Tabus der Altenpflege

Salbungsvolle Worte zum Wochenende:

“Zentrale Anliegen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind es, dass eine qualitätsvolle Pflege gewährleistet wird, ältere Menschen mit Pflegebedarf ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen können und pflegende Angehörige in ihrer Aufgabe angemessen unterstützt werden.”

oder:

“Menschen mit Pflegebedarf müssen sich darauf verlassen können, die erforderlichen Leistungen zu erhalten.”

Altenbild
Altenbild

Die salbungsvollen Worte zum Thema “Altenpflege” werden ergänzt durch einen Altenbericht, in dem Alte fast nur als potentielle ehrenamtlich tätig bürgerlich Engagierte vorkommen. Verlieren sie ihren entsprechenden Wert, weil sie zum Pflegefall werden, dann verschwinden sie nicht nur aus dem Altenbericht, sondern auch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Vorhanden ist dann nur noch die Arbeit, die Alte verursachen, etwa in Form der Werbetrommel, die für Altenpflegeberufe gerührt wird, dem Versuch, den eklantanten Fachkräftemangel wegzureden oder den Zahlen, mit denen im Rahmen der Pflegeversicherung jongliert wird. Wer nicht mehr vorkommt, das sind die Insassen von Altenpflegeheimen. Hinter wem sich erst einmal die Tür eines Altenpflegeheimes geschlossen hat, der ist dem Vergessen anheim gestellt, wie sich z.B. im sechsten Altenbericht zeigt, der an wenigen Stellen über zu pflegende Alte redet, aber nicht von ihnen berichtet.

Dies wird sehr deutlich am Begriff des Pflegeheims. Er kommt insgesamt 21 Mal auf den 293 Seiten des Berichts vor, wobei die Zusammenhänge, in denen er vorkommt, sehr auschlussreich sind, wie eine kleine Inhaltsanalyse zeigt:

  • In vier von 21 Zusammenhängen wird von Problemen in Altenpflegeheimen berichtet, ohne die Probleme auch als Probleme zu benennen. Eine Fremduntersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass zwei Drittel der Insassen in Altenpflegeheimen unter Mangelernährung leiden (xii). Jemand anderes findet, dass der hohe Verwendungsgrad freiheitsentziehender Maßnahmen in Altengefängnissen bedenklich sei (162). Schließlich wird angemerkt, dass es keinerlei Forschungsarbeiten zur Prävention von Stürzen alter Menschen in Pflegeheimen gibt (162). Das alles wird in einem distanzierten Ton berichtet, so wie man von Dingen berichten, die nicht sonderlich tangieren, ähnlich der Ebola-Berichterstattung aus Liberia – da gibt es welche, die leiden und sterben…
  • Viel wichtiger scheinen Altersbilder und ihre Auswirkung auf alles Mögliche zu sein, z.B. die Bereitschaft von Migranten, ihre Eltern in Pflegeheime zu stecken. Altersbilder kommen an sieben Stellen im Bericht im Zusammenhang mit Pflegeheim vor (57, 162, 181), und sie bilden, wenn man so will, den Rahmen, innerhalb dessen über Desozialisation (71) gefachsimpelt wird und die “Verknüpfung des Mikrosozialraums Pflegeheim” mit dem “kommunalen Sozialraum” (72) angeregt wird, was natürlich bürgerliches Engagement voraussetzt (71; 73) und etwas dadurch behindert wird, dass die Anzahl der Pflegeheimbewohner von manchen als zu hoch eingeschätzt wird (164), was im Hinblick auf 13% vakante Pflegeheimplätze (189) etwas erstaunt, aber im Zusammenhang mit der Patientenverfügung stehen kann, die vor allem Pflegeheiminsassen machen sollten (179).

limiting harmWie immer, wenn ein Thema in Deutschland offiziell behandelt wird, dann wird nicht das Thema, sondern eine Wunschvorstellung davon behandelt. Dies hat regelmäßig zur Folge, dass vom Thema Betroffene, Alte in Pflegeheimen in diesem Fall, nicht vorkommen, bestenfalls als Kostenfaktor oder Gegenstand freiheitsentziehender Maßnahmen oder als Verursacher von Selbst-Stürzen finden sie Berücksichtigung. Angesichts der angeblich so hoch sozialen Gesellschaft mit all ihren vielen hingebungsvollen Menschen, ist dies mehr als erstaunlich.

Fast so erstaunlich wie die Tatsache, dass ein international heißdiskutiertes Thema, nämlich das Thema der Iatrogenese (iatrogenesis) in Deutschland und im Zusammenhang mit Altenpflege keine Rolle spiel (im Altenpflegebericht kommt der Begriff “Iatrogenese” nicht vor), obwohl es eine sehr prominente Rolle spielen sollte. Iatrogenese bezeichnet Krankheit durch Behandlung, beschreibt die Folgen der Behandlung die manche Alte in Pflegeheimen erfahren.

Nicht nur um den salbungsvollen Worten und dem Schweigen, zu dem Pflegeheiminsassen verurteilt sind, entgegenzuwirken, sondern um eines dieser Tabus der deutschen Gesellschaft zu brechen, in dem der Gender-Firlefanz und die Vorlieben von kleinen Damen, die große Positionsinhaber spielen, wichtiger sind als das Wohlergeben einer ganzen Generation von Alten, hier ein Beispiel aus der Wirklichkeit, wie sie sich in Pflegeheimen abspielt.

Es ist die Wirklichkeit, der sich Herr S täglich gegenübersieht.

Herr S. ist 89 Jahre alt und bislang als rüstiger Rentner durch sein Leben gegangen. Eine Darm-Erkrankung, die ihn körperlich geschwächt hat, lässt dies nicht mehr zu. Also wird er vom Krankenhaus in ein Altenpflegeheim überstellt. Vorher bewohnte er ein eigenes Haus, nun teilt er sich ein Zweibettzimmer. Weil er geschwächt ist, ist er wackelig auf den Beinen. Nach mehreren Stürzen als Folge seiner Versuche, zur Toilette zu gelangen, und nachderm er bei seinem letzten Sturz gut 30 Minuten auf Hilfe warten musste, wird er in Windeln gepackt und zum Bettlägerigen gemacht – denn ein Pfleger, der ihn zur Toilette begleitet, ist nicht verfügbar.

Der Entprivatisierung seiner bisherigen Existenz durch Einlieferung in ein Zweibettzimmer folgt die Demütigung, die ihn zum würdelosen Dasein eines Inkontinenten verurteilt, obwohl er gar nicht inkontinent ist.

Besucher, die ihn an Wochenenden und Wochentags sehen, nehmen eine seltsame Abwesenheit und Interesselosigkeit bei ihm war, aber nur an Wochenenden. Das  hat seine Ursache darin, dass er an Wochenenden ruhig gestellt wird: Die Pflegersituation ist noch schlechter als an Wochentagen, entsprechend müssen die Alten eben medikamentös vor sich hindämmern.

Der Entprivatisierung und Demütigung folgt die medikamentöse Entmündigung, die Herrn S. willentlich seines Willens beraubt.

Nach nur wenigen Wochen im Pflegeheim hat Herr S. eine Lungenentzündung, die seine Überstellung auf die Intensivstation des örtlichen Krankenhauses zur Folge hat. Eine intensive Behandlung verbessert seinen Zustand, was dazu führt, dass er schnellstmöglich wieder aus dem Krankenhaus in sein Pflegeheim zurückgegeben wird, denn die Krankenkasse bezahlt keinen Krankenhausaufenthalt zur Pflege, da Herr S. schon zur Pflege im Pflegeheim ist.

Entprivatisiert, gedemütigt und entmündigt, hilflos, wie man Herrn S. hinterlassen hat, gibt es nur noch eines, das man ihm antun kann, man kann ihn seine Hilflosigkeit spüren lassen, ihn vernachlässigen. Wo die Grenze zwischen der Vernachlässigung und der Körperverletzung verläuft, wer will es entscheiden?

Fixierungen-in-der-PflegeWie lange Herr S. die Pflege noch überleben wird, ist derzeit noch eine offene Frage, deren Beantwortung wohl eher früher als später erfolgen wird. Beantwortet ist jedoch die Frage, was öffentlich finanzierte Altenpflegeheime mit Würde und Respekt vor dem Alter zu tun haben. Auf Basis eines Einzelfalls und dem, was ansonsten im Hinblick auf Iatrogenese (aus Ländern, in denen sie erforscht wird und die entsprechende Forschung kein Tabu darstellt), freiheitsentziehende Maßnahmen, wie das ans-Bett-Fesseln von Alten genannt wird, vermutlich um Alte in die Nähe von Kriminellen zu rücken oder auf Basis der endemischen Stürze, die auf sich gestellte Alte in den eigens für sie eingerichteten Pflegeheimen erleiden, von der weitverbreiteten Mangelernährung ganz zu schweigen, muss man feststellen, dass es eine Schande ist, wie mit pflegebedürftigen Alten in Deutschland verfahren wird.

Aber wen wundert diese Missachtung alter Menschen angesichts einer Meute von Politikern, die Wichtigeres zu tun haben: Frauenförderung, Hilfe für Homosexuelle, Nottelefone für die Massen misshandelter Frauen, Kinderförderung, Beratungsangebote für diejenigen, die sich depressiv fühlen, Netzwerktreffen derjenigen, die nichts anderes machen, als sich in Netzwerken zu treffen, in-vitro-Fertilisation für die Torschluss-Gepanikten, und, nicht zu vergessen, Sexologen für das wichtigste, was die derzeitige Gesellschaft zu kennen scheint …

Nachtrag:

Herr S. ist innerhalb von 48 Stunden nach seiner Rückkehr in das Pflegeheim nach erster Einschätzung an einer Lungenembolie verstorben.


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