Politiker lieben mehr Risiko als Wähler – behauptet eine Studie

RISIKO!


Mit diesen Fragen wird im Sozioökonomischen Panel die Risikobereitschaft von Befragten gemessen. Risikobereitschaft ist hier als Einstellung konzipiert, d.h. ob sich die Befragten tatsächlich so verhalten, wie sie behaupten, also mit Risiko 6 beim Autofahren und Risiko 7 bei der beruflichen Karriere, das ist eine vollkommen andere Frage, wenngleich es die entscheidende Frage ist, denn wenn Einstellungen mit Verhalten nichts zu tun haben, dann sind sie im Leben irrelevant und muss man sie auch nicht messen.

Vier Mitarbeiter aus dem DIW in Berlin und ein Gerontologe aus Dortmund haben die oben dargestellten Fragen, d.h. die Antworten auf die entsprechenden Fragen, wie sie in den Jahren 2009 und 2012 von SOEP-Befragten gegeben wurden, genommen und mit den Antworten von Bundes- und Landtagsabgeordneten (letztere aus Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg und Niedersachsen) verglichen. Um die Risikobereitschaft von Bundes- und Landtagsabgeordneten zu erfragen, haben die fünf Autoren schriftliche Fragebögen an 1132 Bundes- und Landtagsabgeordnete verschickt. Ein Sample von 298 ausgefüllten Fragebögen (26,3% Rücklaufquote) ist dabei herausgekommen. Die Rücklaufquote, die vergleichsweise gut ist, ist jedoch mit einem Problem behaftet, wie die vier aus Berlin und der Gerontologe aus Dortmund eingestehen, denn sie wissen nicht, wer den schriftlichen Fragebogen tatsächlich ausgefüllt hat, der angeschriebene Abgeordnete in Bundes- oder Landtag oder einer seiner Mitarbeiter.

Eigentlich ist die Forschung hier beendet. Denn wenn man, wie Heß und die anderen eingestehen, nicht sicherstellen kann, dass Abgeordnete die Fragebögen ausgefüllt haben, dann kann man auch keine Angaben über Abgeordnete machen. Die fünf Autoren haben den entsprechenden Mut zur Lücke, eine sehr hohe Risikobereitschaft und machen die Angaben dennoch.

Die ganze Forschung ist natürlich dazu gedacht, die Risikobereitschaft von Abgeordneten und ihren Wählern zu vergleichen. Um dies zu tun, müsste man sicherstellen, dass die 298 Antworten, die eingegangen sind, eine so genannte Quotenstichprobe darstellen, d.h. den Parteiproporz abbilden. Leider haben die fünf vom DIW die Parteizugehörigkeit des Abgeordneten oder seines Mitarbeiters oder wer auch immer den Fragebogen ausgefüllt hat, nicht erfragt. Noch ein Grund, die Befragung in den Mülleimer zu werfen.

Auch das tun Heß und die anderen nicht. Sie beweisen eine unglaubliche Flexibilität, wenn es um Reliabilität von Ergebnissen geht. Wozu sich mit derartigen methodischen Standards belasten, wenn man gerade dabei ist, Geschichte zu schreiben, naja, die ersten Ergebnisse zur Risikobereitschaft von Abgeordneten zu präsentieren. Denn das tun Heß et al., obwohl sie nicht wissen, ob Abgeordnete ihren Fragebogen ausgefüllt haben und obwohl sie keine Idee davon haben, ob ihr Sample von Abgeordneten verzerrt oder sehr verzerrt ist. Heß und seine vier Mitstreiter beweisen das, was man als sozialwissenschaftliche Risikobereitschaft bezeichnen muss, sie sind fast schon quantitative Hazardeure, die das Risiko, Unsinn, weil Ergebnisse zu erzählen, die durch die Daten nicht gedeckt sind, freudig eingehen. „10“ auf der Skala nach der Frage. Wie risikobereit sind Sie im Bezug auf wissenschaftliche Lauterkeit?

Aufwendiges Matching, das sicherstellen soll, dass Abgeordnete mit einem bestimmten sozialen Profil (Einkommen, Alter, Geschlecht etc.) mit vergleichbaren Wahlberechtigten aus dem SOEP gepaart werden, wird sodann eingesetzt, um dem Leser vorzugaukeln, die im folgenden präsentierten Ergebnisse ließen einen Vergleich zwischen Bundes- und Landtagsabgeordneten auf der einen Seite und Wahlberechtigten auf der anderen Seite zu. Sie lassen es nicht zu, wie wir oben bereits ausgeführt haben. Heß et al., hoch risikobereit auch was den Fehlschluss der falschen Verallgemeinerung angeht, vergleichen die Ergebnisse dennoch.

Ergebnis in ihrer Diktion: Bundes- und Landtagsabgeordnete schätzen sich in allen Bereichen, aber vor allem bei „Karriere“ und „Vertrauen in andere Menschen“ als risikobereiter ein als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Die Formulierung der Ergebnisse, die mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Lauterkeit erfolgt, lautet: Diejenigen, die die Fragebögen beantwortet haben, die an Bundestagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete in vier Bundesländern verschickt wurden, schätzen ihre Risikobereitschaft in allen erfragten Bereichen höher ein als die SOEP-Befragten, mit denen sie gepaart wurden.

Dieses bescheidene Ergebnis, das die wissenschaftliche Lauterkeit nahelegt, lässt natürlich keine umfangreichen und weitreichenden Schlüsse zu. Deshalb ignorieren Heß et al. die wissenschaftliche Lauterkeit und begeben sich auf den riskanten Pfad des sozialwissenschaftlichen Hazardeurtums, das darin besteht, Ergebnisse mit einer Mischung unterschiedlichster Fehlschlüsse, von falscher Verallgemeinerung bis zu genetischem Fehlschluss aufzubauschen und daraus die folgende, weitgehend erfundene Erzählung zu weben:

Politiker, so die fünf Auguren, seien häufig mit riskanten Entscheidungen konfrontiert, die sie unter Unsicherheit treffen müssen, nicht nur häufig, nein auch häufiger als Normalbürger, denn Normalbürger, die träfen seltener riskante Entscheidungen, so die Autoren. [Einschub: Deshalb gibt es in Deutschland kaum Unfälle auf den Straßen, niemanden, der Pleite macht oder ein Unternehmen begründet und auch ansonsten nur Sicherheitsapostel, die im grellgelben Hemdchen mit Blaulicht auf dem Sturzhelm auch bei gleisender Sonne durch die Straßen laufen, um in jedem Fall erkannt zu werden.] Politiker, wie gesagt, sind hier anders. Sie lieben das Risiko. Heß und die vier anderen sind gar der Meinung, Politiker seien eine eigene Spezies, die sich durch genetische Faktoren und ihre Sozialisation von der normalen Bevölkerung unterscheide (Seite 5). Sie gingen Risiken ein, wo der Normalbürger davor zurückschrecke. Und weil diese Risikobereitschaft im Blut der Politiker liege, deshalb würden die besonders Risikofreudigen vom Fach des Politikers angezogen.

Wir ergänzen hier die Tautologie zur Reihe der Fehlschlüsse.

Warum nun aber ist die Tätigkeit eines „Politikers“ so mit Risikofreude assoziiert? Auch hier sind Heß und die anderen nicht um eine Antwort verlegen, auch hier gehen sie das hohe Risiko, sich lächerlich zu machen, mit Freude ein. Politische Entscheidungen, so ihre Ansicht, seien mit viel mehr Unsicherheit verbunden als andere Entscheidungen. Politiker hätten, im Gegensatz zu anderen Werktätigen, ständig die Gefahr, im Beruf zu scheitern, vor Augen. Das Risiko, nicht gewählt zu werden, abgewählt zu werden, die Notwendigkeit mit Konkurrenten zu wetteifern, das zeichne Politiker aus, übe seine Anziehung auf die genetisch für Risiko Prädisponierten und für Risiko Sozialisierten, die dann, wenn sie erst einmal Politiker sind, auch eine höhere Bereitschaft haben, ein Risiko einzugehen.

Der Bundestag besteht derzeit in seiner Mehrheit aus Personen, die im Vorberuf Lehrer, Rechtsanwalt, Verwaltungsangestellter, Gewerkschaftssekretär, wissenschaftlicher Mitarbeiter usw. waren. Das sind kaum die Berufe, von denen man erwarten würde, dass sie von Menschen, denen Risiko im Blut liegt, wie Heß et al. behaupten, aufgenommen werden. Risiken gehen Selbständige ein, Freiberufler, die sich nicht an den Staat und die Beamtenhoffnung der sicheren Pension verkaufen.

Die ganze Geschichte der Politiker und des für sie angeblich gegebenen höheren Risikos, im Beruf „Politiker“ zu scheitern, trägt nicht weit, wie jeder weiß, der jemals anwesend war, wenn der Landeslistenproporz, der letztlich über den Einzug von Kandidat X in den Bundestag entscheidet, zwischen den Bezirken und Unterbezirken der SPD ausgekungelt wurde. Die Tätigkeit „Politiker“ zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie weitgehend ohne Risiko auskommt, denn Risiko, vor allem Risikobereitschaft ist etwas Individuelles. Risiko ist nur dann ein Risiko, wenn der, der es eingeht, auch die Folgen eines eventuellen Scheiterns zu tragen hat. Welcher Politiker ist in letzter Zeit mit den Folgen seiner Entscheidungen konfrontiert worden? Politiker zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie keinerlei Risiko eingehen. Sie gehen Risiken für andere ein, haben keine Kosten, wenn sich eine Entscheidung als falsch herausstellen sollte. Kein Wunder, dass sie oder ihre Mitarbeiter risikobereiter sind. Sie zocken mit dem Geld der Steuerzahler, nicht mit ihrem eigenen Geld.

Und sie treffen keine Entscheidungen. Fraktionen treffen Entscheidungen, wie hinlänglich bekannt sein dürfte. Die Zeiten, in denen Abgeordnete das Risiko einer von der Fraktionsrichtlinie abweichenden Meinung eingegangen sind, die sind lange vorbei. Der heutige Abgeordnete ist risikoavers und angepasst. Er stimmt mit der Meute und hat nicht den Mut, das Risiko einer eigenen Meinung einzugehen, die sich am Ende als nicht im Einklang mit der vorgegebenen Fraktions-Meinung herausstellen könnte.

Nein, die Geschichte von Heß und den vier anderen, die Politiker als risikobereite Entscheider, die über ihre Genetik von der Normalbevölkerung unterschieden werden können, stilisieren wollen, ist eben das: Eine Geschichte. Keine aus 1001 Nacht, aber eine aus Berlin.

Das ist fast so gut. Der Unterschied ist kaum vorhanden.

Heß, Moritz, von Scheve, Christian, Schupp, Jürgen, Wagner, Aiko & Wagner, Gerd G. (2018). Are Political Representatives More Risk-Loving Than the Electorate? Evidence From German Federal and State Parliaments. Palgrave Communications.

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