen geschlechtsneutralen Namen für ihr Kind wählen, oder wenn Eltern, die einer ethnischen Minderheit angehören, für ihr Kind einen in der ethnischen Mehrheit weit verbreiteten Vornamen statt eines in der ethnischen Minderheit weit verbreiteten Vornamens wählen (oder umgekehrt), oder wenn Eltern ihrem Kind den Vornamen geben, den ein geliebter oder geschätzter Vorfahre trug.

Norbert Elias (1991: 184) hat den Vornamen ein Symbol der Einzigartigkeit einer Person genannt, während der Nachname für ihn als „eine Visitenkarte“ gilt, die „… anzeigt, wer man in den Augen von Anderen ist“. Aber obwohl der Vorname als derjenigen Name gilt, der einen Menschen als Individuum kennzeichnet, während der Nachname oder Familienname in einer verwandtschaftlichen Abstammungsreihe oder – zunehmend – in einem sozialen Netzwerk verortet, ist der Vorname keineswegs der Name, der „nur“ das „Ich“ bzw. „Du“ kennzeichnet. Vielmehr ist in ihm auch ein „Wir“ bzw. „Ihr“ gekennzeichnet, gerade weil er frei wählbar ist, während der Nachname gemeinhin als verbindlicher angesehen wird, obwohl auch er im Prinzip per offizieller Namensänderung ebenfalls frei wählbar ist.

Warum werden Nachnamen (in der westlichen Welt) als verbindlicher angesehen als Vornamen? Warum finden es Eltern mehrheitlich ganz normal, ihrem Kind den Nachnamen des Vaters, seltener: der Mutter, oder beider Eltern (als Doppelnamen) zu geben, während sie ihrem Kind seltener die Vornamen von Verwandten oder Vorfahren väterlicher- oder mütterlicherseits als erste Vornamen bzw. Rufnamen „vererben“ (statt vielleicht in zweiten Vornamen) und noch deutlich seltener die eigenen Vornamen?

Der Grund hierfür ist in der westlichen kulturellen Tradition zu suchen, nach der Nachnamen Familiennamen sind. D.h. es sind Namen, die eine verwandtschaftliche Abstammungslinie anzeigen, und zwar weit überwiegend die Abstammungslinie väterlicherseits. Das bedeutet, dass Kinder meistens den Nachnamen erhalten, den bereits der Vater als Nachnamen trägt.

Familiennamen können u.a. Hinweise geben auf

  • die regionale Herkunft der Vorfahren des Trägers oder seine eigene („Holländer“, „Hamburger“, „Ruthkowski“, „Özdemir“ oder „Wingerter“, ein – ebenso wie „Diefenbach“ – vor allem in Rheinhessen und der Pfalz vorkommender Familienname),
  • auf die Schichtzugehörigkeit der Vorfahren („von Weizsäcker“, „von Baumbach“),
  • bzw. auf den traditionellen Beruf der Vorfahren („Koch“, „Müller“, „Fischer“, „Bäcker“, „Schneider“, „Weber“).

Man kann daher u.U. einiges über jemanden wissen oder mit einiger Sicherheit über ihn vermuten, wenn man seine Namen kennt (wie dies z.B. Nicoll et al. 1986 demonstrieren).

In Deutschland sind im Jahr sind Familiennamen, die sich aus Berufsbezeichnungen ableiten, am häufigsten. Im Jahr 2020 nahmen solche Familiennamen die ersten vierzehn Plätze in der Liste der häufigsten Familiennamen in Deutschland an:

Quelle: Severint.net Wiedergegeben sind die Familiennamen und in Klammern die absoluten Häufigkeiten ihres Vorkommens in Deutschland im Jahr 2020 sowie die prozentualen Anteile, die sie an allen Familiennamen in Deutschland im Jahr 2020 hatten.

Auf Platz 22 der Rangliste folgte „Zimmermann“, auf Platz 29 „Schmid“, und auf Platz 35 „Köhler“.

Diese Familiennamen bilden vornehmlich Handwerksberufe und Amtsbezeichnungen ab, die im Mittelalter verbreitet waren, und tatsächlich sind Nachnamen in Europa erst im späten Mittelalter eingeführt worden, zunächst um Eigentumsrechte beurkunden zu können, anfänglich Eigentumsrechte des Adels – Kaiser Konrad II. hat mit der Constitutio de feudis aus dem Jahr 1037 die Erblichkeit von Lehen für den weltlichen Lehensadel in Oberitalien festgeschrieben (Koß 2002: 40) –, später der städtischen Patrizier, danach des Bürgertums und der Bauern.

Mit dem Ausbau der Verwaltung wurde die Führung eines Familiennamens für jeden zur Pflicht, damit neben seinen Eigentumsrechten auch seine Erb- und Bürgerrechte sowie –pflichten, z.B. mit Bezug auf die Entrichtung von Steuern, dokumentiert waren und eine entsprechende Verwaltungspraxis auf sie aufsetzen konnte (Koß 2002: 40; Scott et al.  2002). Koß berichtet, dass

„[i]m 15. Jahrhundert […] die Zweinamigkeit [bestehend aus Eigen- oder Vornamen und Familienname] im wesentlichen üblich war, wenn auch anfangs noch Namenswechsel möglich war …, da der FN [Familienname] im heutigen Sinn noch kein ‚Zwangsname‘ kraft Gesetz war …Allmählich legt jedoch der Staat Wert auf eine eindeutige und geordnete Namensführung. Es nimmt sich wie eine Vorwegnahme des Personenstandswesens Ende des 19. Jh. an, was der österreichische Kaiser Joseph II. in seinem Patent vom 20.2.1784 … verordnet. Eingeführt werden ‚normierte‘ Register über Trauung, Geburt und Sterben. Sie sollen sowohl Zwecken des Staates … als auch den Bedürfnissen einzelner Familien (z.B. als Grundlagen für gerichtliche Entscheidungen) dienen“ (Koß 2002: 41).

Ähnliches läßt sich auf der Britischen Insel beobachten: Die Zweinamigkeit, bestehend aus Eigen- oder Vorname und Familienname, erreichte die Insel mit der Eroberung Englands durch William the Conqueror im Jahr 1066 (Schlacht bei Hastings!), setzte sich aber nur langsam durch. Im 13. Jahrhundert rief König Richard II. die Bevölkerung dazu auf, sich Nach- bzw. Familiennamen zuzulegen, und im 15. Jahrhundert wurde die Registrierung von Geburten in der Gemeinde durch Henry VIII. zur gesetzlichen Verpflichtung gemacht, und diese wiederum erforderte einen Nach- oder Familiennamen.

In Wales zog sich die Entwicklung hin zur Zweinamigkeit bis ins 19. Jahrhundert hin. Traditionell folgte man in Wales einem Namensgebungssystem, bei dem einem Kind ein Eigenname gegeben wurde und das zusätzlich zu seinem Eigennamen die Namen der männlichen Vorfahren führte, was zu einer langen Namensfolge führte wie etwa Thomas, Ap William, Ap Thomas, Ap Richard, Ap Hoel, Ap Evan Vaughan etc., wobei „ap“ „Sohn von“ bedeutet. Frauen konnte dementsprechend z.B. Jannett verch Sir Aarin ab Rees ap Bledri etc. heißen, wobei „verch“ „Tochter von“ bedeutet.

 

Eine solche, auf der Angabe der männlichen Vorfahren beruhende, Namensfolge bezeichnet man als ein patronymes Namensgebungssystem.

Den Nachweis seiner Herkunft und seines Status‘ als freiem Waliser, dem ein Teil des Gemeindelandes rechtmäßig zustand, musste ein Waliser durch Angabe der Namen der letzten neun Generationen seiner männlichen Vorfahren belegen, wie Rev. William Edmunds, „Master of Lampeter School, im Jahr 1860 in seiner Schrift „On Some Old Families in the Neighborhood of Lampeter, Cardiganshire“ berichtet. Das genealogische Bewusstsein muss damals noch deutlich ausgeprägter gewesen sein als es das heute ist, oder könnten Sie die letzten neun Generationen Ihrer männlichen Vorfahren angeben?!

Mit der englischen Herrschaft in Wales war dieses System untauglich geworden, schon weil die Buchhaltung der englischen Verwaltung walisische Namen nicht verstehen oder aussprechen (und deshalb nicht richtig schreiben konnten). Teilweise schrieben sie deshalb, was sie meinten, gehört zu haben, und versuchten es ins Englische zu übersetzen oder in einen bekannten englischen Begriff zu überführen –so konnte aus „Rhys“ „Reese“ oder „Rice“ werden –, teilweise wählten Waliser Nach-/Familiennamen, die ihnen für die Interaktion mit dem Staat bzw. der Verwaltung dienten, oft den Namen eines männlichen Vorfahren – wie z.B. in „Williams“ –, der Bestandteil ihrer Namensfolge gemäß dem traditionellen System war.

Weil im Spätmittelalter biblische Namen üblich waren, waren die gewählten Nach-/Familiennamen oft solche biblischen Namen oder von ihnen abgeleitete Namen, z.B. „Thomas“, „Davies“ [von „David“]. Dementsprechend ist die heute zu beobachtende Namensgleichheit mit Bezug auf Nach-/Familiennamen in Wales deutlich größer als in England, wo die Zweinamigkeit früher verbreitet war und die Nach-/Familiennamen wie in Deutschland aus mehr und verschiedenen „Registern“ gewonnen wurden, insbesondere aus dem Reservoir an Ortsnamen und Berufsbezeichnungen (s. oben).

Während des Übergangs vom traditionellen Namenssystem zur Zweinamigkeit wie wir sie heute kennen, wurden in Wales von denselben Personen verschiedene Namen benutzt, z.B. Namen in verschiedenen englischen Schreibweisen, die Übersetzungen von oder Ableitungen aus walisischen Namen waren – „Evan David“, „Ifan Dafydd“ –, und solche, unter denen sie in der Gemeinde bekannt waren und angesprochen wurden und die nicht unbedingt etwas mit den zuvorgenannten Namen zu tun haben mussten. Teilweise werden diese Namen Ersatznamen in Form von Bei-, Spitz- oder Rufnamen gewesen sein, die jemanden in der Gemeinde eindeutiger identifiziert haben dürften als die neue Zweinamigkeit.

Und damit sind wir wieder zurück bei den individuellen Namen.

Viele von uns sind gewohnt, dass ein bestimmter Personenkreis oder bestimmte Personen, zu denen wir in bestimmten Beziehungen stehen, für uns Namen oder Varianten unserer Vornamen benutzen, die niemand sonst für uns gebraucht (egal, ob sie anderen Personen mit Bezug auf uns bekannt sind oder unbekannt sind). Bei solchen Ersatznamen kann es sich um solche handeln, die auf bestimmte Merkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen der Person abstellen, die den Ersatznamen erhält oder führt. Z.B. kann jemand mit roten Haaren „Kupferkopf“ oder jemand mit Locken „Locke“ oder – durch das Englische inspiriert – „Curly“ genannt werden, oder jemand, der gerne die Führung übernimmt oder sich vielleicht gerne aufspielt, „Boss“.

In einer Clique, in der jeder mit jedem anderen gut bekannt ist, kann jemand einen Beinamen erhalten, der auf eine Beziehung dieser Person zu einer anderen in der Clique abstellt, die jedem in der Clique bekannt ist, z.B. „kleine Schwester“. Oder es kann sich um Kosenamen handeln, zu denen neben von spezifischen Vornamen unabhängigen, aber von der zwischen zwei Personen bestehenden Beziehung abhängigen, Kosenamen wie „Engelchen“, „Püppchen“, „Bärchen“ oder „Herzblatt“ auch die sogenannten hypokoristischen Namen gehören. Das sind solche Namen, die eine Kurzform und speziell eine Verkleinerungsform des Vornamens (gewöhnlich durch ein „-chen“ oder ein „-i“ – oder in Anlehnung ans Englische „-y“ – am Ende) darstellen, z.B. „Willi“ für „Wilhelm“, „Uschi“ für „Ursula“, „Manu“ für „Manuela“, „Jo“ oder „Johnny“ oder „Hannes“ für „Johannes“, „Michel“, „Mic“ oder „Michi“ für Michael, „Benji“ für „Benjamin“. „Bienchen“ kann beides sein, ein hypokoristischer Name für „Sabine“ und/oder ein Kosenamen für jemanden, der nicht „Sabine“ heißt.

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Insofern als Ersatznamen von bestimmten Leuten oder Personengruppen gebraucht werden, zu denen wir in bestimmten Beziehungen stehen, sind sie unsere privatesten Namen und die, die uns am ehesten als die Individuen, die wir sind, kennzeichnen. Zwar können hypokoristische Namen auch von Nachnamen abgeleitet sein – z.B. kann jemand „Fisch“ oder „Fish“ genannt werden, der mit Nachnamen „Fischer“ heißt, oder „Ross“ jemand, der mit Nachnamen „Rossmüller“ heißt –, aber aus Nachnamen abgeleitete hypokoristische Namen weisen normalerweise auf weniger vertraute oder positive Beziehung hin als aus Vornamen abgeleitete hypokoristische Namen. Aus Nachnamen abgeleitete hypokoristische Namen dürften z.B. eher von Kollegen benutzt werden als von Freunden.

Namen bieten also nicht nur als solche eine Reihe von Informationen über die Person, die sie trägt; wer von wem wie genannt wird oder genannt werden will oder sich nennen lässt, gibt darüber hinaus Informationen über die Beziehungen, zu denen eine Person zu anderen steht. Wenn man hört, dass eine Frau einen Mann mit „Schatz“ oder „Bärchen“ anspricht, hat man sofort die Vermutung, dass diese beiden eine intime Beziehung zueinander unterhalten. Sprechen minderjährige Kinder ihre Eltern statt mit „Mama“ oder „Mutti“ o.ä. bzw. „Papa“, „Vati“ o.ä. mit ihren Vornamen an, so läßt dies auf den Erziehungsstil der Eltern schließen bzw. auf die Vorstellungen, die in der Familie mit Bezug auf Eltern-Kind-Beziehungen herrschen. Beobachtet man, dass Person A von Person B mit seinem Nachnamen ohne einen vorangestellten Titel – „Herr“, „Frau“, „Doktor“ oder „Frau Doktor“ usw. – angesprochen wird, aber Person A Person B mit vorangestelltem Titel anspricht, kann man vermuten, dass zwischen beiden eine hierarchische Beziehung besteht, bei der Person B die übergeordnete Position einnimmt; Person B könnte ein Vorgesetzter von Person A sein.

Generell (aber nicht immer; es gibt zu allem und jedem Ausnahmen) weist ein nicht-reziproker Umgang mit Ansprachen oder Namensnennungen auf eine hierarchische Beziehung hin. Im Rahmen hierarchischer Beziehung werden bestimmte Ansprachen oft selbst dann vermieden, wenn sie vom in der Hierarchie Höherstehenden ausdrücklich erlaubt werden. So kann ein Vorgesetzter sogenannte flache Hierarchien etablieren wollen und allen Mitarbeitern die Anrede beim Vornamen, vielleicht in Kombination mit dem „Du“, anbieten, aber in der Realität wird der Vorgesetzte seine Mitarbeiter mit weit weniger psychologischen Hemmungen und daher häufiger und in mehr verschiedenen Situationen beim Vornamen nennen oder mit „Du“ ansprechen als umgekehrt, d.h. seine Mitarbeiter ihn.

Die Vermeidung bestimmter Ansprachen erfolgt nicht nur im Rahmen hierarchischer Beziehungen. Sie kann auch aus Antipathie erfolgen – oder aus Scham. In manchen Kulturen ist es unhöflich, wenn nicht tabu, gerade Personen, mit denen man in engen Beziehungen steht, beim Vornamen zu nennen, zumindest in der Öffentlichkeit oder wenn Fremde anwesend sind, denn Vornamen gelten als zu intim oder verweisen zu direkt auf die Intimität einer Beziehungen, um sie sorglos vor allem und jedem auszusprechen. Die Huli auf Papua Neuguinea, bei denen dies so ist und die gleichzeitig keine Nachnamen im westlichen Sinn kennen, vermeiden es in solchen Situationen, direkt auf das Individuum Bezug zu nehmen.

So berichtet Glasse:

„In general, people avoid the use of personal names on public occasions or when strangers are present. Instead, they employ kin terms if possible or group names like ‘men of Ambaru (parish)’, thus avoiding stress on the individual. In some social situations the use of personal names is virtually taboo. A wife refers to her husband by the kin term (agalini) but he does not reciprocate or even use her personal name. The kin term of wife (one) has too much suggestion of sexuality to be used, especially if others may hear it spoken. Instead, he calls her simply Woman (wali) or, better still, uses a teknonym such as mother-of-so-and-so, referring to their first-born child. This is the least embarrassing way; it refers to the issue of their union, rather than her spousal status” (Glasse 1987, aus einem Artikel, der auf https://huliculture.com/huli-names-and-naming/ wiederveröffentlicht wurde).
“Im Allgemeinen vermeiden die Menschen die Verwendung von Personennamen bei öffentlichen Anlässen oder wenn Fremde anwesend sind. Stattdessen verwenden sie, wenn möglich, verwandtschaftliche Bezeichnungen oder Gruppennamen wie ‘Männer von Ambaru (-Gemeinde)’ und vermeiden so die Betonung der Person. In einigen gesellschaftlichen Situationen ist die Verwendung von Personennamen praktisch tabu. Eine Ehefrau spricht ihren Mann mit dem Verwandtschaftsbegriff (agalini) an, aber er erwidert ihn nicht und benutzt auch nicht ihren persönlichen Namen. Die verwandtschaftliche Bezeichnung Frau (one) hat eine zu starke Andeutung von Sexualität, als dass sie verwendet werden dürfte, insbesondere wenn andere sie hören könnten. Stattdessen nennt er sie einfach Frau (wali) oder, besser noch, er verwendet ein Teknonym wie Mutter von so und so und bezieht sich dabei auf ihr gemeinsames erstgeborenes Kind. Dies ist die am wenigsten peinliche Art und Weise; sie bezieht sich auf den Aspekt der Verbindung zwischen ihnen und nicht auf den Status der Frau als Ehefrau“.

„Teknonyme“, d.h. Ausdrücke, durch die Eltern unter Bezug auf ihre Kinder, besonders auf das Erstgeborene, als „Vater von“ oder „Mutter von“ angesprochen werden, sind aus dem Alten Testament (Radin 1922) ebenso wie aus der ethnographischen Literatur bekannt (s. z.B. Bloch 2006 für Madagaskar; Davies 1949 für Syrien; Geertz & Geertz 1964 für Bali; Lee & Harvey 1973 für Korea). Der Begriff selbst stammt von dem Ethnologen Edward Burnett Taylor, der ihn (m.W.) erstmals in einem Artikel aus dem Jahr 1889 verwendet hat. Teknonyme bilden den Gegensatz (bzw. die Ergänzung, je nachdem, wie man die Sache betrachtet,) zu den oben im Zusammenhang mit dem traditionellen walisischen Namensgebungssystem bereits erwähnten Patronymen, die jemanden als den Sohn oder die Tochter eines Mannes identifizieren und diesen Mann wiederum als den Sohn eines anderen Mannes identifizieren usw.

Aber zurück zu den Namenstabus: Man könnte meinen, dass Namenstabus in modernen Gesellschaften nicht (mehr) existieren, ganz so, wie man meinen könnte, dass Teknonyme oder Patronyme in ihnen nicht mehr tauglich sind. Aber so, wie man argumentieren könnte, dass Teknoyme oder Patronyme gerade in modernen Gesellschaften eine wichtige Funktion, nämlich die Beschreibung biologischer Eltern-Kind-Beziehungen (im Gegensatz zu Beziehungen sozialer Eltern- und Kindschaft), erfüllen könn(t)en, könnte man auch argumentieren, dass Namenstabus in modernen Gesellschaften, in denen eine politische korrekte Sprache entwickelt wird und durchgesetzt werden soll, besonders weit verbreitet sind insofern sie sich dort nicht auf Individuen, zu denen man in bestimmten Beziehungen steht, beziehen, sondern auf ganze Gruppen von Personen. So gilt es derzeit als politisch korrekt von „Dunkelhäutigen“ zu sprechen, aber nicht nur als unkorrekt, sondern geradezu als tabu, von „Negern“ zu sprechen. Dasselbe gilt „Behinderte“. Dieser Begriff ist tabuisiert worden und durch das politisch korrekte „Menschen mit Behinderungen“ ersetzt worden; es sind Tabu-Begriffe, deren Benutzung verboten ist:

“In the languages of Polynesia the word [tabu] means simply ‘to forbid’, ‘forbidden’, and can be applied to any sort of prohibition. A rule of etiquette, and order issued by a chief, an injunction to children not to meddle with the possessions of their elders, may all be expressed by the use of the word tabu” (Radcliffe-Brown 1939: 5-6).
In den Sprachen Polynesiens bedeutet das Wort [Tabu] einfach ‚verbieten‘, ‚verboten‘ und kann auf jede Art von Verbot angewendet werden. Eine Benimmregel, ein Befehl eines Häuptlings, eine Aufforderung an Kinder, die Besitztümern der Älteren in Ruhe zu lassen, all das kann mit dem Wort tabu ausgedrückt werden.

Der Begriff “Tabu” wird in der ethnographischen Literatur allerdings häufig restriktiv gebraucht, also nicht generell für alle möglichen Verbote, sondern für solche, deren Übertretung mit besonders schweren Konsequenzen verbunden ist, z.B. der Todesstrafe, sei sie durch andere Menschen herbeigeführt oder nicht. So schreibt der Ethnologe Sir James G. Frazer (1888: 16):

“Cases are on record in which persons who had unwittingly broken a taboo actually died of terror on discovering their fatal error”,

d.h.

„Es sind Fälle bekannt, in denen Personen, die unwissentlich ein Tabu gebrochen hatten, vor Schreck starben, als sie ihren fatalen Fehler bemerkten“.

Das dürfte in modernen Gesellschaften kaum vorkommen, aber insofern moderne Gesellschaften (derzeit) hoch-ideologisierte Gesellschaften sind, scheint die Rede vom Tabu als einem Verbot mit (möglicherweise) fatalen Folgen – bis hin zu Mord oder Selbstmord –, doch gerechtfertigt:

“Violation of linguistic taboos is only fatal when there is serious disparagement of a revered personage such as a monarch or tyrant, a god, or an ideology” (Allan 2019: 5; Hervorhebung d.d.A.),

d.h.

„Ein Verstoß gegen sprachliche Tabus ist nur dann fatal, wenn es sich um eine ernsthafte Verunglimpfung einer verehrten Persönlichkeit wie eines Monarchen oder Tyrannen, eines Gottes oder einer Ideologie handelt“ (Allan 2019: 5; Hervorhebung d.d.A.).

Wer heute in modernen Gesellschaften ideologisch begründete Sprachtabus – inklusive Namenstabus – bricht, dem droht zumindest der soziale Tod: er wird aus der Gemeinschaft der „Guten“ und „Gerechten“ ausgeschlossen. Der Umgang mit ihm verunreinigt auf irgendeine geheimnisvolle Weise, er wird selbst zum Tabu-Bruch, denn mit „so jemandem“ hat kein (im Sinn der Ideologie) anständiger Mensch etwas zu tun. Den Sprachtabus werden sprachliche Warnsignale zugesellt, etwa, indem man Menschen oder ganze Gruppen von Menschen als „rechts“ oder „rechtsextrem“ bezeichnet. Damit sind sie gebrandmarkt als solche, die mit der Ideologie Unvereinbares sagen und die deshalb (aus Sicht der Ideologen) von „guten“ Menschen zu meiden sind. Wer Umgang oder Austausch mit „solchen Leuten“ pflegt, der bricht das Tabu, mit dem der Umgang mit „solchen Leuten“ belegt ist. Auf diese Weise bringen Sprachtabus Verhaltenstabus hervor. Jedes Tabu hat das Potenzial, weitere Tabus zu begründen und damit die Gelegenheiten, Tabubrüche – bewusst oder unbewusst – zu begehen, zu vervielfältigen.

Obwohl es eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zur Namensgebung, zum psychologischen Profil von Namen und zur Benutzung oder Meidung von Namen, aus der Geschichtswissenschaft, der Namensforschung im engeren Sinn, d.h. der Onomastik, der Ethnologie, der Sprachwissenschaft und der Sozialpsychologie gibt, gibt es leider keine systematische Forschung, keine Soziologie der Namen, die die verschiedenen Stränge der Forschung über Namen zusammenführen würde. Das ist erstaunlich, sind Namen doch – wie wir gesehen haben – nicht nur für denjenigen, der ihn führt oder mit dem er belegt wird, persönlich wichtig, weil identitätsstiftend, sondern auch ein zentrales Bindeglied zwischen dem Persönlichen und dem Sozialen, jedenfalls weit mehr als eine Kombination von Symbolen, die einen Menschen in seinem Umgang mit der staatlichen Verwaltung kennzeichnet.


Literatur

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Allan, Keith, 2019: Taboo Words and Language: An Overview, S. 1-17 in: Allan, Keith (Hrsg.): The Oxford Handbook of Taboo Words and Language. Oxford: University of Oxford Press.

Bloch, Maurice, 2006: Teknonymy and the Evocation of the ‘Social’ Among the Zafimaniry of Madagascar, S. 97-114 in: vom Bruck, Gabriele, & Bodenhorn, Barbara, (Hrsg.): An Anthropology of Names and Naming. Cambridge: Cambridge University Press.

Davies, Rodger P., 1949: Syrian Arabic Kinship Terms. Southwestern Journal of Anthropology 5(3): 244-252

Dion, Kenneth L., 1983: Names, Identity, and Self. Names: A Journal of Onomastics 31(4): 245-257

Edmunds, William, 1860: On Some Old Families in the Neighborhood of Lampeter, Cardiganshire. Tenby: R. Mason.

Elias, Norbert,1991: The Society of Individuals. Oxford: Blackwell.

Emmelhainz, Celia, 2012: Naming a New Self: Identity Elasticity and Self-Definition in Voluntary Name Changes. Names: A Journal of Onomastics 60(3): 156-165

Frazer, James G., 1888: Taboo, S. 15-18 in: Encyclopedia Britannica: A Dictionary of Arts, Sciences, and General Literature, Volume XXIII. New York: Charles Scribner’s Sons

Geertz, Hildred, & Geertz, Clifford, 1964: Teknonymy in Bali: Parenthood, Age-Grading and Genealogical Amnesia. The Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 94(2): 94-108

Glasse, Robert M., 1987: Huli Names and Naming. Ethnology 26(3): 201-208

Jourard, Sidney M., 1974: Healthy Personality: an Approach from the Viewpoint of Humanistic Psychology, New York: Macmillan

Koß, Gerhard, 2002: Namensforschung: Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen: Max Niemeyer.

Lee, Kwang-Kyu, & Harvey, Youngsook Kim, 1973: Teknonymy and Geononymy in Korean Kinship Terminology. Ethnology 12 (1): 31-46

Lieberson, Stanley, & Bell, Eleanor O., 1992: Children’s First Names: An Empirical Study of Social Taste. American Journal of Sociology 98(3): 511-554

Nicoll, Angus, Bassett, Karen, & Ulijaszek, Stanley J., 1986: What’s In a Name?: Accuracy of Using Surnames and Forenames in Ascribing Asian Ethnic Identity in English Populations. Journal of Epidemiology and Community Health 40: 364-368.

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Radcliffe-Brown, Alfred R., 1939: Taboo. Cambridge: Cambridge University Press

Radin, Max, 1922: Teknonymy in the Old Testament. Harvard Theological Review 15(3): 293-297.

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