Fremdsprachen als Gegenmittel zur deutschen Emotionalität?

Was uns regelmäßig irritiert, da wir nun seit mehreren Jahren nicht mehr in Deutschland leben, ist die Emotionalität, mit der selbst wenig relevante Themen in Deutschland (sofern man die Medien als Maßstab nimmt) und in Interaktionen (sofern man Foren und Blogs als Maßstab nimmt) behandelt werden. Fast scheint es so, als wäre die emotionale Reaktion in die Verwendung der deutschen Sprache in Deutschland so eingewebt, so mit der eigenen Identität verwunden, dass, egal, um welche Themen es geht, viele gar nicht anders als emotional reagieren können.

Ob es um die Wahlbeteiligung, Fragen der Gerechtigkeit, ob es um Steuern und deren Vorenthalten, ob es um Marktwirtschaft, Banker oder die Ernte von Kaffeebohnen, ob es um Veganer oder Windkraft geht, immer sind viele Deutsche emotional involviert, immer schon wissen sie lange bevor sie die Fakten kennen, sofern sie sich überhaupt für die Fakten interessieren, was richtig und was falsch ist. Man kann nicht anders als derartige Reaktionen auf Probleme als neurotisch einzuordnen, denn emotionale Reaktionen sind in der Regel falsch. Es mag im Neolithikum sinnvoll gewesen sein, emotional auf das Auftauchen eines Rudels Wölfe zu reagieren und die Flucht zu ergreifen, aber selbst dabei wäre eine rationale Abwägung der Fluchtwege vorteilhaft, wenn man sich selbst nicht durch natürliche Selektion und zu Gunsten einer informierteren Nachwelt opfern will.

GefuehlsjunkNun sind Wölfe nicht mehr häufig. Der moderne Deutsche sieht sich in der Regel nicht mit den Folgen seiner emotionalen Reaktionen konfrontiert, geschweige denn, dass die Evolution dafür sorgen würde, dass emotional Gebundene aussortiert werden. Vielmehr belohnt die moderne deutsche Gesellschaft und nicht nur sie die Emotionalität, feiert sie geradezu, führt sie als Strafminderungsgrund in Gerichtssäle ein, macht sie zum legitimen Entschuldigungsgrund bei persönlichem Fehlverhalten, unterhält ganze Berufszweige, die ein Interesse an der Festschreibung emotionalen Verhaltens haben, das sie dann gegebenenfalls therapieren können und, nichtzuletzt, setzt sie die Emotionalität und die Intuition gegen die als kalt bezeichnete Rationalität, wie sie z.B. auf Märkten herrschen soll (eine Vorstellung, die zeigt, dass diejenigen, die sie haben, keine Idee haben, was Märkte eigentlich sind).

Fast hat man schon die Hoffnung aufgegeben, dass es möglich ist, einen informierten Diskurs zu führen, rational und sachlich über Vor-und Nachteile von Wahlen, üder die Realität, über die Folgen industrieller Massentötung oder über harmlose Themen wie Meinungsfreiheit und Bildung zu sprechen.

Fast – denn es zeigt sich ein Silberstreif am Horizont. Eine Untersuchung von Albert Costa et al. (2014), die gerade erst veröffentlicht wurde, zeigt einen Weg aus dem emotionalen Elend und hin zu nützlicher Erwägung als Grundlage von Entscheidungen.

Costa et al. haben ein bemerkenswertes Ergebnis produziert: Wenn man Probanden ein moralisches Dilemma in ihrer Mutter- und in einer Fremdsprache vorlegt, dann wählen sie in ihrer Muttersprache emotionaler als in der Fremdsprache.

Costa et al. haben zwei Versionen eines Dilemmas, aus der sozialpsychologischen Forschung bemüht, das als Straßenbahn-Dilemma (Trolley-Dilemma) bekannt ist.

Trolley Dilemma IDie erste Version des Straßenbahn-Dilemmas sieht fünf Personen auf Gleisen dem sicheren Tod entgegensehen, weil sich eine Bahn nähert. Die fünf Personen können dadurch gerettet werden, dass eine gewichtige Person durch den Probanden von einer Fussgängerbrücke auf die Gleise gestoßen wird, wodurch die Bahn gestoppt wird.

Trolley Dilemma IIDie zweite Version umfasst zwei Gleise, mit einmal fünf Personen und einmal einer Person. Wieder ist die Bahn auf dem Gleis unterwegs, dessen weiteres Befahren den Tod der fünf Personen zur Folge hat. Dieses Mal ist es möglich, die Bahn durch das Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis umzuleiten, wo sie dann eine Person anstelle der fünf Personen tötet.

Was tun die Probanden: Stellen sie die Weiche um oder stoßen sie die gewichtige Person
auf die Gleise?

Das Beispiel ist eines dieser typisierten Dilemmata, bei denen der Teufel im Detail steckt. Wir erfahren nichts über die Personen, die es zu schützen gibt und nichts über die Person, die eventuell geopfert werden soll. Wir müssen also davon ausgehen, dass es keine qualitativen Unterschiede zwischen den Personen gibt, und es lediglich darum geht, für sich eine quantitative Entscheidung zu treffen, die als moralische Frage daherkommt und lautet, bin ich bereit, eine Person zu töten, um fünf Personen zu retten oder verweigere ich jedes Eingreifen und lasse dem Schichsal seinen Lauf, töte also fünf anstelle einer Person.

Die emotionale Antwort auf diese Frage lautet: Ich lasse dem Schicksal seinen Lauf. Die rationale oder utilitaristische Antwort auf diese Frage lautet: Stoßen oder Weiche umstellen. Wie gesagt, die Personen sind wie Crast Test Dummies. Sie unterscheiden sich in nichts voneinander.

Costa et al. haben nun festgestellt, dass sich die Häufigkeit utilitaristischer Entscheidungen dann erhöht, wenn das Dilemma den Probanden in einer Fremdsprache gestellt wird, während dasselbe Problem dann, wenn es in der Muttersprache der Probanden gestellt wurde, weniger utilitaristisch-rationale Entscheidungen und mehr emotionale Entscheidungen zur Folge hatte.

Um zu diesem Ergebnis zu kommen, haben die Autoren zwei Gruppen von Probanden gebildet, die alle Kenntnisse in einer Fremdsprache (hier: Englisch) und in ihrer Muttersprache hatten. Der einen Gruppe (N = 158) wurden das Dilemma in ihrer Muttersprache vorgelegt, der anderen Gruppe (N = 159) in Englisch, also für sie in einer Fremdsprache.

Free lunchOffensichtlich hat eine Muttersprache viel mehr emotionale Konnotationen als eine Fremdsprache und offensichtlich ist eine Problemdarstellung in einer Fremdsprache dazu geeignet, emotionale Muttersprachler zu rationalen Entscheidungen zu bewegen. Indes muss die Distanz zur Fremdsprache relativ groß sein, wie Costa et al. auch zeigen konnten. In einem weiteren Experiment ließen sie ihre Probanden einschätzen, wie flüssig sie die Fremdsprache zu sprechen und zu verstehen im Stande sind. Je besser diese Einschätzung, desto geringer die Unterschiede im Hinblick auf die Lösung des Straßenbahn-Dilemmas zwischen denen, denen das Dilemma in ihrer Muttersprache präsentiert wurde und denen, denen es in einer Fremdsprache präsentiert wurde.

Die rationaleren Entscheidungen scheinen sich darüber zu erklären, dass die Probanden bei Darstellung des Dilemmas in einer Fremdsprache, die sie zwar verstehen und lesen können, in der sie aber nicht fließend sind, über das Dilemma nachdenken müssen, während sie bei Darstellung in ihrer Muttersprache oder dann, wenn sie die Fremdsprache fließend beherrschen, emotional, aus dem Bauch heraus und ohne Nachdenken reagieren können.

Ob wir auf Grundlage der Ergebnisse von Costa et al. in Zukunft die Beiträge auch ScienceFiles in englischer Sprache verfassen, um die Wahrscheinlichkeit, emotionaler Kommentare zu verringern, darüber haben wir noch keine Entscheidung getroffen, aber es scheint in jedem Fall ein gangbarer Weg zu sein, um das, was jede Diskussion über kurz oder lang tötet, zumindest einzudämmen, das was manche Deutsche vor sich hertragen, wie einen Bauchladen: Ihre emotionale Abhängigkeit davon, dass bestimmte Fragen auf eine und nur auf eine Art und Weise entschieden werden können, eine Abhängigkeit, die so groß ist, dass sie, wie Dr. habil. Heike Diefenbach an anderer Stelle geschrieben hat, eine richtige Faktophobie haben, die es wiederum unerträglich macht, auch nur einzuräumen, dass es möglich ist, andere Entscheidungen zu treffen, und dies gar auf einer Kenntnis von Fakten.

Costa, Albert, Foucart, Alice, Hayakawa, Sayuri, Aparici, Melina, Apesteguia, Jose, Heafner, Joy & Boaz, Keysar (2014). Your Moral Depend on Language.

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