Einschulungsrückstellung – Sozial-emotionale Stigmatisierung von Jungen
Seit Jahren zeigen Einschulungsuntersuchungen, dass Jungen häufiger als Mädchen von einer altersgerechten Einschulung zurückgestellt werden. Bei vorzeitig eingeschulten Kindern ergibt sich eine ähnliche Divergenz zwischen den Geschlechtern: Mädchen werden häufiger vorzeitig eingeschult als Jungen. Z.B. wurden im Schuljahr 2009/2010 20.397 Mädchen vorzeitig eingeschult (5,62% der 2009/2010 zur Einschulung anstehenden Mädchen), aber nur 13.871 Jungen (3,52% der 2009/2010 zur Einschulung anstehenden Jungen). Gleichzeitig wurden 24.735 Jungen (6,28% der 2009/2010 zur Einschulung anstehenden Jungen) und 13.754 (3,79% der zur Einschulung anstehenden Mädchen) von einer Einschulung zurückgestellt. An dieser Ungleichverteilung hat sich über die letzten Jahre nur wenig verändert, wie die folgenden Abbildungen zeigen, in denen die Einschulungsjahre 2002/03 und 2009/10 miteinander verglichen werden.
Wie die beiden Abbildungen zeigen, ändern sich die Anteile zwischen den Vergleichsjahren geringfügig, die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen bleiben davon jedoch unberührt. Angesichts dieser schiefen Verteilung stellt sich die Frage, wie die Ungleichverteilung nach Geschlecht erklärt werden kann. Sind, mit anderen Worten, Jungen Spätentwickler, für die häufig die Einschulung zu früh kommt? Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage bin ich auf einen Beitrag von Julia Horstschräer und Grit Muehler mit dem Titel “School Entrance Recommendation: A Question of Age or Development” gestoßen, in dem auf Grundlage von Daten des Landes Brandenburg, die Entscheidung am Ende der Einschulungsuntersuchung erklärt werden soll.
Wie die Analysen der beiden Autoren zeigen, sind es Alter und Entwicklungsrückstände, die eine Zurückstellung von der Einschulung erklären: “Impairments in cognitive, socio-emotional and motor[ic] development as well as health are negatively related to the probability to receive a school recommendation. Moreover, younger children are less likely to be recommended for school” (17). Was heißt das nun für die Erklärung der Geschlechtsunterschiede bei der Einschulung? Da kaum anzunehmen ist, dass Mädchen, die zur Einschulung anstehen, in Monaten gerechnet, deutlich älter sind als Jungen, also weiter vom Altersstichtag, der zur Einschulung qualifiziert, entfernt sind als Jungen, scheidet das Alter als Erklärung für die Unterschiede nach Geschlecht aus. Somit bleiben die kognitiven, sozio-emotionalen und motorischen Störungen sowie die Gesundheit als erklärende Variablen übrig. Ein Blick auf die Ergebnisse von Horstschräer und Muehler (Seite 11, Tabelle 2) zeigt, dass sozio-emotionale Störungen mit ziemlichen Abstand vor kognitiven Störungen für die Erklärung der Zurückstellung von einer Einschulung am wichtigsten sind.
Als sozio-emotional gestört gilt ein Kind, wenn es zu Hause oder im Kindergarten den Anweisungen von Eltern oder Kindergartenpersonal nicht Folge leistet oder sich häufig mit anderen Kindern “prügelt”. Oder ein Kind hat die Möglichkeit, sich als sozial oder emotional gestört zu qualifizieren, wenn es häufig von anderen Kindern gehänselt wird und vor anderen Kindern Angst hat (Horstschräer & Muehler, 2010, S.22). Eine weitere Möglichkeit, den psychiatrischen Tatbestand einer sozio-emotionalen Entwicklungsstörung zu erfüllen, besteht darin, sich leicht ablenken zu lassen und nervös oder zappelig zu sein. Geben Eltern oder Kindergärtnerinnen an, ein Kind lasse sich leicht ablenken und sei zappelig, dann haben sie ihm damit ADHS, also eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung attestiert – Grund genug, nicht eingeschult zu werden.
Wie mir scheint, ist es ziemlich einfach, das Stigma “sozial-emotional gestört” angeheftet zu bekommen bzw. als ADHS-Kind deklariert zu werden, und offensichtlich ist es für Jungen viel einfacher, die entsprechenden Stigmata zugeschrieben zu bekommen als für Mädchen. Was allerdings die Tatsache, dass sich ein Kind leicht ablenken lässt, zappelig ist, sich mit anderen balgt oder ungehorsam ist, mit seiner Fähigkeit, zu lernen zu tun haben soll, ist mir nicht nachvollziehbar – schon deshalb nicht, weil Schule eigentlich ein Ort sein soll, an dem Kinder u.a. Aufmerksamkeit und Disziplin erlernen. Da eine verspätete Einschulung sich negativ auf die schulische Karriere des entsprechenden Kindes auswirkt, stellt sich abschließend die Frage ob derart weiche Indikatoren, wie die für die Messung von sozial-emotionaler Störung benutzten, es rechtfertigen, vornehmlich Jungen von einer Einschulung zurückzustellen, und eigentlich beantwortet sich diese Frage von selbst.
Literatur
Horstschräer, Julia & Muehler, Grit (2010). School Entrance Recommendation: A Question of Age or Development?
http://ssrn.com/abstract=1649459
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Weil es gerade so schön passt, möchte ich auf anonym.to/?http://denkwerkstatt.wordpress.com/2011/04/07/reife-madchen-kindische-jungs/ hinweisen. In dem Beitrag, über den dort berichtet wird, wird aus dem den Mädchen gesellschaftlich zugeschriebenen Entwicklungsvorsprung gleich in Vorteil für Jungen gemacht, denn sie üben in der homogenen Jungengruppe Männerverhalten ein. Darüber hinaus glänzt die Arbeit (es handelt sich im Wesentlichen um eine Zusammenfassung zweier von Sabine Jösting und Eva Breitenbach durchgeführter Studien zu Mädchen- und Jungenfreundschaften, verbunden mit viel freier Assoziation): Die Jungenstudie umfasst Interviews mit 6 Jungengruppen, die aus insgesamt 17 Teilnehmer bestehen. Das ist doch arg wenig; was aber viel schlimmer ist: Eigentlich alles, was sie sagen, wird von der Autorin in Hinblich auf das Connell’sche Bild der “hegemonialen Männlichkeit” und der “männlichen Hegemonie” interpretiert, wobei dieses Männer-/Weltbild nie in Frage gestellt wird.
Beispiele: Ein Junge hat im Gespräch beim Stichwort “poppen” gesagt: “also, ich, wir nennen das eigentlich, wir reden da eigentlich nicht so, überhaupt nicht so drüber, wenn, dann reden wir scherzhaft drüber, ‘na, Erna, hast du mal wieder mit dem und dem gepoppt?'”; das fasst die Autorin dann wie folgt zusammen:
“Wenn über den Geschlechtsverkehr gesprochen wird, dann „scherzhaft“, wobei der Scherz (nicht nur) beim beschriebenen Beispiel auf Kosten eines Mädchens geht. Für das öffentliche, abwertende Gespräch über
Sexualität steht ein ganzes Buch voll von Begriffen zur Verfügung; für ein ernsthaftes Gespräch unter Männern gibt es für die interviewten jungen Männer nur den Terminus des miteinander Schlafens.”
Da frage ich mich: Wieso soll die Frage des Jungen abwertend gemeint sein? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Unfreiwillig komisch wird es, wenn sie im Haupttext schreibt: “Alle siebzehn Befragten präsentieren sich als „normale“ – und dies meint heterosexuelle – Jungen bzw. junge Männer.” und dann in einer Fußnote einräumt: “Der fünfzehnjährige Gymnasiast Marec aus der Gruppe Erfolg scheint hier ebenso eine Ausnahme zu sein wie die vierzehnjährige Gymnasiastin Katja in der Mädchenstudie. Beide Jugendlichen beziehen sich in den Gruppendiskussionen nicht auf heterosexuelle Paarkonzepte und beteiligen sich nicht an den in der Gruppe entwickelten heterosexuellen Beziehungsphantasien.” Ja, was denn nun?
Die den Mädchen unterstellt Reife (laut Jösting gilt, dass Reife mit einer (heterosexuellen) Beziehung gleichgesetzt wird; sie steht hier also im Gegensatz zur kindlichen Asexualität) interpretiert sie ganz leicht zu deren Nachteil um: “Indem Heterosexualität v.a. für Mädchen zum frühen Entwicklungsziel erklärt wird, werden
Prozesse ihrer Freisetzung verhindert. So werden Mädchen früh an den Mann gebunden und
zuständig für Beziehung, Liebe, Sexualität und Kinder. Ob sich der unterstellte weibliche
„Entwicklungsvorsprung“ der (frühen) Adoleszenz also letztlich auszahlt, erscheint vor diesem
Hintergrund fraglich. Interessanterweise, das zeigen die Ergebnisse der Mädchenstudie, können
die Mädchen diesem (unterstellten) Vorsprung letztlich nichts Positives abgewinnen – im Gegenteil,
sie haben Teil daran, die Hierarchie wieder herzustellen, indem sie sich an älteren Jungen
orientieren, denen gegenüber sie sich unterlegen fühlen und zu denen sie dann aufblicken
(müssen).” Dieses Argument ähnelt demjenigen, welches die Benachteiligung von Jungen in der Schule mit Verweis auf den angeblich männerdominierten Arbeitsmarkt für unwichtig oder sogar notwendig erklärt. Wie schon in dem letzten Zitat kommt nun der absurdeste Teil der Studie, nämlich derjenige, der sich mit “Dominanz” beschäftigt. Selbstverständlich wird in den geschlechtshomogenen, kindischen Jungengruppen Dominanzverhalten eingeübt (“Die Annahme, Mädchen seien weiter, erweist sich so
gesehen als ein machterhaltendes Instrument zur Konstruktion von Männlichkeit.”). Diese Dominanz soll sich im Bild des Familienvaters und Familienenährers widerspiegeln: “Darüber hinaus ist das heterosexuelle Paar der Ort, an dem sich die geschlechtliche Arbeitsteilung und die sexuelle Kontrolle von Frauen manifestiert. In diesem Sinne weist das kulturelle Konzept des heterosexuellen Paares dem Mann die dominante Position zu, so dass er – ganz ohne persönliches Dazutun – zumindest in diesem
Lebensbereich die Vorherrschaft erfährt, die dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit zufolge seine kulturelle Bestimmung ist. Auch wenn nicht jeder Mann in seiner Partnerschaft diese Dominanz herstellt oder ausübt, ist die Struktur der Beziehung zu einer Partnerin ein entscheidender lebensgeschichtlicher Aspekt für die Konstruktion von Männlichkeit.” Das schreibt sie vollkommen ohne Belege, ins Blaue hinein; Wissenschaft sieht anders aus.
Im Verbeigehen unterstellt sie Jungen übrigens noch, (individuelle) Mädchen nicht als Individuen, sondern “als fremdartige Geschlechtsgruppe, ja als Gattungswesen” anzusehen; selbstverständlich sind sie lediglich an dem sexuellen Aspekt einer Beziehung interessiert, die Beziehungsarbeit überlassen sie den Mädchen (daher wahrscheinlich die Doppel- und Dreifachbelastung).* Natürlich gibt es von Seiten der Jungen eine “ungebrochene[] Doppelmoral” und “[v]or allem aber tragen Mädchen das Risiko sexueller
Übergriffe” (selbstverständlich werden an dieser Stelle die Behauptungen de Mädchen von übergriffigen Jungen für bare Münze genommen — und es gibt keine Anzeichen dafür, dass man die angeblich beteiligten Jungen ebenfalls gehört hat).
*: Hier geht übrigens implizit auf Seiten von Frau Jösting ein nicht hinterfragtes Muster einer Beziehung ein, laut der eine Beziehung zu einem Großteil aus Gesprächen etc. bestehen sollte.
Fazit: Jemand, der an Connell glaubt, wird sich durch die Studie bestätigt fühlen und ihr hohe Qualität bescheinigen, obwohl die Empirie äußerst dürftig ist. Dass Jungen für gleiche Leistungen schlechtere Noten und bei gleichen Noten seltener Gymnasialempfehlungen bekommen und dass dies durchaus mit der unterstellten Unreife der Jungen zu tun haben könnte, ignoriert die Autorin vollkommen, weswegen sie ja auch zu ihrem Schluss gelangen kann, dass Jungen nicht wirklich benachteiligt sind.
Wer lachen will, kann ja einmal mit der Amazon-Search-Inside Funktion das Buch “Jungenfreundschaften” der Autorin durchsuchen; S. 319 z.B. ist sehr interessant (suche nach “Gerechtigkeit”).
Mir drängt sich die Frage auf,wieso eine spätere Einschulung sich negativ auswirken soll?
Eben farnk, so ein Blödsinn. Nur weil mein Kind in Brandenburg mit Geburtstag im Septmber schon eingeschult wird, während es in Hessen, Thüringen, Sachsen, Mecklenburg Vorpommern noch regulär in den den Kiga gehen darf, bekäme es negative Auswirkungen ? Schrott, ich bin gegen die Stichtagsregelung der Bundesländer, die so junge Kinder einschulen.