Ganzheitlicher Unsinn: Wie Irrationalismus den Verstand zerstört
Wir hoffen, Sie hatten einen ganzheitlichen Schlaf, in dessen Verlauf, sie eins waren, mit Decke und Matratze. Es wäre schön, wenn sie ganzheitlich und mit beiden Beinen gleichzeitig aufgestanden wären und sich im Bad ganzheitlich die Zähne geputzt hätten, ehe sie nach der Beendigung der ganzheitlichen Morgentoilette entsprechend ganzheitlich erfrischt am ganzheitlich gedeckten Frühstückstisch sich niedergelassen und ein ganzheitliches Frühstück genossen haben. Ein ganzheitliches Frühstück ist der beste Start in einen vitalen, ganzheitlich erlebt- und durchlebten Tag.
Ein Problem, mit dem Wissenschaft in Deutschland zu kämpfen hat, ist der stetige Ansturm spirituellen, esoterischen, in jedem Fall irrationalen Unsinns, der in Wellen kommt und nicht selten ganze Zweige der Wissenschaft überspült. Als Folge wird das rationale Unterfangen Wissenschaft, in dem es darum geht, Erkenntnis, nutzbares Wissen zu produzieren, durch eine spirituelle Erfahrung, in deren Verlauf ein Gemeinschaftsgefühl durch die Beschwörung von Begriffen hergestellt wird, beseitigt. An die Stelle von Prüfung und Methode tritt Empfindung und Emotion, das Überwinden der Trennung zwischen Wissenschaftler und Forschungsgegenstand, die Voraussetzung für Erkenntnis, wird aufgehoben und das Einssein mit dem Forschungsgegenstand beschworen.
Besonders wichtig für diese Beschwörungs-Riten sind Begriffe, die als gemeinsame Fixpunkte dienen. Es sind dies Begriffe höchter Erhabenheit, deren Inhalt nicht bestimmbar, sondern nur erfühlbar ist. Der Begriff, die Essenz des Begriffes teilt sich dem Eingeweihten mit, und er zeigt sein Dazugehören durch den Gebrauch des heiligen Begriffes in allen passenden und unpassenden Zusammenhängen an.
Uns hat heute der Begriff “Ganzheitlichkeit” ereilt.
Leider halten wir es mit Hans Albert und haben entsprechend ein Problem mit Offenbarungslehren, d.h. wir können den Begriff “ganzheitlich” noch so lange ansehen, er offenbart uns keine tiefere Bestimmung, keinen tieferen Sinn als das Wissen darum, dass hier Spiritualisten und Esoteriker unterwegs sind, die behaupten, sie könnten ein Phänomen in Gänze erkennen und seien entsprechend im Vollbesitz aller Kenntnis, eben ganzheitlich wissend. Deratige Selbstüberschätzung offenbart dann in der Tat den Nicht-Wissenschaftler, Spiritualisten, den antirationalen Esoteriker, der lieber glaubt als denkt und lieber genau weiß als zweifelt.
Mit anderen Worten, wer sich ganzheitlich gibt, zeigt damit, dass er mit Sicherheit nicht ganzheitlich intelligent ist und vor allem darauf aus ist, affektive Effekte zu erheischen, bei all denen, die auch ganzheitlich unintelligent unterwegs sind.
Diese These haben wir nicht nur aufgestellt: Wir haben Sie geprüft, und die erste Station dieser Prüfung hat uns auf Finanzen.net geführt. Dort werden “ganzheitliche Maßstäbe” gesetzt und Erkenntnisse wie die folgende, gehören dazu: “Ohne einen ganzheitlichen Ansatz auf oberster Managementebene, der die nötige Kontinuität sicherstellt, verpufft der Effekt von einzelnen Maßnahmen meist sehr schnell”.
Dies ist eine Kunst, die viele Betriebswirtschaftler beherrschen: Viele Worte machen und nichts sagen, ganzheitlich nichts, so zu sagen: Oder: Ohne einen ganzheitlichen Sinn in oberster Gehirnrinde, der die Kontinuität des Denkens sicherstellt, verpufft der Sinn von einzelnen Ausdrücken meist sehr schnell.
Weiter geht es auf unserer Reise durch die Welt der Ganzheit und, man höre und staune, wir landen auf einer Seite, auf der es um “ganzheitliches Zunehmen” geht. Ganzheitliches Zunehmen ist nicht irgendein Zunehmen, nein, es ist ganzheitliches Zunehmen, das “die Balance zwischen Gewicht und Persönlichkeit” schafft, ein “Gesamtkonzept für Körper und Seele” bereitstellt. Sind Sie also mehr der adipöse, fettleibige Typ oder eher ein Typ der Anorexia Nervosa Sorte? Gehen Sie zur verlinkten Lesung, und “Sie werden erstaunt sein, wie leicht und schnell Sie in die Umsetzung und Handlung kommen” – von was auch immer, so muss man in aller Ganzheitlichkeit ergänzen.
Wir jedoch, wir wandern weiter zur Augsburger Allgemeinen, die das ganzheitliche Klassenzimmer entdeckt hat und einen Vortrag bewirbt, in dem es um die wirklich aus ganzheitlicher Sicht ganz wichtige Frage geht, wie man eine “ganzheitliche Sicht auf Kinder und Jugendliche auch beim Lernen” erreichen kann. Hinschauen, so steht zu vermuten, ist nicht ausreichend, denn dem ganzheitlichen Kind (oder Jugendlichen) wird man nur gerecht, wenn man sich in es(ihn) hineinfühlt, oder so, und wehe, was man dann erfühlt, ist keine echte Ganzheitlichkeit! Dann gibt es zwei Noten schlechter.
Dass Ganzheitlichkeit, ein ganzheitliches Konzept des Ganzen ist, wird einem spätestens bei der WAZ deutlich und anlässlich des folgenden Satzes deutlich: “Wenn unsere Stadt Warstein eine Zukunft haben soll, so bedarf sie der Planung und Umsetzung eines neuen, ganzheitlichen, alle sozialen, wirtschaftlichen, hydrogeologischen, ökologischen und städtebaulichen Belange erfassenden Konzeptes”. Darauf ein Warsteiner! Aber: Was ist mit rechtlichen, politischen und technologischen Belangen, sind die aus der Warsteiner Ganzheitlichkeit ausgeschlossen?
Man reibt sich mehr und mehr die Augen und dann, beim Zentrum für Kopfkrankheiten in Bremen angelangt, drängt sich der Verdacht auf, dass man es schon immer geahnt hat, dass ganzheitlich etwas mit Kopfkrankheiten, mit Demenz und überraschender Weise mit Krebs zu tun hat, vermutlich Gehirn-Krebs.
Und um derartige Einsichten reicher, flüchtet man sich in die Arme eines ganzheitlichen Risikomanagements, um doch nur auf die vorhergehende Kopfkrankheit zurückgeworfen zu werden, angesichts von Widersrüchen wie dem folgenden: “Bei der praktischen Anwendung des RM-Modells muss vor allem beachtet werden, dass dessen Aufgliederung nicht zu einer zerlegenden Denkweise verführen darf, sondern die Einzelelemente müssen geeignet miteinander verknüpft, das Modell ganzheitlich interpretiert werden” (118-119).
Kein Wunder also, dass Kopfkrankheiten ganzheitlich entstehen, wenn man dazu aufgefordert wird, etwas und sein Gegenteil zu tun (zerlegen und nicht-zerlegen) und erwartet wird, dass man dies auch noch ganzheitlich tut. Auch ein ganzheitlicher Widerspruch ist und bleibt ein Widerspruch und kann in ganzheitlicher Umnachtung enden.
Und damit kommen wir zur Entdeckung der Ganzheitlichkeit durch all diejenigen, die heilen wollen ohne sich ihres Heilerfolges sicher zu sein. Die Quacksalber des Mittelalters sind zwischenzeitlich zu Ganzheitlichen Beratern in z.B. der Pflege geworden, die sich mit “Heilkräutertee im Altenpflegeheim” beschäftigen und darin eine “ganzheitlich- gesundheitliche und geschmackliche Bereicherung des Trinkangebots” erkennen (Die Zustände in der Pflege müssen wirklich dramatisch sein), wobei die Beschäftigung mit Heilkräutertee durch die Herausgeberin des Sammelbandes der ganzheitlichen Berater wie folgt eingeleitet wird, und zwar unter der Überschrift “Herzlich willkommen”:
Ganzheitlich ganz-sein, kann man nur im Zustand des Seins erleben, nicht im Zustand des Habens. Häufig werden Situationen des Ganz-sein auch mit Stille assoziiert … Man lächelt sich selbst – vielleicht weise – zu.
Der ganzheitliche Blick in den Spiegel ähnelt indes einem Zustand, in den man vor der Erfindung der Ganzheit nur durch Opiate und sonstige Hilfsmittel gelangen konnte. Edgar Allen Poe, z.B. war ein Verfechter der Erstellung von Texten in entsprechend berauschtem Zustand, seine Texte sind jedoch lesenswerter als die Elaborate die uns die Ganzheitlichen derzeit zumuten, unter Titeln wie:
usw. usf. Wahnsinn hat offensichtlich Methode, ganzheitliche Methode.
Noch ein paar nützliche, na ja, aber zumindest ganzheitliche Definitionen:
“Der Mensch muss immer als ganzheitliches Wesen gesehen werden (Ganzheitlichkeit), Leib, Seele und Geist bilden eine Einheit, und keine Regung des Menschen, von der Bewegung (Motorik) und den Sinnesempfindungen angefangen bis zu seinen geistigen Leistungen sind unabhängig voneinander zu verstehen und bilden eine Einheit. Deshalb müssen alle Bereiche des Menschseins ihre Berücksichtigung finden” (Montessori, Maria (1973). Das kreative Kind: der absorbierende Geist. Freiburg: Herder, S.128).
Kurz: Alles ist eins, vor allem Sie!
“Ganzheitilchkeit kann negativ definiert werden durch den Begriff der Übersummation, der ausdrückt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ganzheitlichkeit impliziert ein untrennbares, zusammenhängendes Ganzes und demnach auch eine Abhängigkeit der einzelnen Elemente zueinander. Ein ganzheitlicher Vorgang ist somit eine Aktion, die auf der Grundvorstellung der Ganzheit basiert und die Handlung dementsprechend ausrichtet”. (Arens, Thomas (2004). Methodische Auswahl von CRM-Softrware. Göttingen: Cuvillier, S.25).
Kurz: Alles ist alles, und alles gehört zusammen, außer man trennt es, um die Zusammenhänge zu beschreiben.
“In Bezug auf das Konzept Schlaffhorst-Andersen bedeutet der Begriff der Ganzheitlichkeit den Menschen in seiner Ganzheit aus Körper, Geist und Seele zu erfassen, ihn aus allen drei Perspektiven zu betrachten und ihm auf körperlicher, geistig/intellektueller und auf seelischer Ebene zu begegnen” (Lang, Antoni & Saatweber, Margarete (2011) Stimme und Atmung. Idstein: Schulz-Kirchner, S.27)
Kurz: Aus der Haut fahren, um den Körper zu erkennen, wahnsinnig werden, um den Geist zu sehen und entseelen, um die Seele zu finden.
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Ich fand das jetzt ganzheitlich irritierend. Werde aber als Konsequenz ganzheitlich versuchen, das Wort ganzheitlich ganzheitlicher in ganzheitliche Sätze einzubauen. Damit es ganzheitlich wirkt und nicht wie beliebiger Stuss.
Wie für mich geschrieben. Ist doch das Grenzwertige von jeher mein Thema. Also bleibe ich dazu nicht ohne Anschauung:
Ganzheitlich, etwas geschwollener: holistisch und profan: komplett und noch profaner: umfassend, ist ein Blähwort, das mehr meint als es scheint, weil es selbst aus spiritueller Sicht nichts Ganzes im menschlichen Wirken gibt. Menschliche Erkenntnis bleibt immer fragmentarisch. Würde man dagegen von Zusammenhängen, Übersicht oder Vernetzung sprechen, spräche man von dem, was man vielleicht meint. Vor noch gar nicht so langer Zeit, war es nicht möglich, derlei ganzheitliche Substanzlosigkeit unter dem Etikett Spiritualität zu verkaufen, inzwischen aber hat sich der esoterische Markt auch das Wort Spiritualität einverleibt. Derzeit pirscht man sich an den Begriff Transzendenz heran.
Wenigstens sprechen Sie nur von Spiritualisten (den Quacksalbern), womit sie die Spirituellen (die Nachdenklichen) außen vor lassen. Doch sehen Sie es mal so, Esoterik ist Unterhaltung und in ihrem Kern Entgeistigung oder Idiorrhoe, was letztlich geistige Dehydration bewirkt. Allerdings ist Esoterik auch eine gesellschaftliche und vor allem mittelständische Realität. Hier aber ist sie nicht mehr unterhaltend, sondern normierend und zersetzend sowie letztlich auch indirekt tödlich (Alternative Medizin). Mit normierend und zersetzend meine ich die faschistoiden Tendenzen innerhalb der Esoterik (Führerkult und Graduierung).
Man erachtet mich als Mystiker, was ich um der Verständigung willen auch annehme. Dahingehend bin ich stets subjektiv, bestenfalls intersubjektiv. Insofern kann spirituelle Erkenntnis niemals ganzheitlich sein. Ich behaupte zwar meine mystischen Wahrnehmungen aus einer allumfassenden Perspektive, weiß jedoch, dass sie diese Übersicht bereits während meiner innerlichen Reflexion verlieren.
Ich habe gerade meinen DocFetcher suchen lassen. In gerade mal drei Aufsätzen respektive Büchern verwendete ich das Wort ganzheitlich. Insofern ist bei mir ganzheitlich nichts nachhaltig.
Beinahe mystisch Ihre letzte Anmerkung: „Kurz: Aus der Haut fahren, um den Körper zu erkennen, wahnsinnig werden, um den Geist zu sehen und entseelen, um die Seele zu finden.“ Schließlich gilt das Spiel mit dem Widerspruch im Widerspruch, das Reden in Paradoxien, als Ausweis der Meisterschaft jedes Gurus.
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Ich fand das jetzt ganzheitlich irritierend. Werde aber als Konsequenz ganzheitlich versuchen, das Wort ganzheitlich ganzheitlicher in ganzheitliche Sätze einzubauen. Damit es ganzheitlich wirkt und nicht wie beliebiger Stuss.
Ich wette dass Heureka sich gleich ganzheitlich melden wird. Wer wettet dagegen?
P.S. Ich bitte um Verzeihung ob meiner Missachtung der Grundsätze in diesem Kommentar. Aber die Finger juckten einfach…..
Wie für mich geschrieben. Ist doch das Grenzwertige von jeher mein Thema. Also bleibe ich dazu nicht ohne Anschauung:
Ganzheitlich, etwas geschwollener: holistisch und profan: komplett und noch profaner: umfassend, ist ein Blähwort, das mehr meint als es scheint, weil es selbst aus spiritueller Sicht nichts Ganzes im menschlichen Wirken gibt. Menschliche Erkenntnis bleibt immer fragmentarisch. Würde man dagegen von Zusammenhängen, Übersicht oder Vernetzung sprechen, spräche man von dem, was man vielleicht meint. Vor noch gar nicht so langer Zeit, war es nicht möglich, derlei ganzheitliche Substanzlosigkeit unter dem Etikett Spiritualität zu verkaufen, inzwischen aber hat sich der esoterische Markt auch das Wort Spiritualität einverleibt. Derzeit pirscht man sich an den Begriff Transzendenz heran.
Wenigstens sprechen Sie nur von Spiritualisten (den Quacksalbern), womit sie die Spirituellen (die Nachdenklichen) außen vor lassen. Doch sehen Sie es mal so, Esoterik ist Unterhaltung und in ihrem Kern Entgeistigung oder Idiorrhoe, was letztlich geistige Dehydration bewirkt. Allerdings ist Esoterik auch eine gesellschaftliche und vor allem mittelständische Realität. Hier aber ist sie nicht mehr unterhaltend, sondern normierend und zersetzend sowie letztlich auch indirekt tödlich (Alternative Medizin). Mit normierend und zersetzend meine ich die faschistoiden Tendenzen innerhalb der Esoterik (Führerkult und Graduierung).
Man erachtet mich als Mystiker, was ich um der Verständigung willen auch annehme. Dahingehend bin ich stets subjektiv, bestenfalls intersubjektiv. Insofern kann spirituelle Erkenntnis niemals ganzheitlich sein. Ich behaupte zwar meine mystischen Wahrnehmungen aus einer allumfassenden Perspektive, weiß jedoch, dass sie diese Übersicht bereits während meiner innerlichen Reflexion verlieren.
Ich habe gerade meinen DocFetcher suchen lassen. In gerade mal drei Aufsätzen respektive Büchern verwendete ich das Wort ganzheitlich. Insofern ist bei mir ganzheitlich nichts nachhaltig.
Beinahe mystisch Ihre letzte Anmerkung: „Kurz: Aus der Haut fahren, um den Körper zu erkennen, wahnsinnig werden, um den Geist zu sehen und entseelen, um die Seele zu finden.“ Schließlich gilt das Spiel mit dem Widerspruch im Widerspruch, das Reden in Paradoxien, als Ausweis der Meisterschaft jedes Gurus.
Auja, “ganzheitlich”, erinnert an “freiheitlich”…
Diminutiva? Oder Teilmenge(n)? Wovon…?
wbr