Von der Macht der Worte

Empirische Sozialforscher sind regelmäßig mit dem Problem konfrontiert, dass sie ihre Konzepte in die Realität übertragen, sie in der Realität messbar machen müssen. Operationalisierung nennt sich dieses Problem. Eine Operationalisierung ist immer da notwendig, wo Konzepte erfragt und geprüft werden sollen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt, für die Indikatoren gefunden werden müssen, die sie beschreiben. Entsprechende Konzepte wie sie hinter abstrakten Begriffe wie Gerechtigkeit, Armut, Faschismus, Dogmatismus, Extremismus, Abhängigkeit, sexueller Missbrauch uvm. stehen, sind in der Natur nicht zu finden. Niemand kann ein Pfund Gerechtigkeit oder Faschismus oder Armut  kaufen, aber fast alle haben eine Vorstellung davon, was Gerechtigkeit, Armut oder Faschismus ist. Das Problem ist nur, dass die verschiedenen Vorstellungen oftmals nicht mit einander übereinstimmen, weshalb es wichtig ist anzugeben, wie bestimmte Konzepte operationalisiert werden.

Jedoch  führen Konzepte wie Gerechtigkeit, Armut oder Faschismus  ein reges Eigenleben, und es wird oft stundenlang diskutiert, ohne dass die Diskutierenden  bemerken, dass ihre jeweiligen Verständnisse davon, was Gerechtigkeit oder Armut sein soll, inkompatibel sind. Abstrakte Konzepte wie Gerechtigkeit oder Armut sind gerade weil ihr Inhalt so vage und variabel ist, besonders geeignete Mittel im politisch-verbalen Kampf. Insbesondere wenn es gelingt, Konzepte mit einer affektiven Ladung zu versehen, reicht allein die Nennung des entsprechenden Konzepts, um vorhersehbare Reaktionen auszulösen. Populismus ist negativ konnotiert. Wenn man etwas als populistisch bezeichnet, zielt man darauf ab, das so Bezeichnete in den Ohren der Zuhörer als etwas Schlechtes zu identifizieren und somit zu diskreditieren. Armut ist etwas Schlechtes, entsprechend reicht allein die Erwähnung von Armut und die Zuschreibung von Armut z.B. zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe aus, um die ganze Bandbreite von Entrüstung, Mitleid und Entsetzen auszulösen. Niemand fragt sich in dieser Situation: Halt, wovon wird hier überhaupt gesprochen? Was meint “Armut” überhaupt? Das muss auch niemand fragen, denn wir alle wissen doch, was Armut ist – oder?

Entsprechend weiß die Südwestpresse zu berichten, dass Armut weiblich ist und vor allem Alleinerziehende betroffen sind. Der Zweiwochendienst berichtet, dass EU-Abgeordnete die Situation von allein erziehenden Müttern verbessern wollen, denn vor allem Alleinerziehende sind  ja bekanntlich von Armut betroffen. Die SPD-Bundestagsfraktion weiß, dass Schwarz-Gelb die Armut zementiert, und zwar besonders für Alleinerziehende. Und Christoph Butterwegge schreibt von den armen Alleinerziehenden, die sich – weil sie so arm sind – nicht am demokratischen Willensbildungsprozess beteiligen können. Es sind der Gründe genug, um etwas gegen Armut zu tun.

Alle, die über Armut reden, beziehen sich auf statistische Daten. Das erste, was demjenigen auffällt, der die entsprechenden Daten betrachtet, ist, dass darin nicht von Armut, sondern von relativer Armut die Rede ist, denn, für entwickelte Länder kann davon ausgegangen werden, “dass absolute, d. h. existenzgefährdende Armut aufgrund der Leistungen der Grundsicherung – von wenigen Ausnahmen versteckter Armut abgesehen – ausgeschlossen ist” (Kraußer, 2011, S.210).  Als relativ arm gilt, wer 60% oder weniger des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat (was genau sich dahinter verbirgt, habe ich hier beschrieben). Auf diese Weise wird relative Armut definiert, und auf dieser Grundlage kommt das Statistische Bundesamt zu dem Ergebnis, dass vor allem Alleinerziehende von relativer Armut betroffen sind. Das Ergebnis basiert auf den Daten des Mikrozensus, für den in regelmäßigen Abständen 1% der Bevölkerung gebeten wird, einen schriftlichen Fragebogen auszufüllen. Die Ergebnisse beruhen also auf den Angaben dieser Befragten und die Richtigkeit der Ergebnisse hängt von der Richtigkeit der Antworten ab.

Bis zu dieser Informationstiefe gelangen nur wenige. Die meisten Medienvertreter und Wissenschaftler sind damit zufrieden, die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts zu übernehmen, mit der entsprechenden Freude oder Empörung (je nach Inhalt) zu versehen und als gegeben hinzunehmen. Eine rühmliche Ausnahme macht Andreas Kraußer, der in einem Beitrag untersucht hat, ob die Ergebnisse des Mikrozensus, nach denen rund 40% der Alleinerziehenden in relativer Armut leben, richtig sind. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sie falsch sind, und zwar durch eine durchdachte Analyse. Kraußer konfrontiert die Ergebnisse des Mikrozensus mit der Grundsicherung, die im Sozialgesetzbuch Band II und vor allem in den Paragraphen 20 bis 23 geregelt ist. In den Paragraphen sind die genauen Sätze an Sozialhilfe (Regelsatz für Erwachsene und Kinder), der Mehrbedarf für Alleinerziehende und die durchschnittlichen Unterkunftskosten, die von der Allgemeinheit übernommen werden, aufgeschlüsselt. Auf der Grundlage dieser Angaben, berechnet Kraußer die Summe der Leistungen, die Alleinerziehende mit einer unterschiedlichen Anzahl von Kindern per Gesetz erhalten, ohne dass ein eigenes Minimal-Verdienst hinzukommt und kommt zu dem Ergebnis, dass sie regelmäßig über der Grenze liegen, deren Unterschreiten  eine  Klassifikation als relativ arm auslöst (Tabelle). Lediglich zwei Familienkonstellationen, alleinerziehend mit drei Kindern über 14 Jahre und alleinerziehend mit einem Kind über 14 und unter 16 Jahre, fallen unter die Grenze der relativen Armut. Beide Konstellationen sind nicht eben häufig. Tatsächlich dürfte die Anzahl Alleinerziehender mit drei Kindern über 14 Jahre so gering sein, dass sie vernachlässigt werden kann, und für die Zahl der Alleinerziehenden mit einem Kind zwischen 14 und 16 Jahren bringt bereits ein Zuverdienst von 100 Euro ein Überschreiten der Schwelle relativer Armut. Entsprechend schreibt Kraußer: “Es bleibt also festzuhalten, dass ein signifikanter Anteil (ca. 40%) von Haushalten Alleinerziehender im Armutsgefährdungsbereich nicht plausibilisierbar ist” (Kraußer, 2011, S.211).

Da die Analysen von Kraußer auf einen Anteil von Alleinerziehenden in relativer Armut hindeuten, der sich irgendwo im Bereich von weniger als 2% bewegt, die Spanne zu den 40%, die das Statistische Bundesamt auf der Basis des Mikrozensus errechnet hat, aber erheblich ist, bleibt nur die Annahme, dass im Mikrozensus ein systematischer Fehler enthalten ist: Die Einkommen der Befragten werden entweder durch eine missverständliche Frageformulierung nicht vollständig erfasst, oder die  Befragten geben ihre Einkommen  nicht vollständig an. Welche der beiden Optionen auch zutrifft, die verdienstvolle Analyse Kraußers zeigt, dass man skeptisch gegenüber Nachrichten und Aussagen sein muss, die mit affektiv besetzten Begriffen arbeiten und geeignet sind, kritisches Hinterfragen bereits dadurch zu verhindern, dass sie einen Sachverhalt thematisieren, für den ein Hinterfragen als unschicklich angesehen wird, denn man wird doch Mitleid mit Menschen haben, die (der Behauptung nach) in  Armut leben – oder?

Kraußer, Andreas (2011). Grundsicherung und Armutsgefährdung  – ein Vergleich. Sozialer Fortschritt (60)9:210-213.

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