(Dame) Mary Douglas: „Wo Schmutz ist, ist ein System“ – und umgekehrt! Von moralischer Verschmutzung und Reinigungsriten

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo“ ist vermutlich das bekannteste Buch der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas, die am 28. November 1921 in Sanremo geboren wurde und am 16. Mai 2007 in London gestorben ist. Dieses Buch wurde im Jahr 1966 erstmals veröffentlicht und erschien in einer deutschsprachigen Übersetzung im Jahr 1985 unter dem Titel „Reinheit und Gefährdung: eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu“.

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„Purity and Danger“ ist nicht nur eines der im sozialanthropologischen Studium am häufigsten gelesenen Bücher, sondern ist weit über die Sozialanthropologie hinaus bekannt geworden. Es hat u.a. die Architektur, Religionswissenschaft, Literaturwissenschaft und die sogenannten „Cultural Studies“ angeregt (wenn auch nicht immer auf der Basis einer durch den Inhalt des Buches gerechtfertigten Rezeption), aber auch – u.a. durch Buchbesprechungen in Tages- oder Wochenzeitungen – eine breitere Öffentlichkeit erreicht. „Purity and Danger“ stellt vielleicht auch den wichtigsten Beitrag zur Sozialanthropologie dar, den Douglas erbracht hat, nicht zuletzt deshalb, weil Douglas in diesem Buch die Vorstellung von Schmutz, d.h. von gefährlich Verunreinigendem, aus ihrer engen Verbindung entweder mit Religionen sogenannter primitiver oder antiker Gesellschaften oder mit dem medizinischen Kontext, in dem Schmutz als Träger pathogener Organismen herauslöst und als ein Konzept identifiziert, das in jeder menschlichen Gesellschaft relevant ist, auch in modernen, europäischen Gesellschaften:

„If we can abstract pathogenicity and hygiene from our [European] notion of dirt, we are left with the old definition of dirt as matter out of place. This is a very suggestive approach. It implies two conditions: a set of ordered relations and a contravention of that order. Dirt then, is never a unique, isolated event. Where there is dirt there is system. Dirt is the by-product of a systematic ordering and classification of matter, in so far as ordering involves rejecting inappropriate elements … We can reorganise in our own notions of dirt that we are using a kind of omnibus compendium which includes all the rejected elements of ordered systems” (Douglas 1984 36; Hervorhebungen d.d.A.).

Und um zu illustrieren, dass die Vorstellung von Schmutz eine ist, die nur einen Inhalt haben kann, wenn man sie relativ zu einer Vorstellung von einer (jeweils bestimmten) Ordnung denkt, führt Douglas einige einfache Beispiel an, die zeigen, dass nicht Dinge an sich schmutzig sind, sondern sie an bestimmten Plätzen zum Schmutz werden bzw. ein bestimmter Umgang mit ihnen als schmutzig gilt (Douglas 1984: 37). So sind z.B. Schuhe nicht an sich schmutzig, aber es ist schmutzig, sie auf dem Wohnzimmertisch abzustellen, während es nicht schmutzig ist, dieselben Schuhe im selben Zustand auf der Matte neben der Türeingang abzustellen. Schuhe „gehören“ eben nicht auf den Wohnzimmertisch, ja, nicht einmal auf den Boden neben dem Wohnzimmertisch; sie haben dort keinen Platz – nicht im räumlichen Sinn, sondern im Sinne der Ordnung. Für Schuhe sind bestimmte Orte vorgesehen, die die „richtigen“ Orte für sie sind. Schmutz wird also erzeugt, wenn ein Ding oder eine Idee die Klassifikationen durcheinanderbringt oder ihnen widerspricht, die uns wichtig sind oder die wir für die Normalität schlechthin halten:

„In short, our pollution behaviour is the reaction which condemns any object or ideal likely to confuse or contradict our cherished classifications … Defined in this way it appears as a residual category, rejected from our normal scheme of classifications” (Douglas 1984: 37).

Dies zeigt sich auch in den Taxonomien, anhand derer wir die Welt ordnen und bezeichnen. So unterscheiden wir im Deutschen u.a. Nutztiere, Haustiere und Wildtiere. Wir neigen dazu, von allem, was nicht in eine dieser Unterklassen von Tieren passt, als Schädlingen oder Ungeziefer zu sprechen, also in Begriffen, die mit Vorstellungen von Störendem oder Schmutz verbunden sind. Ein Hund, der kein Haustier, kein Rassehund, kein Spürhund, kein Rettungshund oder kein Blindenhund ist, wird durch die Restkategorie „Straßenköter“ bezeichnet, als ein Hund, der nirgendwo hingehört, keinen Platz in der vorgesehenen Ordnung der Dinge hat – weder klassifikatorisch noch räumlich insofern als er keine Steuerplakette und keine menschliche „Adresse“ hat – und deshalb die Ordnung stört.





Einer unordentlichen Natur eine Ordnung überzustülpen, ist eine Voraussetzung für sinnhafte menschliche Erfahrung und vorhersagbares – und daher stabiles – menschliches Zusammenleben – wie Fardon (1999: 89) Douglas paraphrasiert  –, aber dabei bleibt immer ein Stück Unordentlichkeit, die Summe dessen, was nicht in die der Natur bzw. Realität übergestülpte Ordnung passt, übrig. Auch jedes soziale System hat eine formale Struktur, der ein Ordnungssystem zugrunde liegt, und wie jedes Ordnungssystem hat jedes soziale System Bereiche, die nicht klar in die Ordnung eingepasst werden können. Mit diesen Residuen – Douglas nennt sie „Anomalien“ (Douglas 1984: 38) – können Individuen besser umgehen als Gemeinschaften oder Gesellschaften:

„Negatively, we can ignore, just not perceive them, or perceiving we can condemn. Positively[,] we can deliberately confront the anomaly and try to create a new pattern of reality in which it has a place. It is not impossible for an individual to revise his own personal scheme of classifications. But no individual lives in isolation and his scheme will have been partly received from others. Culture, in the sense of the public, standardised values of community, mediates the experiences of individuals. It provides in advance some basic categories, a positive pattern in which ideas and values are tidily ordered. And above all, it has authority, since each is induced to assent because of the assent of others. But its public character makes its categories more rigid. A private person may revise his pattern of assumptions or not. It is a private matter. But cultural categories are public matters. They cannot so easily be subject to revision. Yet they cannot neglect the challenge of aberrant forms. Any given system of classification must give rise to anomalies, and any given culture must confront events which seem to defy its assumptions. It cannot ignore the anomalies which its scheme produces, except at risk of forfeiting confidence. This is why, I suggest, we find in any culture … various provisions for dealing with ambiguous or anomalous events” (Douglas 1984: 39-40).

Aber irgendwie müssen (auch) soziale Systeme, Gemeinschaften oder Gesellschaften mit der verbleibenden Unordnung, den Anomalien, umgehen. Douglas (Douglas 1984: 40-41) nennt fünf Arten und Weisen, auf die sie mit den Anomalien, die ihre Ordnung notwendigerweise geschaffen hat, umgehen können:

(1) Sie können Ambiguität reduzieren.

Douglas bringt in diesem Zusammenhang das Beispiel vom Umgang der Nuer mit „monstrous births“ (Douglas 1984: 40). Ein vergleichbares Beispiel aus unserer eigenen Kultur wäre die Festlegung des Hirntodes als Kriterium für den Tod eines Menschen, durch das zwischen Leben und Tod eines Menschen unterschieden werden kann, was wiederum eine Reihe praktischer Probleme löst wie sie z.B. im Zusammenhang mit Organentnahmen entstehen: Der Mensch, dem ein Organ entnommen werden soll, muss noch lebendig genug sein, damit die Durchblutung des Organs gewährleistet ist, aber tot genug, damit die Organentnahme nicht als Mord an einem lebendigen Menschen erscheint. Hirntod als Kriterium für den Tod eines Menschen zu benutzen, wird diesen Anforderungen gerecht; der Hirntod ermöglicht eine klare Grenzziehung zwischen Leben und Tod, wo keine offensichtliche Grenzziehung besteht.

(2) Die Existenz von Anomalien kann physisch/biologisch kontrolliert oder genauer: eingeschränkt werden.

Das ist z.B. dann der Fall, wenn siamesische Zwillinge operativ voneinander getrennt werden. Wenn sie den Eingriff überleben, ist die Anomalie aufgehoben, wenn sie ihn nicht überleben, ist die Anomalie nicht mehr existent.

(3) Anomalien können Gegenstand von Meidungsregeln oder gar -vorschriften werden. Durch diese Regeln oder Vorschriften wird dasjenige hervorgehoben und gestärkt, wogegen die Anomalien „verstoßen“.

(4) Anomalien können in Gefahren umgemünzt werden:

„Attributing danger is one way of putting a subject above dispute. It also helps to enforce conformity …” (Douglas 1984: 41). Wenn z.B. eine neu entstandene Partei, die das politische establishment zu gefährden droht (wie derzeit z.B. die AfD) als eine Gefahr für die Demokratie dargestellt wird, ist keine Auseinandersetzung mit ihren Inhalten und Zielen mehr notwendig, weil eine solche Auseinandersetzung angesichts der Gefahr, die sie darstellt (oder darstellen soll), geradezu fahrlässig erscheint. Gleichzeitig erfolgt – eben aufgrund der drohenden Gefahr – ein Schulterschluss der der Gefahr Ausgesetzten.

(5) Anomalien, die gleichzeitig Ambiguitäten sind, also mindestens zwei verschiedene Interpretationen ermöglichen, können im Rahmen von Ritualen oder künstlerischer Tätigkeit auf eine Weise verarbeitet werden, die ihren Bedeutungsgehalt erweitern oder sie über sich selbst hinausweisen lassen. Dies ist z.B. der Fall, wenn in einer modernen westlichen Gesellschaft, in der es keine Todesstrafe gibt und physische Gewalt mehrheitlich abgelehnt wird, die Gestalt eines an ein Kreuz geschlagenen Mannes das Zentrum religiöser Verehrung ist.

Die angeführten Beispiele stammen alle von mir, nicht von Douglas, und dies mag die Frage aufwerfen, ob Douglas selbst Einwände gegen sie hätte oder genauer: ob sie die Übertragung ihrer Konzepte auf derzeitige Verhältnisse in modernen europäischen Gesellschaften billigen würde. Diese Frage lässt sich klar mit „ja“ beantworten:

“To conclude, if uncleanness is matter out of place, we must approach it through order. Uncleanness or dirt is that which must not be included if a pattern is to be maintained. To recognise this is the first step towards insight into pollution. It involves us in no clear-cut distinction between sacred and secular. The same principle applies throughout. Furthermore, it involves no special distinction between primitives and moderns: we are all subject to the same rules. But in the primitive culture the rule of patterning works with greater force and more total comprehensiveness. With the moderns it applies to disjointed, separate areas of existence” (Douglas 1984: 41: Hervorhebung d.d.A.).

Aber (auch oder gerade) moderne Menschen sind in soziale Systeme eingebunden, die in umfassender Weise Druck auf Anpassung ausüben bzw. ihre Stabilität ihrer Fähigkeit verdanken, großen Massen von Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie grundlegende Erfahrungen und Interessen miteinander teilen. Hier – wie in sogenannten primitiven Gesellschaften – geht es darum, eine moralische Ordnung durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, und dazu eignet sich anscheinend die vierte Art, mit Anomalien umzugehen, also sie in Gefahren umzuwandeln, besonders gut:

„… the ideal order of society is guarded by dangers which threaten transgressors. These danger- beliefs are as much threats which one man uses to coerce another as dangers which he himself fears to incur by his own lapses from righteousness. They are a strong language of mutual exhortation. At this level the laws of nature are dragged in to sanction the moral code: this kind of disease is caused by adultery, that by incest; this meteorological disaster is the effect of political disloyalty, that the effect of impiety. The whole universe is harnessed to men’s attempts to force one another into good citizenship. Thus, we find that certain moral values are upheld and certain social rules defined by beliefs in dangerous contagion, as when the glance or touch of an adulterer is held to bring illness to his neighbours or his children” (Douglas 1984: 3),

oder so, als würden Klima”leugner” die Vernichtung des Planeten Erde verursachen und das eigene Überleben direkt gefährden. (In diesem Zusammenhang sei dem interessierten Leser ein anderes Buch von Mary Douglas und ihrem Koautoren Aaron Wildavsky mit dem Titel „Risk and Culture“ aus dem Jahr zur Lektüre empfohlen; es zeigt, dass und wie „[r]isk is a collective construct“ (Douglas & Wildavsky 1982: 186).

Wichtiger als irgendeine konkrete physische Gefährdung ist die symbolische Ladung („symbolic load“; Douglas 1984: 3), mit der Kontakte mit Gefährlichem oder Gefährlichen bzw. deren Vermeidung versehen werden. Ein „guter“ Mensch zu sein, bedeutet dann nicht nur, ein ordentlicher Mensch zu sein im Sinn von Gesinnungs- und Handlungsübereinstimmung mit der moralischen Ordnung, sondern auch, sich vor „schlechten“ Menschen zu schützen, Menschen, die Unordnung bringen, die einen mit ihrer Unordentlichkeit insofern anstecken können als sie mit ihrer Unordentlichkeit Unordnung in die eigene, vermutlich mühevoll ordentlich gehaltene Weltsicht, bringen können. Bringer von Unordnung werden daher tatsächlich oder quasi mit einem Tabu belegt. Meidungsgebote („rules of avoidance“; Douglas 1984: 160) markieren für alle erkennbar die Grenzen der Ideenstruktur („structure of ideas“; Douglas 1984: 160), die der durchzusetzenden oder zu bewahrenden Ordnung zugrunde liegt:

„For I believe that ideas about separating, purifying, demarcating and punishing transgressions have as their main function to impose system on an inherently untidy experience. It is only by exaggerating the difference between within and without, about and below, male and female, with and against, that a semblance of order is created” (Douglas 1984: 4).

Immerhin wird dem Unordentlichen ja ein Platz zugewiesen, wenn es unten in der sozialen Hierarchie oder unten in der moralischen Hierarchie verortet wird oder wenn es gänzlich aus der eigenen Gruppe, Gesellschaft oder Kultur ausgeschlossen wird. Und damit wird es handhabbar. Es wird platziert, und zwar dort, wo es die Ordnung der Dinge kaum oder gar nicht in Frage stellen oder durcheinanderbringen kann.

Um ihre Argumentation in „Purity and Danger“ zu stützen, hat Douglas viele Beispiele aus sogenannten primitiven Gesellschaften, besonders, aber nicht nur, solchen in Afrika, angeführt bzw. versucht, „to generalize from Africa“ (Douglas 1986: ix), hat aber keine systematischen Bezüge zu modernen Gesellschaften hergestellt. Darüber hinaus stammen ihre Beispiele weit überwiegend aus dem Bereich der Religion bzw. der religiösen Ordnung, die in sogenannten primitiven Gesellschaften häufig eng mit der sozialen Ordnung verwoben ist. In heutigen europäischen Gesellschaften ist dies nicht (mehr) der Fall. Wie aus einem oben stehenden Zitat aber schon deutlich wurde, hat Douglas festgehalten, dass wir Menschen alle „subject to the same rules“ (s. Zitat oben) mit Bezug auf Reinheit in unseren Ordnungsvorstellungen sind, und soziale Ordnungen machen diesbezüglich keine Ausnahme.

Und drängt es sich nicht auf, auffällige Entwicklungen in den westlichen Staaten – wie diejenige weg von der mehr oder weniger argumentativen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden/Andersmeinenden und hin zur Inszenierung derselben als moralisch fragwürdige Agenten einer bekämpfungswürdiger Agenda, also als Feinde – wenn nicht zu erklären, so doch einigermaßen durch das Instrumentarium fassbar zu machen, das in „Purity and Danger“ an die Hand gegeben wird?

Werden die moralische Verdammung politisch oder sonstwie Andersdenkender und die Vermeidung jeden Dialoges mit ihnen, wie sie systematisch z.B. von Genderisten und von Klimaaktivisten betrieben werden, nicht am besten als Ausdruck des Versuchs aufgefasst, Elemente der Realität, die nicht in deren angestrebte Ordnung der Dinge passen, durch Ignoranz ihnen gegenüber zu kontrollieren und, wo dies nicht (mehr) möglich ist, das, was die Bringer der „Unordnung“ zu sagen haben, als gefährlich für irgendetwas oder alles Mögliche, das Klima, die Demokratie, die Zukunft der Menschheit u.v.m. zu brandmarken, weshalb es – samt derjenigen, die solches sagen, – tabuisiert wird?





Wird denjenigen, die anders denken als diejenigen, die eine neue gesellschaftliche Ordnung, die sich durch Zentralismus statt Föderalismus, Gleichheit statt Gerechtigkeit und die drastische Beschränkung individueller Freiheiten auszeichnet, durchsetzen wollen, nicht durch die Behauptung, sie seien einfältige Opfer von „Populisten“ ein Platz ganz unten in der sozialen und moralischen gesellschaftlichen Hierarchie zugewiesen?

Dienen Aufforderungen und bereits installierte Möglichkeiten zur Denunziation von Andersdenkenden, z.B. beim Arbeitgeber, nicht dem Ziel, ein Meidungsgebot gegen sie durchzusetzen, d.h. sie aus der Gemeinschaft der moralisch „Ordentlichen“ auszuschließen und Kontakte von moralisch „Ordentlichen“ mit ihnen zu minimieren, sie mundtot zu machen, damit sie keine „Ansteckungsgefahr“ mehr darstellen?

Dienen Sprachgebote und vor allem –verbote nicht demselben Ziel, d.h. Andersdenkende entweder unhörbar zu machen oder – bei Übertretung des Verbotes – als moralisch „Unordentliche“ identifizieren und exponieren zu können?

Sind neue soziale Rituale der Bekundung von Sympathien und Antipathien, z.B. durch die „me too“-Kampagnen auf Facebook oder Twitter oder durch eine Wanderung durch die Straßen der USA mit Schildern, auf denen verkündet wird, Trump sei nicht „my president“, nicht Ausdruck des Strebens nach einer neuen Ordnung, in der man seine moralische Ordentlichkeit nicht durch die eigene alltägliche Lebensführung oder Argumentation, sondern durch Sympathiebekundungen mit anderen moralisch „Ordentlichen“ und Antipathiebekundungen gegen moralisch „Unordentliche“ zeigt? Und dienen sie darüber hinaus nicht (im ersten Fall) der Selbstreinigung durch eine Art Beichte oder (im zweiten Fall) als Abwehrritual gegen das, was sie als „Krankheitsherd“ wahrnehmen, als Quelle des Pathogenen, von dem sie schon so viele um sich herum angesteckt sehen?

Weil es „…. impossible [ist] to have social relations without symbolic acts“ (Douglas 1984: 63), und soziale Beziehungen den Kern sozialer Realität ausmachen, dienen soziale Riten wie die genannten auch dazu, die Realität, die noch keine ist, weil sie erst angestrebt wird, zu erschaffen, heute würde man wohl sagen: durch Netzwerkbildung unter denjenigen, die sich als die in der neuen Ordnung „Ordentlichen“ betrachten. In diesem Sinn gilt: „Social rituals create a reality which would be nothing without them“ (Douglas 1984: 63).

Und schließlich: Wie viele Elemente der Realität können „disjointed, separate areas of existence” aus der angestrebten neuen Ordnung ausschließen, bis diese neue Ordnung sich als nicht (über-/)lebbar bzw. als Dystopie erweist?

Reinheitsvorstellungen mit Bezug auf eine gegebene Ordnung stehen Kompromissen entgegen (Douglas 1984: 163), weil gemessen an ihnen durch Kompromisse erzwungene Abstriche an der Ordnung eben als Elemente der Unordnung, als „Schmutz“ erscheinen, der u.U. kontaminierend wirken und deshalb möglichst entsorgt werden muss. Das gilt m.E. aber auch und sogar besonders für Ordnungen oder besser: Ordnungsentwürfe, die noch durchzusetzen sind: Insofern sie sich durch tatsächliche oder vermeintliche Unzulänglichkeiten der bestehenden Ordnung zu legitimieren versuchen, dürfen sie sich nicht ihrerseits dem Verdacht der Heuchelei aussetzen.

„Es ist Teil der conditio humana, nach festen Grenzen zu trachten, aber das Streben nach Reinheit und Ordnung verursacht eine Divergenz zwischen dem Realen und dem Idealen, so dass im gewissen Sinne die Ablehnung von ‚Schmutz“ eine Ablehnung der Realitäten des Lebens bedeutet. Eine zu rigide Befolgung eines Regimes der Reinheit reizt zum Widerspruch, eine Nicht-Einhaltung dagegen zur Heuchelei“ (Maud 2014: 217).

Mehr als das: eine zu starke Ablehnung der Realitäten des Lebens kann eine ganze Gesellschaft zerstören, sei es kulturell oder physisch. Festhalten kann man jedenfalls, dass Demokratie als eine Form, das gesellschaftliche Zusammenleben zu regeln, unvereinbar ist mit Ordnungsentwürfen, die auf rigiden Vorstellungen moralischer Reinheit und Unreinheit basieren, denn wie gesagt sind dann Kompromisse als notwendiger Bestandteil von Demokratie inakzeptable Verunreinigungen. Während sogenannte primitive Gesellschaften gewöhnlich über Mittel verfügen, „Kontaminierte“ und ihre soziale Umgebung zu „heilen“ und so eine Reintegration aller in die Gesellschaft zu bewerkstelligen – Douglas gibt dafür Beispiele in „Purity and Danger“ – scheint es, dass sogenannte moderne, westliche Gesellschaften unfähig oder unwillig sind, allen, die in ihnen leben, ein Leben einigermaßen im Einklang mit ihren eigenen Bedürfnissen, Überzeugungen und Hoffnungen zu ermöglichen – das würde wie gesagt Dialog und Kompromissbereitschaft erfordern.


Literatur

Douglas, Mary 1986: How Institutions Think. Syracuse, NY: Syracuse University Press.

Douglas, Mary, 1984[1966]: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. London: Routledge.

(Deutsche Übersetzung: 1985: Reinheit und Gefährdung: Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin: Reimer.)

Douglas, Mary & Wildavsky, Aaron, 1982: Risk and Culture: An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. Berkeley: University of California Press.

Fardon, Richard, 1999: Mary Douglas: An Intellectual Biography. London: Routledge.

Maud, Jovan, 2014: Mary Douglas: Purity and Danger …. In: Salzborn, Samuel (Hrsg.): Klassiker der Sozialwissenschaften: 100 Schlüsselwerke im Portrait. Wiesbaden: Springer VS, S. 214-218.


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