Mainstream-Medien jubilieren, der reale Theodor Adorno bleibt (oft) auf der Strecke
von Dr. habil. Heike Diefenbach
Zugegeben: Obwohl heute der 50. Todestag von Theodor Adorno ist, hätten wir bei ScienceFiles vermutlich gar nicht, sicherlich aber nicht heute, über Theodor W. Adorno geschrieben, hätten wir nicht mit einigem Interesse verfolgt, wie Adorno heute in deutschsprachigen mainstream-Medien dargestellt wird.
Theodor Adornos Name wird gewöhnlich mit der so genannten Frankfurter Schule in Verbindung gebracht, die eine kleine Zahl von Vertretern verschiedener universitärer Fächer umfasste, die sich auf der Basis der Schriften von Hegel, Marx und Nietzsche als Sozialphilosophen versuchten. Vor diesem ideologischen Hintergrund kritisierten sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, weshalb sie sich selbst „kritisch“ fanden und ihre sozialtheoretischen Vorstellungen als „kritische Theorie“ bezeichnet wird. Sie verbreiteten ihre sozialtheoretischen Vorstellungen vom im Jahr 1923 an der Universität Frankfurt gegründeten Institut für Sozialforschung aus, das von dem Marx-Anhänger Felix Weil, der eine Dissertation über die praktischen Probleme der Implementierung des Sozialismus im Fach Politikwissenschaft geschrieben hat (Jay 1996: 5), gegründet und (mit dem Geld seines Vaters, Hermann Weil,) finanziell unterstützt wurde. Die Bezeichnung „Institut für Sozialforschung“ wurde gewählt, nachdem vom ursprünglichen Vorschlag, der „Institut für Marxismus“ lautete, als zu provokant Abstand genommen wurde und der Vorschlag des damals zuständigen Bildungsministeriums, das Institut „Felix-Weil-Institut für Sozialforschung“ zu nennen, von Gründer Felix Weil abgelehnt wurde, weil er wollte, dass das Institut für seinen Beitrag zur Etablierung des Marxismus als wissenschaftliche Disziplin [!] bekannt werden sollte und nicht aufgrund des Geldes seines Gründers (Jay 1996: 8).
Zum Begriff der „Kritik“ gäbe es allerhand zu sagen, aber belassen wir es hier dabei, festzuhalten, dass der Begriff vollkommen sinnentleert wäre, wenn sich jeder, der an irgendeinem Aspekt des status quo etwas auszusetzen hat, als „Kritiker“ oder als Vertreter einer kritischen Theorie bezeichnen wollte. Von der Sache her ist die „kritische Theorie“ des Frankfurter Zirkels eine prätentiöse Bezeichnung dafür, dass es seinen Angehörigen als Marxisten nicht passte, dass in Deutschland kein Sozialismus bestand.
Also lassen wir den Unfug und widmen uns stattdessen Theodor Adorno, der ungefähr so gut zu greifen ist wie ein Stück Seife in der Badewanne. Das klingt despektierlich, ist aber tatsächlich nicht despektierlich, sondern deskriptiv gemeint:
Adorno ist als Philosoph bekannt, hat aber zunächst Komposition studiert, und tatsächlich blieb er sein Leben lang der Musik verbunden, was sich in musiktheoretischen Arbeiten und insbesondere in seiner Klage von der Musik als einfach konsumierbares Genussmittel statt als Kulturgut, dessen Würdigung einen verfeinerten Sinn für seine Ästhetik voraussetzt, niederschlug (s. z.B. Adorno 2008; 2002). Personen, die den Namen „Adorno“ mit Musiktheorie in Verbindung bringen, wissen gewöhnlich wenig von seinen theologischen bzw. metaphysischen Reflexionen, und beide wissen wiederum vielleicht nichts von seinen Reflexionen über Kunst – der Art: „Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen“ (Adorno 1973: 25-26).
Sie alle wissen – wie die meisten Leute – vermutlich nur vom Hören-Sagen, von der Studie zur autoritären Persönlichkeit, die übrigens keineswegs hauptsächlich, federführend oder gar auf Initiative von Adorno hin durchgeführt wurde, sondern von einer Gruppe von „less dialectically minded scholars“ (Apostolidis 2000: 67) in Kooperation mit Adorno, der zu dieser Zeit im amerikanischen Exil lebte. Alles andere wäre auch erstaunlich gewesen, hat Adorno mit der empirischen Sozialforschung, insbesondere in ihrer quantifizierenden Ausprägung, doch große Schwierigkeiten gehabt, weshalb er schon während seiner Anstellung am von Paul F. Lazarsfeld geleiteten Princeton Radio Research Project – eine Anstellung, die ihm aufgrund seiner Neigungen zur Musik hätte angenehm sein können und die hauptsächlich durch Vermittlung Horkheimers zustandegekommen war (Morrison 1978: 334) – weder mit Lazarsfeld noch mit seinen Kollegen zurechtkam, die ihn einfach empörend und arrogant fanden (Jenemann 2007: 12).
Wenn „mdr Kultur“ „[z]um 50. Todestag des Philosophen“ textet „Wie Adorno den Rechtsradikalismus erklärte“, dann ist das insofern sachlich falsch als Adorno Rechtsradikalismus überhaupt nicht erklärt hat, sondern lediglich in einem Vortrag aus dem Jahr 1967 über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“, darüber spekuliert hat, was im Zusammenhang mit Rechtsradikalismus eine Rolle spielen könnte – und dies ist eine wohlwollende Beschreibung des Vortrages; man stößt im Vortrag nämlich fast nur auf Leerformeln wie die, nach der „[d]ie gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Faschismus [fort]bestehen, weil sich die Versprechen von Freiheit und Gleichheit in der Demokratie für viele nicht eingelöst haben“ – obwohl es doch gerade Faschisten sind, die persönliche Freiheiten einschränken und Gerechtigkeitsprinzipien außer Kraft setzen. Dass der alte, ziemlich nichtssagende Vortrag von Adorno im Juli diesen Jahres posthum in Buchform und auf den Markt gebracht wurde – von Suhrkamp für die Kleinigkeit von Euro 10 – darf wohl angemessen als Mitnahmeeffekt im Zeitgeist bezeichnet werden.
Wenn Adorno in seinem Leben jemals in die Nähe einer Erklärung für ein soziales Phänomen gekommen ist, dann im Zusammenhang mit der Suche nach den Grundlagen von Vorurteilen und Ideologien, wie sie aus der Publikation von Adorno et al. (1973) über die autoritäre Persönlichkeit bekannt ist. Wie gesagt war es aber nicht Adorno allein und nicht einmal hauptsächlich Adorno, der die autoritäre Persönlichkeit untersucht hat; er steht deshalb vorne auf der entsprechenden Publikation, weil er einen Nachnamen hat, der mit „A“ beginnt und die Koautoren alle Nachnamen haben, die mit einem Buchstaben beginnen, der im Alphabet nach „A“ steht.
Damit ist das Interesse, das man an Adorno als Sozialforscher oder Soziologe haben kann, weitgehend erschöpft, und tatsächlich versuchen einige mainstream-Medien erst gar nicht, ihn als für die Sozialforschung oder speziell die Soziologie relevant darzustellen. Beim Deutschlandfunk z.B. wird er zwar als „einer der geistigen Väter der Studentenbewegung: … [als] einer der deutschen Meisterdenker des 20 Jahrhunderts“ dargestellt, aber der folgende Text konzentriert sich sehr stark auf Aphorismen von Adorno zu Religion und Theologie, was deutlich zu wenig ist, um die Leistungen eines „Meisterdenker[s]“ zu illustrieren.
Am seltsamsten ist vielleicht die Darstellung von Adorno als „Rebell in Anzug und Krawatte“, die sich der Nordbayerische Kurier leistet. Es dürfte wenig gegeben haben, was Adorno ferner gelegen hat, als sich an einer Rebellion zu beteiligen, und ganz sicher wäre es ihm zuwider gewesen, sich selbst als Rebell zu betrachten oder sich so bezeichnen lassen zu müssen. Die Anti-Bürgerlichkeit des klassisch gebildeten (Spieß-/)Bürgers Adorno war eine durch und durch bürgerliche, bloß gedachte und teilweise verbalisierte, Antibürgerlichkeit, aber keine, die er auch nur im Ansatz gelebt hätte oder hätte leben wollen, weshalb Stefan Müller-Doohm (1997) einen Aufsatz über Adorno treffend betitelt hat mit „Denken im Niemandsland: Theodor W. Adornos bürgerliche Antibürgerlichkeit“. Das kann man selbst in einem Text von „Deutschlandfunk Kultur“ von Christopf Spittler nachlesen, der den – den Tatsachen angemessenen – Titel „Der spießige Marxist“ trägt . Adorno war alles andere als ein Rebell, und wenn er als (ein) „Vater der Studentenbewegung“ bezeichnet wird, dann handelt es sich hier um eine Wahlverwandtschaft vonseiten der Studenten, nicht von Adorno, denn Adorno selbst brachte der Studentenbewegung – wie jeder Massenbewegung – und ihren Aktionen, insbesondere allen gewalttätigen Aktionen, „nur Mißtrauen“ entgegen (Kailitz 2007: 223), und etwas anderes hätte man von dem vergeistigten, reflektierenden Bürger Adorno auch nicht erwartet.
Wenn die Darstellung Adornos in den mainstream-Medien fragmentiert ist, dann kann man mit einigem guten Willen sagen, dass es die Gesamtsicht auf die vielen Fragmente sind, die eine Chance bieten, den Adorno einigermaßen angemessen abzubilden, der vor 50 Jahren gestorben ist. Ungeachtet der Frage, wer der Mensch Adorno war, was er gedacht hat und was nicht, was er wie bewertet hat, lässt sich aber festhalten, was er nicht war: er war kein „Vater“ der Studentenbewegung der 1960er-Jahre, kein Rebell, keiner, der Antibürgerlichkeit in irgendeinem Sinn gelebt hätte. Ja, er bleibt nicht einmal während seines ganzen Lebens der Kritiker der USA mit seiner „Konsumkultur“, der er zur Zeit seines Aufenthaltes in den USA gewesen war und als den die Neue Zürcher Zeitung den „Kultuspessimist[en]“ Adorno in ihrer heutigen Darstellung ausweist. In einem Essay aus dem Jahr 1969, in dem er seine „[w]issenschaftlichen Erfahrungen in Amerika“ beschrieb und das uns leider nur in der englischsprachigen Übersetzung vorliegt, macht er verschiedene sehr positive Bemerkungen über die USA bzw. die Amerikaner. So schreibt er, dass Amerikaner ‘[more] open-minded, and above all, more helpful, than European immigrants” (Adorno 1969: 350) seien, und er lobt die “cooperation in a democratic spirit”, die unter den damaligen amerikanischen Akademikern herrschte als das “most fruitful thing [he] became acquainted with in America” (Adorno 1969: 358).
Adornos fragmentiertes Erscheinungsbild erinnert an die Symphonien, die in Radios für den massenmedialen Konsum aufbereitet, d.h. nur in Teilen und damit nach Adornos Empfinden „…trivialized and romanticised at the same time” (Adorno 2002a: 261), präsentiert werden.
Literatur
Adorno, Theodor W., 2008: On the Fetish Character in Music and the Regression of Listening, pp. 29-60 in: Adorno, Theodor W.: The Culture Industry. Selected Essays on Mass Culture. Edited and with an Introduction by J. M. Bernstein. London: Routledge.
Adorno, Theodor W., 2006: Minima Moralia: Reflections on a Damaged Life. London: Verso.
Adorno, Theodor W., 2002: On the Social Situation of Music, pp. 391-436 in: Adorno, Theodor W.: Essays on Music. Selected with Introduction, Commentary, and Notes by Richard Leppert. Berkeley: University of California Press.
Adorno, Theodor W., 2002a: The Radio Symphony, pp. 251-270 in: Adorno, Theodor W.: Essays on Music. Selected with Introduction, Commentary, and Notes by Richard Leppert. Berkeley: University of California Press.
Adorno, Theodor W., 1973: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften Band 7.) Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W., 1969: Scientific Experiences of a European Scholar in America, pp. in: Fleming, Donald & Bailyn, Bernard (eds.): The Intellectual Migration: Europe and America, 1930-1960. Cambridge: Harvard University Press.
Adorno, Theodor W., Frenkel-Brunswick, Else, Levinson, J. Daniel, Nevitt, Sanford R. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Apostolidis, Paul, 2000: Stations of the Cross: Adorno and Christian Right Radio. Durham: Duke University Press.
Jay, Martin, 1996: The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950. Berkeley: University of California Press.
Jenemann, David, 2007: Adorno in America. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Kailitz, Susanne, 2007: Von den Worten zu den Waffen?: Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Morrison, David E., 1978: Kultur and Culture: The Case of Theodor W. Adorno and Paul Lazarsfeld. Social Research 45, 2: 331-355.
Müller-Doohm, Stefan, 1997: Denken im Niemandsland: Theodor W. Adornos bürgerliche Antibürgerlichkeit. Leviathan 25, 3: 381-395.
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Ich habe als Student mal ein Buch von Adorno geschenkt bekommen : Minima Moralia. Ich habe keinen einzigen der sich als Aphorismen ausgebenden Sätze auch nur ansatzweise verstanden. In diesem Buch ist Adorno für mich jemand, der viele Worte macht, aber nichts zu sagen hat. Einen anderen Text habe ich dann nicht mehr probiert.
Es kann natürlich sein, dass ich zu blöd für solche Texte bin.
Ich vertrete zwar allenfalls wenige seiner Positionen, habe ihn aber immer sehr gerne gelesen. Inbesondere die musikkritischen Schriften z.B. über Wagner und Mahler, auch die fragmentarische über Beethoven, die aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, oder der Aufsatz: “Bach gegen seine Liebhaber verteidigt”, natürlich auch die Minima Moralia und das ein oder andere über Kant, von dem her der Begriff der Kritik zu verstehen ist. Ohne gute Hegel-Kenntnisse kann man den Einstieg in Adorno aber nicht empfehlen. Sicher hingegen dürfte sein, daß die meisten seiner heutigen “Kritiker”, die ihn für alles verantwortlich machen wollen, das heute schief läuft, ihn kaum gelesen haben.
Friede seiner Asche!
Wurde soeben auf ORF II mit der Neuauflage des, von Ihnen erwähnten, Rechtsradikalismus Schmonzes belästgt! Nach 20 min linker Propaganda, ORF eben!
Sie haben Recht: der Text Adornos aus dem Jahre 1967 ist aus Anlass des damaligen kurzfristigen Erfolges der NPD entstanden und natürlich heute als gut nutzbare Polemik gegen alles was so als „Rechts“ bezeichnet wird von einer reflexionsfreien Publizistik einsetzbar. Er eignet sich eben deshalb so gut, weil der sich der im Umkreis des „Frankfurter Denkens“ so gern geübten Praxis der – hegelianisch gesagt – „falschen Konkretheit“ bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Tatbestände eignet. Sie verweisen auch zu Recht auf den mehrfach halbierten Adorno, der in unterschiedlichen akademischen Milieus rezipiert worden ist. Wer – wie ich – Anfang der 70er Jahre Musikwissenschaft studiert hat, war sehr dankbar für den frischen Wind, der durch Adorno in das Fach hineingetragen wurde. Die alte Suhrkamp-Ausgabe enthält allein 10 Bände zur Musik (den Nachlass gar nicht mitgezählt). Es mutet absonderlich an, dass eine postmodernistische Mode Adorno für sich in Anspruch nimmt: im Zentrum seiner Ästhetik steht das europäische Kulturerbe. Kurz gesagt: Adorno war eurozentrisch und auf die Musikkultur alter weißer Männer fixiert. Seine Polemik gegen Jazz wie gegen die Popkultur insgesamt hat zwar mancherlei Befremden hervorgerufen, was aber mehrals Marotte eines älteren Herren wahrgenommen wurde, denn als diskussionswerte kulturkritische Einwände . Als Vorläufer der Studentenbewegung zu bezeichnen ist in der Tat Geschichtsklitterung – dass weiland Joschka Fischer zu seinen Füssen im Auditorium saß, dient der Selbstbeweihräucherung eines intellektuell eher indifferenten Publikums, dass mittlerweile diesen Staat prägt. Ich bin der Ansicht, dass es mit der Lektüre der Schriften Adornos nicht weit her war. (Der schlichtere Herbert Marcuse war da der Autor des Tages.) Die „Negative Dialektik“ ist kaum verständlich und endet in einer Mystik des Nicht-Handelns als Handlungsoption – für junge Linke, die alles furchtbar fanden aber dennoch in den öffentlichen Dienst strebten ein beruhigendes Stück Seelentröstung und Berufsideologie. Allerdings führt eine unvoreingenommen Lektüre mancher Schriften zu Einsichten, die quer zum heutigen Zeitgeist stehen. Ich erinnere mich an Bemerkungen zur Ideologie des „melting pot“ in den „Minimal Moralia“ und die „Theorie der Halbbildung“ beschreibt einen Zustand, der damals als Warnung formuliert, heute als Resultat auch durch das fatale Wirken der Epigonen der „Frankfurter Schule“ eingetreten ist. Ich bin niemals ein „Adornit“ gewesen – plädiere aber für eine unpolemische Lektüre eines Werkes, dass allen Merkwürdigkeiten zum Trotz, origineller ist, als der kommunikationstheoretisch aufgeblasene Neukantianismus eines seiner weltberühmten Nachfolger.
Ja, Sie haben Recht:
es ist einfach nur ein absonderlicher historischer Umstand, dass jemand wie Adorno, der, würde er noch leben und erst heute bekannt, als eurozentristischer Mann in Anzug und Krawatte mit Hang zur “alten” europäischen “Hoch”-/Kutlur jedem Linken zweifellos sofort als AfD-Anhänger “erkennbar” wäre, in die linke Ideologie eingemeindet werden konnte.
Naja, die Linken sind es ja gewohnt, konzentriert an bestimmten Dingen vorbeizuschauen, wenn es darum geht, etwas oder jemanden zu vereinnahmen – und Adorno hat ja tatsächlich eine große Abneigung gegen alles, was mit Kauf und Verkauf von Waren zu tun hat, gehabt; das hat wohl alles andere aufgewogen – damals, und heute ist es “Tradition” geworden, Adorno als Linken zu einzuordnen.
Wie gesagt: ich persönlich bin davon überzeugt, dass (jemand wie) Adorno ruckzuck “gesinnungsmäßig” der AfD zugeornet werden würde und von Studenten niedergepfiffen würde, wenn er, sagen wir: über Beethoven dozieren wollte.
Volker Kriegel (war wohl auch Student bei Adorno) hat treffliche Witze über Adorno und dessen absolute Unkenntnis und/oder Missverständnis in Sachen Jazz veröffentlicht.
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Die “Neue Frankfurter Schule” ist (nicht nur) lustiger…
Danke. Wo es nicht um das endzeitliche Heil, die unauflösbare Verstrickung usw. geht, finden sich durchaus gute, auch nicht im üblichen prätentiösen Stil geschriebene Werke, z.B. die Frankfurter Vorlesungen über Ethik. Der eigentlich adornistische Stil ist im Übrigen leicht zu imitieren. Der Rest trägt m.E. weitgehend die Züge einer systematisch immunisierten Fiktiologie; die „Dialektik der Aufklärung“ enthält zwar gute Beobachtungen, grenzt aber im Ganzen in ihrer systematischen Verzerrung an ein Leichtfertiges oder gar Bösartiges. Seine Musikphilosophie ist ebenfalls von Vorurteil geleitet, siehe die Urteile über Reger, Hindemith, Strawinsky u.a., alle in einem apodiktischen, auf moralische, persönliche Vernichtung ausgerichteten Ton; um so peinlicher, und keineswegs ehrenwerter, dann die späteren Revisionen: sich absolut sicher sein, und dann wieder das Gegenteil. Und es ist genau der in der heutigen cloaca publica vorherrschende Stil, Argumente auf Moral zu basieren und alles passend zu drehen.
Adorno war überheblich im genauen Sinne des Wortes, auch z.B. in den 1930er Jahren gegenüber den logischen Positivisten, das findet sich in seinen höhnischen Kommentaren z.B. über einen Kongress dieser Philosophen 1935 in Paris. Wo das Urteil feststeht, erübrigt sich die Mühe, auch nur zu verstehen, was die anderen meinen (könnten). Sein Kompagnon Horkheimer ging sogar soweit, diese Philosophen als Vorläufer des Faschismus darzustellen, und das, obgleich sie praktisch alle emigrierten oder umgebracht wurden (Kurt Grelling). Nachweisbare relevante Kenntnisse über diese Philosophie: null. Adorno ist in meinen Augen ein Beispiel dafür, wie eine schnelle Auffassungsgabe gepaart mit Selbstherrlichkeit dazu führt, alles nach Belieben in ein System zu rationalisieren. Im Grunde ein später Wiedergänger der religiös getriebenen scholastischen Dogmatik, ganz wie Hegel. Herleitung der Empirie aus Prämissen; was nicht passt, wird mit Werturteilen eliminiert. Siehe auch den trickhaften Begriff des Seins, den wir so auch bereits in der Scholastik finden (privatio etc).
Übrigens gab es seinerzeit Radiodiskussionen zwischen Adorno und Arnold Gehlen, bei denen es zivilisiert zuging; heute undenkbar, dass einem „Rechten“ wie Gehlen ein Forum geboten würde, ohne dass das vulgus viride sive rubrum dazwischenführe. Dass Gehlen – gemessen an den Kategorien kritischer Vernunft – den Sieg davontrug, scheint mir klar. Adorno hingegen gewann bei den sog. Intellektuellen. Und er war und ist der Philosoph der sog. Intellektuellen, d.h. von Leuten, die es mit Rhetorik, Herrschafts- und Geltungsbedürfnis, nicht aber mit dem Denken haben, das in seinem eigentlichen Sinne immer genaues, sorgfältiges Denken ist (es sei denn, wir bewegen uns auf dem Niveau von „Tiere denken“). Adornos Rhetorik unterstützt das wunderbar, wie man m.E. insbesondere an den Minima Moralia sieht. Es ist genau die eigentümliche Kombination aus apodiktischer rhetorischer Schärfe, welche Genauigkeit suggeriert, und faktischer begrifflicher Flexibilität, welche beliebige Verwendbarkeit zusichert. Deshalb sind z.B. die Minima Moralia bei sog. Intellektuellen nach wie vor beliebt, man findet immer etwas Passendes und kann zugleich imponieren.
Die Spuren, die Adorno in der ernstzunehmenden Philosophie hinterlassen hat, sind vernachlässigbar, ganz anders als diejenigen seiner Kontrahenten, angefangen bei Popper und Carnap. So ist die Negative Dialektik intellektuell unfruchtbar, wohl aber für ein ewiges anklagendes rhetorisches Fuchteln geeignet, bei dem man selbst noch den Genuss hat, sich als Opfer fühlen zu können (vgl. Dávila: „Sozialismus ist die Philosophie von der Schuld des anderen“). Besonders grotesk wird es, wenn man Adornos Jargon betrachtet und sich seine Kritik am „Jargon der Eigentlichkeit“ Heideggers vor Augen führt. Heidegger war, ungeachtet vieler Schwächen und Tricks, m.E. ein sehr viel fruchtbarerer und – horribile dictu –auch genauerer Denker. Mein Resümee: Adorno ist primär etwas für sog. Intellektuelle, d.h. den popellus nobilis, wie er sich gerne als sog. Journalisten oder auch an Universitäten ontisch niederschlägt. Ich habe inzwischen nicht nur aus Platzgründen alle Werke von ihm antiquarisch abgestoßen, es gibt Wichtigeres.
@R. J.
Ja, ihre Einschätzung kann ich sehr weitgehend teilen, aber ich finde es nach wie vor sehr seltsam, dass Adorno bei linken Intellektuellen der Jetztzeit (mmer noch) en vogue sein kann, denn:
erstens muss man eine ganze Menge ausblenden, um im hochkulturlich orientierten, “alt”-europäischen “Spiießbürger” Adorno den linken “Kern” auszumachen, der sich -, soweit ich sehe – in einer Abneigung des selbst Bürgerlichen gegen den mit schnödem Mammon beschäftigten Krämers,erschöpft,
und zweitens haben uns die französischen Apologten der Postmoderne doch inzwischen aktualisierte Rhetoriken voller “begrifflicher Flexibilität” beschert, die Adornos Rhetorik in nichts nachsteht.
Ich teile auch Ihre Einschätzung, dass Adornos LEKTÜRE nur noch etwas für sog. Intellektuelle ist, aber sein NAME wird ja anscheinend nach wie vor als Symbol für die Weihe linken Gedankengutes missbraucht, und das sollte man m.E. nicht unwidersprochen hinnehmen, einfach deshalb, weil es der Person, die Adorno war, nicht gerecht wird. (Ansonsten kann ich persönlich mit Adorno auch nichts anfangen,)
Danke für Ihre Antwort, es ist natürlich die eine Sache, einem Denker – und das war Adorno ohne Zweifel – gerecht zu werden, eine andere Sache, seinen (bleibenden) Beitrag zum Verständnis der Welt und unserer Situation zu beleuchten (den ich nicht abstreite), und wieder eine andere Sache, den politischen & publizistischen Elitepöbel in seiner Handhabung Adornos zu analysieren. Ferner ist Adorno sicherlich einem Habermas weit überlegen, dessen opportunistisches Fiktionsgebäude von einer atemberaubenden Belanglosigkeit ist: entweder Trivialitäten, die verbal pompös einherkommen, oder nicht adäquat gerechtfertigte Behauptungen, oder semantische Tricks, oder schlechterdings falsch. Denken wir an die kommenden Konflikte, an Kampf- und Stabilisierungslinien, könnte beispielsweise Arnold Gehlen eine Renaissance erleben, jedenfalls dort, wo nicht grünistische Denkfaulgase deletär und prohibitiv wirken. Sein Werk „Moral und Hypermoral“ von 1969 kann ich nur zur Lektüre empfehlen, es passt genau auf die heutige Situation.