Deutschland – eine verendende Gesellschaft?

Gesellschaften brauchen einen Kitt, der sie zusammenhält. Alle Sozialwissenschaftler, die sich mit Gesellschaften befasst haben, stimmen darin überein, dass dieser Kitt aus einer Reihe von Normen besteht, die Erwartungssicherheit in Interaktionen schaffen:

  • Wenn man auf der Straße an einem Passanten vorbeigeht, muss man nicht damit rechnen, ein Messer in den Rücken gesteckt zu bekommen, weil dem Passanten die Schuhe, die man gerade trägt, so gut gefallen, dass er sie für sich haben möchte.
  • Wenn man einen Passanten nach der Uhrzeit fragt, muss man nicht damit rechnen, als Rassist verfolgt und eingesperrt zu werden.

GarfinkelDie Beispiele mögen trivial sein, doch die Verhaltenserwartungen, die in Gesellschaften herrschen, sind ebenfalls trivial. Sie sind so trivial, dass wir uns der entsprechenden Erwartungen in der Regel nicht einmal bewusst sind. Wir setzen sie einfach voraus, wie ein phänomenales Experiment von Harold Garfinkel einst deutlich gemacht hat.

“The victim waved his hand cheerily [Das Opfer winkt freudig.]
(S) ‘How are you?’ [Wie geht es Dir?]
(E) ‘How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my …?’ [Wie geht es mir im Hinblick worauf? Meine Gesundheit, meine Finanzen, meine Schularbeit, meine Gemütsverfassung, mein…?]
(S) (Red in the face and suddenly out of control) ‘Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don’t give a damn how you are’”. [(Rot im Gesicht und plötzlich außer Kontroll), Schau, ich habe nur versucht, nett zu sein. Ehrlich gesagt interessiert es mich nicht die Bohne, wie es Dir geht.]

Wie fragil Interaktionen zwischen Akteuren in einer Gesellschaft sind, zeigt dieses Beispiel in aller Deutlichkeit. Wenn Verhaltenserwartungen überraschend entäuscht werden, dann ist dies häufig das Ende von Interaktion und Kooperation, noch bevor eines von beiden begonnen hat.

Deshalb ist man in rationalen Gesellschaften zu der Übereinkunft gelangt, dass es einen Konsens über die herrschenden Normen geben muss, dass es relative Sicherheit über das Verhalten anderer in sozialen Situationen geben muss, damit Kooperation und Arbeitsteilung möglich sind und damit eine Gesellschaft als solche funktionieren kann.

Der Hinweis auf Konsens macht deutlich, dass die entsprechenden Normen ausgehandelt werden müssen. Man muss über sie reden, über sie diskutieren, was voraussetzt, dass man vorhandene Normen in Frage stellen können muss. Es setzt weiter voraus, dass die Diskussion entlang von rationalen Argumenten geführt wird, denn die Übereinkunft darüber, dass Norm X und nicht Norm Y die angemessene Verhaltenserwartung formuliert, kann nur eine Übereinkunft kraft besserer Argumente sein. Bessere Argumente hat derjenige, der für seine Aussagen mehr empirische Belege anführen kann, dessen Aussagen eine bessere empirische Bestätigung finden als die Aussagen Anderer.

Schließlich ist Kooperation in einer Gesellschaft nur möglich, wenn anderen mit gutem Willen begegnet wird, wenn sie nicht sofort zu Feinden erklärt, sondern als Person ernst genommen und respektiert werden. Kooperation hat somit viel mit Fairness zu tun, ein Ergebnis, dass in Studien von z.B. Robert Axelrod wieder und wieder bestätigt wurde.

Und alle diese Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft, sie fehlen in Deutschland.

Es gibt in Deutschland zunehmend weniger Verhaltenssicherheit.

Es gibt in Deutschland keine rationale Debatte über die grundlegenden Normen der Gesellschaft.

Es gibt in Deutschland keinen guten Willen, mit dem man anderen, die eine andere Meinung vertreten, gegenübertritt, zum Beispiel in Form eines Willens zur Akzeptanz und zum Verständnis anderer Meinungen.

Fehlende Verhaltenssicherheit

Warum ist Verhaltenssicherheit so wichtig? Weil sie Willkür beseitigt und Interaktion überhaupt erst ermöglich. Verwaltungen sollen deshalb entlang von offengelegten und rationalen Regeln funktionieren, weil dies Verhaltenssicherheit dahingehend schafft, dass Bürger X, wenn er einen Bauantrag stellt, genauso behandelt wird, wie Bürger Y, dass Bürger X nicht fürchten muss, dass Verwaltungsbeamter A einen schlechten Tag hat und deshalb seinen Bauantrag in Bausch und Bogen ablehnt.

Verhaltenssicherheit basiert auf festen und zumeist unbewussten Verhaltenserwartungen und diese Verhaltenssicherheit wollen Spezialisten wie das Profx oder Anatol Stefanowitsch oder Konstruktivisten als solche beseitigen. Profx will, dass die Anrede von Menschen beliebig wird, dem Gusto folgt, den der Angesprochene gerade für sich beschlossen hat. Stefanowitsch will, dass alles, was ein Angesprochener zur Hate Speech erklärt, als Hate Speech zu gelten hat. Wie alle Konstruktivisten, so wollen Profx und Stefanowitsch die Grundlagen einer Gesellschaft auflösen und durch subjektive Willkür ersetzen.

Was passiert wohl, wenn man sich nicht mehr sicher sein kann, dass eine Begrüßung wie “Sehr geehrter Herr” als Höflichkeit erkannt wird, sondern damit rechnen muss, dass der sehr geehrte Herr, weil er sich gerade in seiner neuentdeckten sexuellen Orientierung angegriffen fühlt, seinen Emotionen freien Lauf lässt?

Es gibt keine Interaktion mehr.

Axelrod1Was passiert wohl, wenn man nicht sicher sein kann, ob die Lektüre eines Textes von Immanuel Kant, in dem von Negern die Rede ist, von Studenten, die mehr mit sich als mit dem, was sie lesen, beschäftigt sind, als Rassismus und Hate Speech gewertet und zur Anzeige gebracht wird?

Kant wird nicht mehr gelesen.

Rationale Diskussion

Die Subjektivierung, die den Konstruktivisten vorschwebt, schafft Wahrheit als regulative Idee ab und bringt emprische Bestätigung in Misskredit. Alles wird zur Interpretation, und keine Interpretation kann mehr als einer anderen Interpretation überlegen angesehen werden. Zwischen dem Irren und dem Wissenschaftler gibt es keinen Unterschied mehr (ein Eindruck, den man schon heute des öfteren hat).

Alles ist möglich, nichts ist sicher.

Nicht mehr der rationale Diskurs über die empirische Bestätigung von Aussagen, der Wettbewerb der Argumente und Theorien steht im Zentrum der Gesellschaft, sondern das Gefühl, die Emotion, das was Anatol S. für richtig hält. Es entstehen Gleichfühl-Gemeinschaften, in denen sich Individuen treffen, die sich vormachen können, sie hätten dieselbe Empfindung wie die anderen Mitglieder der Gleichfühl-Gemeinschaft. Gesellschaft als rationale Übereinkunft ist von der Gemeinschaft als Ort der Gleichfühl-Gesinnten abgelöst worden. Nicht mehr die Rationalität entscheidet über das, was als Norm zu gelten hat, sondern das in einer Gesinnungs-Gemeinschaft herrschende Gefühl.

Fehlender guter Wille

Sind die Grundlagen einer unvoreingenommenen Interaktion in einer Gesellschaft erst einmal beseitigt, dann ist Kooperation nicht mehr möglich, denn Kooperation setzt guten Willen voraus. Guter Wille äußert sich z.B. darin, dass man Kritik oder Widerspruch nicht sofort ablehnt, sie vielmehr zulässt, sich z.B. fragt: Wenn von derzeit 867 ScienceFiles Lesern, die eine Stimme abgegeben haben, 411 der Ansicht sind, bei der GDL handle es sich um eine terroristische Vereinigung, während 401 Leser der Ansicht sind, die GDL sei keine terroristische Vereinigung, was ist dann falsch an der Selbstdarstellung der GDL? Oder: Wenn mehr als 160.000 Bürger den Bildungsplan des Landes Baden-Württtemberg, der sexuelle Orientierungen in allen Fächern zur Lehr-Grundlage machen will, ablehnen, warum ist das so? Warum sind bestimmte Gegen-Reaktionen so heftig?

Es ist das Markenzeichen einer verendenden Gesellschaft, dass derartige Fragen nicht mehr gestellt werden, dass die Legitimität der Fragen mit dem absolut gesetzten Recht auf Streik oder der guten Absicht der Landesregierung kontrastiert wird, dass die richtige Gesinnung die Diskussion bestimmt und nicht das richtige Argument.

Die richtige Gesinnung, das ist etwas, das sich mitteilt. Sie ist nichts, was auf Fakten oder empirischen Belegen aufbaut, sie basiert auf der in der entsprechenden Gleichfühl-Gesinnungs-Gemeinschaft jeweils für richtig gehaltenen Offenbarung. Konsequenter Weise sind Mitglieder einer Gesinnungs-Offenbarungs-Gemeinschaft nicht bereit, Kritik als solche anzuerkennen, sie sind nicht einmal bereit, Kritik als legitim anzusehen.

Wer die falsche Gesinnung hat, der ist als Mensch falsch: Man kann ihn entweder bekehren oder bekämpfen. Der gute Wille, der für Kooperation so wichtig ist, er ist nicht vorhanden. Ebensowenig die Rationalität, denn Auseinandersetzungen auf Grundlage von Gesinnung sind keine Diskussionen, sondern Missionen. Scheitern sie, wird der Widerspenstige aufgegeben und als rechts oder welche Floskel auch immer, die Falschheit in der eigenen Gesinnungs-Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, bezeichnet. Nicht nur Kooperation ist unmöglich, auch Interaktion ist unmöglich, denn mit Leuten, die so sind, mit solchen Leuten spricht man nicht.

SontheimerMan spricht nur mit Gesinnungs-Genossen, bei denen man sicher sein kann, dass sie dasselbe Gefühl teilen, weil sie der eigenen Gesinnungs-Gemeinschaft angehören, wobei die Gesinnungs-Gemeinschaften notwendiger Weise immer kleiner werden, denn die subjektive Deutungshoheit, die der Konstruktivismus einführen will, schafft immer weniger gefühlte Gemeinsamkeit und führt zu fragmentierten Gefühls-Gemeinschaften, in denen bestimmte Gesinnungs-Spinner z.B. vereint sind, um sich gegenseitig zu erzählen, alle weißen Heteromänner sind des Teufels, oder alle Gegner des Bildungsplans der Baden-Württembergischen Landesregierung sind rechtsextreme Homophobe, oder alle Gegner des Streiks der GDL sind Gegner der Arbeiter oder der Demokratie oder was auch immer gerade in der Gesinnungs-Gemeinschaft en vogue ist.

Zum Vergleich:

Eine rationale Diskussion fragt nach der Angemessenheit eines Streiks und wägt die Kosten, die der Gesellschaft als solcher entstehen und somit auch den Streikenden, gegen den Nutzen, der den Streikenden alleine entsteht, ab.

Eine rationale Diskussion bestimmt die Richtigkeit von Argumenten anhand von logischen oder empirischen Kriterien und nicht anhand von emotionaler Befindlichkeit. Wenn also Kritierien genannt werden, anhand derer die Europäische Union bestimmt, was eine terroristische Vereinigung ist, dann kommt eine rationale Diskussion ohne Empörung darüber aus, dass eine solche Frage überhaupt gestellt wird und analysiert statt dessen die Belege, die dafür angeführt werden können, dass die GDL nach der Definition der EU eine terroristische Vereinigung ist oder nicht.

©ScienceFiles, 2015

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