Mainstream-Medien jubilieren, der reale Theodor Adorno bleibt (oft) auf der Strecke

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Zugegeben: Obwohl heute der 50. Todestag von Theodor Adorno ist, hätten wir bei ScienceFiles vermutlich gar nicht, sicherlich aber nicht heute, über Theodor W. Adorno geschrieben, hätten wir nicht mit einigem Interesse verfolgt, wie Adorno heute in deutschsprachigen mainstream-Medien dargestellt wird.

Theodor Adornos Name wird gewöhnlich mit der so genannten Frankfurter Schule in Verbindung gebracht, die eine kleine Zahl von Vertretern verschiedener universitärer Fächer umfasste, die sich auf der Basis der Schriften von Hegel, Marx und Nietzsche als Sozialphilosophen versuchten. Vor diesem ideologischen Hintergrund kritisierten sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, weshalb sie sich selbst „kritisch“ fanden und ihre sozialtheoretischen Vorstellungen als „kritische Theorie“ bezeichnet wird. Sie verbreiteten ihre sozialtheoretischen Vorstellungen vom im Jahr 1923 an der Universität Frankfurt gegründeten Institut für Sozialforschung aus, das von dem Marx-Anhänger Felix Weil, der eine Dissertation über die praktischen Probleme der Implementierung des Sozialismus im Fach Politikwissenschaft geschrieben hat (Jay 1996: 5), gegründet und (mit dem Geld seines Vaters, Hermann Weil,) finanziell unterstützt wurde. Die Bezeichnung „Institut für Sozialforschung“ wurde gewählt, nachdem vom ursprünglichen Vorschlag, der „Institut für Marxismus“ lautete, als zu provokant Abstand genommen wurde und der Vorschlag des damals zuständigen Bildungsministeriums, das Institut „Felix-Weil-Institut für Sozialforschung“ zu nennen, von Gründer Felix Weil abgelehnt wurde, weil er wollte, dass das Institut für seinen Beitrag zur Etablierung des Marxismus als wissenschaftliche Disziplin [!] bekannt werden sollte und nicht aufgrund des Geldes seines Gründers (Jay 1996: 8).

Zum Begriff der „Kritik“ gäbe es allerhand zu sagen, aber belassen wir es hier dabei, festzuhalten, dass der Begriff vollkommen sinnentleert wäre, wenn sich jeder, der an irgendeinem Aspekt des status quo etwas auszusetzen hat, als „Kritiker“ oder als Vertreter einer kritischen Theorie bezeichnen wollte. Von der Sache her ist die „kritische Theorie“ des Frankfurter Zirkels eine prätentiöse Bezeichnung dafür, dass es seinen Angehörigen als Marxisten nicht passte, dass in Deutschland kein Sozialismus bestand.

Also lassen wir den Unfug und widmen uns stattdessen Theodor Adorno, der ungefähr so gut zu greifen ist wie ein Stück Seife in der Badewanne. Das klingt despektierlich, ist aber tatsächlich nicht despektierlich, sondern deskriptiv gemeint:

Adorno ist als Philosoph bekannt, hat aber zunächst Komposition studiert, und tatsächlich blieb er sein Leben lang der Musik verbunden, was sich in musiktheoretischen Arbeiten und insbesondere in seiner Klage von der Musik als einfach konsumierbares Genussmittel statt als Kulturgut, dessen Würdigung einen verfeinerten Sinn für seine Ästhetik voraussetzt, niederschlug (s. z.B. Adorno 2008; 2002). Personen, die den Namen „Adorno“ mit Musiktheorie in Verbindung bringen, wissen gewöhnlich wenig von seinen theologischen bzw. metaphysischen Reflexionen, und beide wissen wiederum vielleicht nichts von seinen Reflexionen über Kunst – der Art: „Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen“ (Adorno 1973: 25-26).

Sie alle wissen – wie die meisten Leute – vermutlich nur vom Hören-Sagen, von der Studie zur autoritären Persönlichkeit, die übrigens keineswegs hauptsächlich, federführend oder gar auf Initiative von Adorno hin durchgeführt wurde, sondern von einer Gruppe von „less dialectically minded scholars“ (Apostolidis 2000: 67) in Kooperation mit Adorno, der zu dieser Zeit im amerikanischen Exil lebte. Alles andere wäre auch erstaunlich gewesen, hat Adorno mit der empirischen Sozialforschung, insbesondere in ihrer quantifizierenden Ausprägung, doch große Schwierigkeiten gehabt, weshalb er schon während seiner Anstellung am von Paul F. Lazarsfeld geleiteten Princeton Radio Research Project – eine Anstellung, die ihm aufgrund seiner Neigungen zur Musik hätte angenehm sein können und die hauptsächlich durch Vermittlung Horkheimers zustandegekommen war (Morrison 1978: 334) – weder mit Lazarsfeld noch mit seinen Kollegen zurechtkam, die ihn einfach empörend und arrogant fanden (Jenemann 2007: 12).

Wenn „mdr Kultur“ „[z]um 50. Todestag des Philosophen“ textet „Wie Adorno den Rechtsradikalismus erklärte, dann ist das insofern sachlich falsch als Adorno Rechtsradikalismus überhaupt nicht erklärt hat, sondern lediglich in einem Vortrag aus dem Jahr 1967 über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“, darüber spekuliert hat, was im Zusammenhang mit Rechtsradikalismus eine Rolle spielen könnte – und dies ist eine wohlwollende Beschreibung des Vortrages; man stößt im Vortrag nämlich fast nur auf Leerformeln wie die, nach der „[d]ie gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Faschismus [fort]bestehen, weil sich die Versprechen von Freiheit und Gleichheit in der Demokratie für viele nicht eingelöst haben“ – obwohl es doch gerade Faschisten sind, die persönliche Freiheiten einschränken und Gerechtigkeitsprinzipien außer Kraft setzen. Dass der alte, ziemlich nichtssagende Vortrag von Adorno im Juli diesen Jahres posthum in Buchform und auf den Markt gebracht wurde – von Suhrkamp für die Kleinigkeit von Euro 10 – darf wohl angemessen als Mitnahmeeffekt im Zeitgeist bezeichnet werden.

Wenn Adorno in seinem Leben jemals in die Nähe einer Erklärung für ein soziales Phänomen gekommen ist, dann im Zusammenhang mit der Suche nach den Grundlagen von Vorurteilen und Ideologien, wie sie aus der Publikation von Adorno et al. (1973) über die autoritäre Persönlichkeit bekannt ist. Wie gesagt war es aber nicht Adorno allein und nicht einmal hauptsächlich Adorno, der die autoritäre Persönlichkeit untersucht hat; er steht deshalb vorne auf der entsprechenden Publikation, weil er einen Nachnamen hat, der mit „A“ beginnt und die Koautoren alle Nachnamen haben, die mit einem Buchstaben beginnen, der im Alphabet nach „A“ steht.





Damit ist das Interesse, das man an Adorno als Sozialforscher oder Soziologe haben kann, weitgehend erschöpft, und tatsächlich versuchen einige mainstream-Medien erst gar nicht, ihn als für die Sozialforschung oder speziell die Soziologie relevant darzustellen. Beim Deutschlandfunk z.B. wird er zwar als „einer der geistigen Väter der Studentenbewegung: … [als] einer der deutschen Meisterdenker des 20 Jahrhunderts“ dargestellt, aber der folgende Text konzentriert sich sehr stark auf Aphorismen von Adorno zu Religion und Theologie, was deutlich zu wenig ist, um die Leistungen eines „Meisterdenker[s]“ zu illustrieren.

Am seltsamsten ist vielleicht die Darstellung von Adorno als „Rebell in Anzug und Krawatte“, die sich der Nordbayerische Kurier leistet. Es dürfte wenig gegeben haben, was Adorno ferner gelegen hat, als sich an einer Rebellion zu beteiligen, und ganz sicher wäre es ihm zuwider gewesen, sich selbst als Rebell zu betrachten oder sich so bezeichnen lassen zu müssen. Die Anti-Bürgerlichkeit des klassisch gebildeten (Spieß-/)Bürgers Adorno war eine durch und durch bürgerliche, bloß gedachte und teilweise verbalisierte, Antibürgerlichkeit, aber keine, die er auch nur im Ansatz gelebt hätte oder hätte leben wollen, weshalb Stefan Müller-Doohm (1997) einen Aufsatz über Adorno treffend betitelt hat mit „Denken im Niemandsland: Theodor W. Adornos bürgerliche Antibürgerlichkeit“. Das kann man selbst in einem Text von „Deutschlandfunk Kultur“ von Christopf Spittler nachlesen, der den – den Tatsachen angemessenen – TitelDer spießige Marxistträgt . Adorno war alles andere als ein Rebell, und wenn er als (ein) „Vater der Studentenbewegung“ bezeichnet wird, dann handelt es sich hier um eine Wahlverwandtschaft vonseiten der Studenten, nicht von Adorno, denn Adorno selbst brachte der Studentenbewegung – wie jeder Massenbewegung – und ihren Aktionen, insbesondere allen gewalttätigen Aktionen, „nur Mißtrauen“ entgegen (Kailitz 2007: 223), und etwas anderes hätte man von dem vergeistigten, reflektierenden Bürger Adorno auch nicht erwartet.

Wenn die Darstellung Adornos in den mainstream-Medien fragmentiert ist, dann kann man mit einigem guten Willen sagen, dass es die Gesamtsicht auf die vielen Fragmente sind, die eine Chance bieten, den Adorno einigermaßen angemessen abzubilden, der vor 50 Jahren gestorben ist. Ungeachtet der Frage, wer der Mensch Adorno war, was er gedacht hat und was nicht, was er wie bewertet hat, lässt sich aber festhalten, was er nicht war: er war kein „Vater“ der Studentenbewegung der 1960er-Jahre, kein Rebell, keiner, der Antibürgerlichkeit in irgendeinem Sinn gelebt hätte. Ja, er bleibt nicht einmal während seines ganzen Lebens der Kritiker der USA mit seiner „Konsumkultur“, der er zur Zeit seines Aufenthaltes in den USA gewesen war und als den die Neue Zürcher Zeitung den „Kultuspessimist[en]“ Adorno in ihrer heutigen Darstellung ausweist. In einem Essay aus dem Jahr 1969, in dem er seine „[w]issenschaftlichen Erfahrungen in Amerika“ beschrieb und das uns leider nur in der englischsprachigen Übersetzung vorliegt, macht er verschiedene sehr positive Bemerkungen über die USA bzw. die Amerikaner. So schreibt er, dass Amerikaner ‘[more] open-minded, and above all, more helpful, than European immigrants” (Adorno 1969: 350) seien, und er lobt die “cooperation in a democratic spirit”, die unter den damaligen amerikanischen Akademikern herrschte als das “most fruitful thing [he] became acquainted with in America” (Adorno 1969: 358).

Adornos fragmentiertes Erscheinungsbild erinnert an die Symphonien, die in Radios für den massenmedialen Konsum aufbereitet, d.h. nur in Teilen und damit nach Adornos Empfinden „…trivialized and romanticised at the same time” (Adorno 2002a: 261), präsentiert werden.


Literatur

Adorno, Theodor W., 2008: On the Fetish Character in Music and the Regression of Listening, pp. 29-60 in: Adorno, Theodor W.: The Culture Industry. Selected Essays on Mass Culture. Edited and with an Introduction by J. M. Bernstein. London: Routledge.

Adorno, Theodor W., 2006: Minima Moralia: Reflections on a Damaged Life. London: Verso.

Adorno, Theodor W., 2002: On the Social Situation of Music, pp. 391-436 in: Adorno, Theodor W.: Essays on Music. Selected with Introduction, Commentary, and Notes by Richard Leppert. Berkeley: University of California Press.

Adorno, Theodor W., 2002a: The Radio Symphony, pp. 251-270 in: Adorno, Theodor W.: Essays on Music. Selected with Introduction, Commentary, and Notes by Richard Leppert. Berkeley: University of California Press.

Adorno, Theodor W., 1973: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften Band 7.) Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Adorno, Theodor W., 1969: Scientific Experiences of a European Scholar in America, pp. in: Fleming, Donald & Bailyn, Bernard (eds.): The Intellectual Migration: Europe and America, 1930-1960. Cambridge: Harvard University Press.

Adorno, Theodor W., Frenkel-Brunswick, Else, Levinson, J. Daniel, Nevitt, Sanford R. (1973): Studien  zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Apostolidis, Paul, 2000: Stations of the Cross: Adorno and Christian Right Radio. Durham: Duke University Press.

Jay, Martin, 1996: The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950. Berkeley: University of California Press.

Jenemann, David, 2007: Adorno in America. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Kailitz, Susanne, 2007: Von den Worten zu den Waffen?: Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Morrison, David E., 1978: Kultur and Culture: The Case of Theodor W. Adorno and Paul Lazarsfeld. Social Research 45, 2: 331-355.

Müller-Doohm, Stefan, 1997: Denken im Niemandsland: Theodor W. Adornos bürgerliche Antibürgerlichkeit. Leviathan 25, 3: 381-395.


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