Vernachlässigt oder lebensunfähig? Schüler aus Sicht eines Bayerischen Mittelschullehrers
Wir machen weiter in unserer Reihe mit Berichten aus der Schule. Heute gibt unser Lehrer aus Bayern einen kleinen Einblick in den Wissensstand, den seine Schüler mit in die Schule bringen und fragt nach den Ursachen dafür, dass Grundschüler häufig nicht einmal mehr eine analoge Uhr lesen können.
Wir haben gerade ein wissenschaftliches Gutachten im Bereich der Mathematikdidaktik erstellt. Vor allem in der deutschen Diskussion gibt es viele Autoren, die betonen, wie wichtig es ist, einen realitätsnahen Mathematikunterricht zu konzipieren und gestalten. Angesichts der Fehlstellen und Probleme mit einfachen Konzepten, die im folgenden Bericht unseres Lehrers für Schüler berichtet werden, müssen wir feststellen, dass die Diskussion unter denen, die sich um Mathematikdidaktik kümmern (sollen oder wollen) fernab der Realität verläuft und damit meinen wir gar nicht z.B. das „Werk“ von Marei Fetzer, die im Gerede von Grundschülern Argumentationsformen sucht, wie sie Stephen Toulmin in seinem Argumentationsmodell beschrieben hat. Derartige Schulfremdheit zeigt einerseits, dass die, die über Didaktik schreiben, oftmals eine eigene Welt bewohnen, die man andererseits und angesichts der darin normalen Worte, die z.B. Wortmeldungen von Schülern im Unterricht als „Diskursbeitrag im Klassenplenum“ beschreiben, nicht anders als als lächerlich bezeichnen kann.
Es wäre den entsprechenden Didaktikern sicher zuträglich, wenn sie sich mit dem beschäftigten, was in Schulen tatsächlich vorgeht, nicht mit dem, was ihre zuweilen weit entwickelte Phantasie daraus zu machen im Stande ist.
Damit sind wir bei der Realität einer mittelbayerischen Schule angekommen. Unser Lehrer hat das Wort.
„An der Hauptschule muss ein Lehrer theoretisch alle Fächer unterrichten. Am besten ist es, wenn er viel in seiner eigenen Klasse unterrichtet, damit man jemanden hat, der die Probleme in der Klasse überschaut. Deshalb kann ich auch über den Lernstand und die Arbeitshaltung in einzelnen Fächern erzählen.
Ich möchte mit Mathematik und Naturwissenschaften anfangen. Bis auf sehr wenige Schüler, die in anderen Bereichen wirklich gute Leistungen bringen, wäre der Rest der Schüler nicht an der Hauptschule gelandet, wenn er in beiden Fächern besondere Ahnung hätten.Eigentlich ist Mathematik ein beliebtes Fach, sofern man das Niveau recht niedrig hält. Doch bevor man die Schüler auf die Menschheit loslassen darf, meine ich, dass sie zumindest eine Vorstellung von Zahlen haben sollten. Diejenigen, die von einem Bauernhof kommen haben noch die meiste Ahnung. Obwohl es angeblich so viele Heimwerker gibt, hat von den Schülern anscheinend noch keiner zugeschaut und ebenso besteht das Problem, dass viele im Auto auf dem Rücksitz ausschließlich Spiele daddeln. Wir zählten früher Automarken um die Wette, lernten am Tacho große Zahlen kennen oder versuchten die Fahrzeit bei einer bestimmten Geschwindigkeit auszurechnen. Ohne Lehrer. Und das merkt man auch heute.
Ich hatte eine Schülerin einmal gefragt, wie groß sie denn sei. Als ich keine Antwort bekam, fragte ich: „halber Meter, ein Meter, 2 Meter?“ Sie nahm 2 Meter. Ich habe dann einen Meterstab geholt und sie gemessen. Früher hat man am Türrahmen immer Markierungen gemacht, wie stark man gewachsen ist, doch heute schauen die Eltern wohl in einer Internettabelle nach wie groß ihr Kind in dem Alter gerade sein muss, weil sie zu faul zum Messen sind.
Obwohl die Schüler im Sportunterricht verschiedene Strecken laufen, haben sie kein Gefühl für Entfernung und können zu 1000 keine passende Maßeinheit für die längste Strecke, die sie gelaufen sind, angeben. Die Hälfte läuft dann 1000 km oder 1000 cm. Dabei hatte ich noch diverse Dinge im Schulhaus vermessen lassen, damit sie eine Vorstellung von Längen bekommen. Zum Nachbarort sind es dann logischerweise 11000 km.
Nun könnte man meinen, dass sie wenigstens mit Geld umgehen könnten. Doch weit gefehlt. Von 19 Schülern schafften nur fünf das Wechselgeld anzugeben, wenn der Preis 15,34 € beträgt und mit einem 20-€-Schein bezahlt wird. Weil die von den Eltern nur Kartenzahlung kennen. Wie oft hat man früher beim Monopoly zwischendurch sein Geld gezählt. Heute bringen die Schüler, wenn es auf die Ferien zu geht, Monopolyspiele mit, bei denen man nur noch eine Karte in einen Automaten steckt, der das alles automatisch berechnet. Nichts mehr mit Zählen und Wechselgeld. Wer seinen Kindern diese Version des Spiels kauft und dann aber Mathematik-Nachhilfe bezahlt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Cent in Euro umzurechnen stellt folgerichtig für sie auch ein Problem dar, mit Flächenmaßen und Volumen sind sie dann natürlich komplett überfordert. Den wenigsten ist bekannt, dass 1 Liter Wasser 1 kg schwer ist, etwa genauso viele können ein Thermometer ablesen. Das machte man früher zu Hause schon bevor man in die Schule kam. Deshalb muss man den meisten erst mathematische Grundlagen beibringen, und da mache ich den Grundschullehrern keinen Vorwurf. Früher rechnete man stur Aufgaben gleichen Typs heute wird alles wie mit der Gießkanne mit Problemlösungsaufgaben durchsetzt, die die Guten auch so könnten, was aber den Schwächeren dann an Übungszeit fehlt.
Dieses sture Üben würde auch den heutigen Schülern nicht schaden. Auch werden die Kenntnisse, die die Schüler früher schon von zu Hause mitbrachten, zu wenig berücksichtigt. Es kann nicht sein, dass Schüler in der 5. Klasse keine Uhr mit Zeigern ablesen können, und – obwohl eine Uhr im Klassenzimmer hängt – fragen, wie lange es noch bis zur Pause sei. Und das ist kein Einzelfall.
Ich hatte mal einen Iraker, der war eigentlich zu alt für die Klasse, doch ich schaffte es nicht mit diversen Übungsheften für die 1.Klasse ihn über das Addieren im Zahlenraum bis 10 hinaus zu bringen. War trotzdem ein netter Kerl.
Nachdem in den bayerischen Hauptschulen bis zur 9.Klasse weitgehend die gleichen Themen behandelt werden, nur mit steigendem Niveau, erreichen aber viele ein Niveau, das es ihnen erlaubt, sich im täglichen Leben zurechtzufinden: Grundrechenarten, Dreisatz, Prozentrechnen und einfache Flächen.
PCB (Physik, Chemie, Biologie) ist eigentlich auch ein beliebtes Fach, und die Zusammenlegung von Biologie, Chemie und Physik hat gutgetan. Doch die Schüler haben meist ein so naives Weltbild, dass alle praktischen Experimente selten im Kopf hängenbleiben, weil sie sie mit nichts Bekanntem verknüpfen können.
Es fehlt den Schülern von heute inzwischen die Neugier, ihre Umwelt verstehen zu wollen und die Ehrfurcht, dass dieses Verständnis nicht vom Himmel gefallen ist. Das Wissen, bzw. Nicht-Wissen, im Bereich Physik und Chemie dürfte im Verhältnis zu Erwachsenen, auch Studenten, am wenigsten ins Gewicht fallen. Hätten die Durchschnittsbevölkerung nur Ansätze von Grundlagen in diesen Bereichen, dann könnte der Irrsinn, Deutschland ausschließlich durch Windräder und Sonne mit Strom versorgen zu wollen niemals eine Zustimmung in der Bevölkerung finden.
Bei den Schülern heißt es „Hauptsache Action“, bei den meisten Erwachsenen eben „Hauptsache öko und bei den Guten“.
Wer nichts weiß, der muss alles glauben.“
Fetzer, Marei (2011). Wie argumentieren Grundschulkinder im Mathematikunterricht. Eine argumentationstheoretische Perspektive. Journal für Mathematikdidaktik 32(1): 27-51.
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Ich denke, dass einige dieser Kids mindestens den 3. WK erleben. Je nachdem, mit welchen Waffen der geführt wird, könnte ein einfaches Beobachten der möglicherweise noch erhaltenen Umwelt und der Handvoll Mitmenschen über Leben und Tod entscheiden. Smartphone wird nicht viel nützen.
Den 3. WK mindestens. Wenn nicht sogar den vierten, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass der nicht mehr stattzufinden braucht.
Moin!
Das gleiche Thema hatten wir heute bei einem Brunch mit sieben Personen, alle zwischen 55 und 68 Jahre alt.
Mein Beitrag war, dass 2014 bei einer Pflegetochter ich folgendes bemerkte. Beim kleinen Einmalseins lernte sie nur die Zahlenreihen auswendig. Zum Beispiel 9, 18, 27, 36 und so fort.
Als ich sagte, es heißt eher: 1 x 9 = 9, 2 x 9 = 18, 3 x 9 = 27 usw., wurde mir geantwortet, so sollen wir es nicht lernen.
Meine Absicht war, das Kind darauf hinzuweisen, man könne die Rechnung auch umstellen, da es ja eine Gleichung sei. Und wenn man gelernt, verinnerlicht hat, 7 x 9 ist das Dasselbe (im Ergebnis) wie 9 x 7, so ist der Mensch einen großen Schritt weiter!
Ich erntete nur große Ungläubigkeit und die Erkenntnis: Es gilt (galt) nur, was die Lehrer sagten.
Wegen Differenzen mit der Schulleitung und der Klassenlehrerin, sowie der Rückkehr des Pflegekindes zu den leiblichen Eltern, erledigte sich das Thema dann von allein.
Mit freundlichen Grüßen
Gerd Taddicken
XTRGA_17.13_Uhr_01.Jul.18_So_
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Nun, mein Vater hat Mathematik als Lehramt studiert, Er erzählte mir mal, weiß nicht, ob es eine Anekdote war, folgendes, nachdem sein Professor die 10. schwierige Ableitung einer Geichung generös hingelegt hat. kam er zu dem Problem 2×6 auszurechnen. Er überlegte und überlegte. Das Auditorium war schon am Lachen, die Einen riefen 5 die Anderen 7, da drehte ich der Pof. um und sagte: „Also meine Herrschaften , es kann doch nur eine Zahl sein“.
Mathematiker können nicht rechnen, und die die rechnen können sind keine Mathematiker.
Ein Klassenkamerad von mir, war ein guter Kopfrechner, aber als es dann an die Mathematik ging (Gleichung 2. Grades), stürzte er vollends ab -ist heute Theologe.
In der Tat, Brockenteufel, sind Rechnen und Mathematik zwei verschiedene Dinge. Je nach eigener Erfahrung mit dem Fach Mathematik ist eine Ableitung auch schon mehr Rechnen als Mathematik, was aber hier keine Rolle spielt.
Gemäß der Studienordnungen im Grundschullehramt kann ich nicht ausschließen, dass die von Gerd beschriebene Erfahrung auf fachliche Lücken bei der Grundschullehrkraft zurückzuführen sind. Ich habe auch schon einmal gehört, dass Grundschüler nicht die 3er- oder 8er-Reihe lernen sollten, sondern die Bärchen- oder Hasen-Reihe. Alles im Rahmen der Förderung so genannter bildungsferner Schichten. Das im Artikel genannte sture Üben fehlt in der Tat oder wie es der Mathematiker Geord Polya mal treffend formuliert hat:
„Vergesst nicht: Wenn ihr schwimmen lernen wollt, dann geht mutig ins Wasser, wenn ihr lernen wollt, Aufgaben zu lösen, dann löst sie.“
Dabei ist das Wort „wollt“ nicht als Diskussionsgrundlage zwischen Schüler oder Eltern und Lehrer zu verstehen.
„Es gilt (galt) nur, was die Lehrer sagten.“
Selber denken ist in Schulen und auch anderswo (Universitäten et cetera) längst nicht mehr angesagt.
Gewisse Dinge wie zum Beispiel viele Unterrichtsinhalte an sich und die Notwendigkeit des Übens dürfen aber nicht hinterfragt werden und sollten dringend massiv ausgeweitet werden.