Leben wir im Totalitarismus? Merkmale von Totalitarismus nach Hannah Arendt und Robert Jay Lifton

(Teil 1: Hannah Arendt)
von Dr. habil. Heike Diefenbach

Eine lange Reihe von Psychologen, Psychiatern, Psychoanalytikern, Politikwissenschaftlern und Sozialphilosophen hat zu verschiedenen Zeiten und vor verschiedenen gesellschaftlichen Hintergründen Überlegungen dazu angestellt, was die Ursachen, Erscheinungsformen oder charakteristischen Merkmale von Totalitarismus oder dem ihm zugrunde liegenden ideologischen Denken seien bzw. mit dem, was man heute des öfteren nach dem polnischen Psychologen Andrzej Lobaczewski (2006) „politische Ponerologie“ nennt, wobei „Ponerologie“ die Beschäftigung mit dem Ursprung und den Elementen des Bösen bezeichnet und der Verweis auf „politische“ Ponerologie darauf hinweist, dass es hier um das Böse in der oder durch die Politik geht.

Wer den Eindruck hat, dass sich die westliche Welt derzeit deutlich weg vom demokratischen Konsens und hin in Richtung Totalitarismus bewegt oder dass sich die Staaten der westlichen Welt bereits in totalitäre Staaten entwickelt haben, der hat denselben oft aus guten Gründen, d.h. er hat diesen Eindruck aufgrund bestimmter Beobachtungen, die er gemacht hat, die er wiederum als Merkmale von Totalitarismus oder zumindest als Merkmale anti-demokratischer Entwicklungen interpretiert. Vielleicht kann er sie nicht so klar formulieren oder auf den Punkt bringen, wie er das gerne tun würde. Oder er tut es und bekommt von ideologisch entsprechend geneigter Seite gesagt, das sei nun gerade ein Merkmal nur bestimmter Ausprägungen von Totalitarismus, aber nicht anderer, oder es sei gar kein Merkmal von Totalitarismus, oder man könne das nicht treffend als Totalitarismus bezeichnen o.ä.m.

Es mag deshalb interessant und hilfreich sein, wenn wir heute damit beginnen, in der notwendigen Kürze und damit unweigerlich verkürzt zusammenstellen, was verschiedene Autoren aus der langen Reihe derer, die Überlegungen zu Ursprung und Charakter von Totalitarismus, ideologischem oder totalitärem Denken angestellt haben, aufgrund eigener Beobachtungen, Erfahrungen und Analysen als charakteristische Merkmale von totalitärer Ideologie oder Totalitarismus angesehen haben.

Wir wollen mit Hannah Arendt und Robert Jay Lifton beginnen.

Die im Jahr 1906 in Hannover geborene und 1975 in New York verstorbene politische Philosophin Hannah Arendt formulierte ihre Überlegungen zu den „Elemente[n] und Ursprünge[n] totaler Herrschaft“ (vor allem) in einem Buch mit eben diesem Titel, das im amerikanischen Exil geschrieben wurde und in englischer Sprache im Jahr 1951 veröffentlicht wurde. 1955 wurde dieses Buch ins Deutsche übersetzt, und es ist auch heute noch im Buchhandel oder über Amazon beziehbar.

Arendts Überlegungen sind im Kontext ihrer Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu sehen, aus/vor dem sie als Jüdin fliehen musste, aber auch vor dem Hintergrund totalitärer Herrschaft in anderen Ländern zur damaligen Zeit, inbesondere dem Stalinismus.

Robert Jay Lifton ist ein amerikanischer Psychiater, der 1926 in Brooklyn, New York, geboren wurde und während seines Lebens an einer Reihe von bekannten amerikanischen Universitäten als Professor gelehrt hat und besonders für seine Studien über das, was man die Psychologie totalitärer Systeme nennen könnte, bekannt ist, wobei er totalitäre Systeme sowohl auf der Ebene des Staates als auch auf der Ebene von Kulten untersucht hat. Sein bekanntestes Buch zu dieser Thematik erschien erstmals im Jahr 1961 und trägt den Titel „Thought Reform and the Psychology of Totalism“. Es handelt von den (schon) damals in China – damals unter Mao – gepflegten Praktiken der „Gehirnwäsche“, die Lifton in seinen in Hong Kong durchgeführten Interviews mit Personen, die als politische Gefangene in chinesischen Gefängnissen eingesessen hatten und dort Umerziehungsversuchen unterworfen wurden, beschrieben wurden. Von diesen Personen stammten 25 aus Europa oder den USA, und fünfzehn waren Chinesen. Die Interviewpartner aus dem Westen waren u.a. Journalisten, Ärzte, Geschäftsleute und katholische Missionare, die chinesischen Interviewpartner waren Dissidenten (Lifton 1989: 9; 12).

Dieses sehr bekannte Buch wurde m.W. seltsamerweise niemals ins Deutsche übersetzt, während von einer Reihe anderer Bücher von Lifton deutsche Übersetzungen vorliegen. Ich empfehle jedoch jedem, der des Englischen einigermaßen mächtig ist, das Buch zu lesen. Lifton beschreibt und analysiert seine „Fälle“ aus seiner Sicht als Psychiater, ohne bei seiner Beschreibung einschlägigen Jargon zu benutzen; es sind also keine Kenntnis psychologischer oder psychiatrischer englischer bzw. amerikanischer Fachsprache zum Verständnis des Buches notwendig.

Um es gleich vorwegzunehmen: Beide, Arendt und Lifton, haben Kritik für von ihnen ausgedrückte Sym- bzw. Antipathien geerntet: Arendt aufgrund ihrer Verharmlosung der Nähe ihres Lehrers (und Liebhabers während ihrer Studienzeit bei ihm) Martin Heidegger zum – von Arendt ansonsten harsch kritisierten – Nationalsozialismus und Lifton aufgrund der Tatsache, dass er eine seltsame psychologische Ferndiagnose von Donald Trump zu einem Sammelband mit dem Titel „The Dangerous Case of Donald Trump“ (Lee 2017) beigesteuert hat. Diese Praxis verletzt das so genannte Goldwater Rule, das Teil der ethischen Prinzipien der American Psychiatric Association (APA) ist und das besagt, dass sich Psychiater unethisch verhalten, wenn sie ihre Meinung über Personen des öffentlichen Lebens formulieren, ohne diese Personen einer Untersuchung unterzogen zu haben und ohne das Einverständnis dieser Personen zur Diskussion ihres mentalen Gesundheitszustandes in der Öffentlichkeit eingeholt zu haben (vgl. hierzu Martin-Joy 2020). Unabhängig davon, ob oder inwieweit man diese Kritiken als gerechtfertigt oder relevant einschätzt, ist festzuhalten, dass – wie regelmäßige Leser von ScienceFiles wissen – es ein logischer Fehler wäre, wenn man jemandes Aussagen hinsichtlich einer bestimmten Angelegenheit von vornherein verwerfen wollte, weil dieselbe Person falsche oder zumindest fragwürdige Aussagen in einer anderen Angelegenheit macht oder gemacht hat.

Was haben die beiden Autoren nun zu den Merkmalen des Totalitarismus und der ihm zugrunde liegenden Ideologie zu sagen? Behandeln wir zunächst Hannah Arendt. Über Robert Jay Lifton berichten wir in den nächsten Tagen in einem Folgetext (damit der vorliegende Text nicht allzu lang wird).

Hannah Arendt hat „… drei spezifisch totalitäre Elemente, die allem ideologischen Denken eigentümlich sind“ (Arendt 2011: 964), kompakt zusammengefasst. Das erste dieser Elemente besteht im „… Anspruch auf totale Welterklärung“ (Arendt 2011: 964).


1. „Anspruch auf totale Welterklärung“

„Der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden, und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-auskennen im Gegenwärtigen und verläßliches Vorhersagen des Zukünftigen“ (Arendt 2011: 964).

Oder anders ausgedrückt: Der ganz normale Umstand, dass immer nur ein Bruchstück dessen, was war, ist oder sein wird, bekannt sein kann, geschweige denn: erklärt werden kann, wird im ideologischen bzw. totalitären Denken bestritten, oder es wird zumindest nicht zugegeben, dass wir bestimmte Dinge einfach nicht wissen oder noch nicht wissen oder nicht wissen können. Die schlichten Aussagen: „Ich weiß es nicht“ oder „Ich bin nicht sicher“ oder „Daran habe ich nicht gedacht“ oder „So habe ich das noch nicht betrachtet“ oder einschränkende Aussagen wie „Soweit ich weiß …“ oder „Soweit ich es beurteilen kann…“ sind dem, der ideologisch oder totalitär denkt, unbekannt oder bekannt, haben aber keine Geltung für ihn. Bestenfalls können solche Aussagen von Andersdenkenden gemacht werden, für die es – nach totalitärem Denken – stimmen muss, dass sie Wissens- oder Erkenntnisdefizite haben, denn hätten sie sie nicht, so würden sie – nach totalitärem Denken – zu denselben Überzeugungen oder Bewertungen kommen müssen wie sie der totalitär Denkende hat.

Eine (nahezu?) „totale Welterklärung“ will derzeit z.B. der Feminismus/Genderismus präsentieren, nach dem alles Übel auf der Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf „toxische Männlichkeit“ (Autor*innen-Kollektiv Feministische Intervention 2019: 31, zitiert nach Jüdt 2019: 26) zurückzuführen ist und nach dem das Merkmal „Geschlecht“ für alles und jeden von höchster Relevanz war und ist. Eine Art Menschheitsgeschichte, die im Abfall vom „guten“ Matriarchat in der Kommune zugunsten eines fortschreitenden, unterdrückerischen, „bösen“ Patriarchats in hierarchischen Gesellschaften bestehen soll, hat ausgerechnet der bourgeoise Kapitalistensohn Friedrich Engels seiner Mit- und Nachwelt in „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ (Engels 1984[1884]) zugemutet, und natürlich ist er als Financier von Marx und als sein Koautor für das Kommunistischen Manifest hinreichend bekannt (oder berüchtigt, je nachdem …), das die Weltgeschichte (nach dem Abfall von einem phantasierten Matriarchat in der Kommune) als einen einzigen großen Klassenkampf darstellt.

Aktuell scheint auch der neue ethno-tribale Rassismus, der sich unter der Floskel „Black Lives Matter“ verbirgt (oder sich der Floskel bemächtigt hat; darüber herrscht derzeit noch Unklarheit), eine dem Feminismus/Genderismus sehr ähnliche „totale Welterklärung“ liefern zu wollen, in der nicht „Geschlecht“, sondern „Hautfarbe“ zum allentscheidenden Merkmal erklärt wird, „toxische Männlichkeit“ durch „weißes Supremat“ ersetzt wird und die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse im Westen und außerhalb des Westens mehr oder weniger allein durch historische Ereignisse oder Epochen erklärt werden sollen, die 200-600 Jahre zurückliegen.

In den Sozialwissenschaften erkennt man ideologisches oder totalitäres Denken an entsprechenden Ein-Variablen-Erklärungen, d.h. daran, dass für die verschiedensten sozialen Phänomene eine einzige Variable als „Erklärung“ herangezogen wird oder diese Variable zähneknirschend mit einer oder zwei anderen kreuztabuliert wird, wenn es erforderlich zu sein scheint, „Intersektionalität“ zuzugestehen.

Es ist offensichtlich, dass sich „totale Welterklärungen“ durch eine allentscheidende Größe oder durch ein einziges zentrales Motiv ebenso wie Ein-Variablen-Erklärungen für soziale Phänomene bei der Betrachtung der komplexen Realität sehr schnell als unhaltbar erweisen. Und deshalb muss das totalitäre Denken mit der Realität brechen. Auch für Arendt erfordert der Anspruch auf totale Welterklärung den Bruch mit der Realität, so dass für sie der Bruch mit der Realität das zweite ihrer drei Elemente ideologischen oder totalitären Denkens ist.


2. Emanzipation von der beobachtbaren Wirklichkeit

„Als solches wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer ‚eigentlicheren‘ Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche und die wahrzunehmen wir einen sechsten Sinn benötiegn. Den sechsten Sinn vermittelt eben die Ideologie, jene ideologische Schulung, welchen auf den eigens dafür errichten Erziehungsanstalten ‚politischer Soldaten‘, den Ordensburgen der Nazis oder den Schulen der Komintern und Kominform, vermittelt wird“ (Arendt 2011: 964-965).

Dies erklärt mindestens zweierlei:

Zum einen erklärt es die Selbstüberschätzung und Anmaßung von Ideologen, die meinen, kraft höherer Erkenntnis, Moral oder was auch immer müsse ihre Weltanschauung die einzig „richtige“ sein, der sie „die Menschen“ da draußen unterwerfen müssten, die uneingeweiht sind, anders denken, die (vermeintlich) weniger erkenntnisfähig, gebildet, intelligent, progressiv, irgendwie defizitär sind, eben der Leitung, des „nudging“, der Vorgaben und letztlich Sanktionen durch die selbsternannte „Elite“ bedürften. Denn die Ideologie ist es ja eben, die jemanden sozusagen adelt: sie vermittelt die (Fähigkeit zur) „Erkenntnis“ in die Zusammenhänge, wie sie in der Ideologie (gewöhnlich erschreckend simpel) hergestellt werden, und wenn man nacherzählen kann, was die Ideologie vorgibt, dann qualifiziert man sich einfach dadurch zum Angehörigen einer selbsternannten (ideologischen) „Elite“, und als solcher kann man sich auch als stupider Einfaltspinsel, der lediglich nachzuplappern gelernt hat, was die Ideologie vorgibt, als „etwas besseres“ als „die Menschen“ da draußen fühlen.

Zum anderen erklärt es den Hang von Ideologen, Hinweise auf bestimmte Zusammenhänge mit Bezug auf das eigene ideologische „Lager“ durch Andersdenkende als Verschwörungstheorien abzutun, während sie selbst höchst bereitwillig Verschwörungstheorien aufstellen, wenn sie propagandistisch gegen Andersdenkende zu Felde ziehen.

Wenn z.B. jemand meint, dass „Black Lives Matter“ ein Auflauf von von Herrn Soros bezahlten, als Demonstranten getarnten Aktivisten sei, dann gilt Ideologen dies als haltlose Verschwörungstheorie (ungeachtet der Tatsache, dass teilweise recht einfach zu belegen ist, wer auf der Gehaltsliste der so genannten Open Society Foundations steht). Gleichzeitig scheuen sich Ideologen aber nicht, die Kritik an ihnen oder ihren Aktionen als bloß vorgeschoben oder als Teil einer Verschwörung aller bösen Mächte gegen ihre selbstverständlich gute und gerechte Sache zu behaupten, also z.B. dass völlig ungerechtfertigte Kritik an „Black Lives Matter“ von weißen Suprematisten oder am besten gleich von Donald Trump höchstpersönlich orchestriert und zu Zwecken der Wahlbeeinflussung verbreitet würde.

Im totalitären Denken gibt es keine „mixed motives“, keine Vielzahl möglicher Gründe oder Ursachen, keine unbeabsichtigten Folgen, keine Emergenzen, keine Isomorphien, also all das nicht, was soziale Phänomene auszeichnet. Und selbst auf der individuellen Ebene maßen sich Ideologen als die totalitären „Denker“, die sie sind, an, besser zu wissen, was „hinter“ dem Denken eines Menschen steht als er selbst, z.B. dann, wenn jemand keine Sympathie für „Black Lives Matter“ hat, weil im Namen dieser Floskel Geschäfte geplündert, öffentliche Güter beschmutzt und beschädigt werden und Menschen zu Tode kommen, aber der Ideologe zu wissen meint, dass hinter all dem die „eigentliche“ Realität steht, nach der dieser Mensch ein Rassist oder, falls er weiß ist, ein weißer Suprematist ist. Im totalitären Denken des Ideologen kann es keinen anderen Grund als Rassismus oder weiße Suprematie geben, sich gegen „Black Lives Matter“ als Floskel oder als Organisation auszusprechen.



Diese erschreckende mentale Eindimensionalität lässt sich überall beobachten, wo sich Ideologen äußern, so z.B. auch dort, wo jede Kritik an unkontrollierter Massenzuwanderung als „Rassismus“ gebrandmarkt werden soll, auch dann, wenn sich die Kritik auf erwartete oder beobachtbare negative Folgen für die Gesamtgesellschaft oder für die Zuwanderer selbst bezieht. Der Ideologe stellt die Relevanz dessen, was andere Menschen beobachten, erwarten, befürchten, hoffen, meinen, prinzipiell in Abrede und ersetzt dies alles durch eine „eigentliche“ Realität, die „hinter“ dem verborgen liegt, was andere Menschen meinen zu wissen, meinen zu meinen, meinen zu erwarten etc. Anders gesagt: Letztlich ist für den Ideologen die eigene Wahrnehmung unfehlbar, während alle Andersdenkenden entweder im Irrtum sind, „das falsche Bewußtsein“ im Sinn von Karl Marx haben oder einfach lügen, weil sie böse sind:

„Die Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklichkeit dient auch der Propaganda der totalitären Bewegung, die immer darauf hinausläuft, jedem offenbar Geschehenden einen geheimen Sinn und jedem offenbaren politischen Handeln eine verschwörerische Absicht unterzulegen. Sind die Bewegungen erst einmal an die Macht gekommen [naja, sagen wir mit Bezug auf die aktuellen Verhältnisse: haben sie es geschafft, Brückenköpfe in ehemals angesehenen Organisationen zu errichten], so beginnen sie, die Wirklichkeit im Sinne ihrer ideologischen Behauptungen zu verändern. Der Begriff der Feindschaft wird durch den der Verschwörung ersetzt und damit eine politische Realität hergestellt, in der hinter jeder Erfahrung des Wirklichen – wirklicher Feindschaft oder wirklicher Freundschaft – der Natur der Sache nach etwas anderes vermutet werden muss“ (Arendt 2011: 965).

Ich kenne Vergleichbares aus eigener Erfahrung: Wer wie ich meint, dass „Gender Studies“ an Universitäten nichts verloren haben, weil sie keinerlei Erkenntnisnutzen erbringen, aber Wissenschaft als Idee und Praxis pervertieren, der – so der Ideologe gemäß seines totalitären Denkens – bringt das nur deshalb vor, weil er – aus im übrigen unbekannten Gründen – „böse“ ist, denn die „hinter“ all dem, was er argumentiert, liegende „Realität“ ist für den Ideologen, dass ein Kritiker der „Gender Studies“ frauenfeindlich, sexistisch, anti-irgendetwas sein muss, denn in der streng dichotomen Anschauung des Ideologen ist etwas eine „gute“ Sache oder es ist es nicht, und an einer „guten Sache“ lässt sich keinerlei legitime Kritik üben; sie ist eben rundum gut und über jeden Zweifel, jede Kritik erhaben. Wer dennoch kritisiert, muss dementsprechend einfach „böse“ sein.

Das hat für den Ideologen den unschätzbaren Vorteil, sich nicht mit Argumenten auseinandersetzen zu müssen, denen er in aller Regel nicht begegnen können würde (sonst wäre er kein Ideologe, sondern könnte selbst denken). Nicht umsonst hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Ideologen niemals eine Sache argumentieren, sondern immer Personen diskreditieren, beschimpfen, mundtot zu machen versuchen, sie also eine „cancel culture“ voranzubringen versuchen, statt einer Diskussionskultur. Es geht nicht darum, ob etwas in der Realität zutrifft, sondern darum, dass jemand, der etwas sagt, das in der Realität zutrifft, aber nicht zur Ideologie passt, für unmoralisch erklärt wird, für „böse“, für jemanden, dem das Recht oder die Möglichkeit entzogen werden muss, „so etwas“ zu sagen, eben weil er „so jemand“ ist, der „so etwas“ zu sagen bereit ist – daher die vielfältigen Versuche, freie Meinungsäußerung in Medien und im Alltag einzuschränken und zu unterdrücken und Denunziation von „so jemandem“ zu ermutigen und ihn möglichst negative Folgen angedeihen zu lassen.

Und damit sind wir bei Arendts drittem der totalitären Elemente, die ideologisches „Denken“ auszeichnen, angekommen, nämlich der Imitierung von Vernunft und Konsequenz bzw. eines rationalen Denkprozesses.


3. Nachahmung rationalen Denkens

„Die Ideologen, die ja selbst nicht die Macht hatten, die Wirklichkeit zu verändern, verließen sich … in ihrer Emanzipation des Denkens von Erfahrung und erfahrener Wirklichkeit auf das Verfahren ihrer Beweisführung selbst. Dem, was faktisch geschieht, kommt ideologisches Denken dadurch bei, dass es aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit – und das heißt natürlich mit einer Stimmigkeit, wie sie in der Wirklichkeit nie anzutreffen ist – alles weitere deduziert … Einsicht vollzieht sich hier dadurch, dass der Verstand im logischen oder dialektischen Prozeß die Gesetze angeblich wissenschaftlich festgestellter Bewegungen nachahmt und in der Nachahmung sich ihnen einfügt“ (Arendt 2011: 965).

Worauf Arendt sich hiermit bezieht, ist nicht, dass Ideologen vielleicht doch eine Notwendigkeit zur Argumentation oder „Beweisführung“ sehen würden oder vielleicht doch durch die Erfahrung (die eigene oder die Erfahrung Anderer) falsifizierbar wären, sondern im Gegenteil, dass es gerade keine Notwendigkeit zur Argumentation und keine Möglichkeit der Falsifizierbarkeit des ideologischen Denkens gibt, weil der Ideologe die Voraussetzungen, die er macht, als absolut und unbezweifelbar setzt und sich „der Rest“ der Welt im Zuge der totalen Welterklärung aus diesen Voraussetzungen ergibt. Arendt meint, dass sich dies im Zuge „absoluter Folgerichtigkeit“ vollziehe. Der Punkt ist hier nicht, dass Ideologen logisches Denken besonders beherrschen würden, sondern der, dass selbst dann, wenn Ideologen sich genötigt sehen oder vielmehr: sähen, etwas zu begründen, eine Behauptung als logische Schlussfolgerung erweisen zu müssen, keine Möglichkeit dafür bestünde, dass die totale Welterklärung des Ideologen ins Wanken gerät.

Das ist deshalb so, weil man aus falschen Prämissen auf korrekte Weise, d.h. formallogisch korrekt auf Falsches schließen kann, d.h. sozusagen auf einwandfreie Weise zu falschen Schlüssen kommt, eben weil die Prämissen, auf denen die Schlussfolgerung beruht, falsch sind oder auch nur eine der Prämissen, auf denen die Schlussfolgerung beruht, falsch ist. Hier ein einfaches Beispiel:

Prämisse (Obersatz): Alle Menschen sind unsterblich.
Beobachtung (Untersatz): Ich bin ein Mensch.
Schlussfolgerung: Ich bin unsterblich.

In diesem Beispiel ist die Beobachtung bzw. der Untersatz wahr. In Verbindung mit der Prämisse oder dem Obersatz ergibt sich die Schlussfolgerung logisch korrekt. Aber was in der Schlussfolgerung behauptet wird, ist inhaltlich dennoch falsch, weil die Prämisse/der Obersatz falsch ist. Oder ganz einfach ausgedrückt: Wenn man Falsches in etwas hineinspeist, dann kann nur Falsches herauskommen, egal, wie korrekt oder zuverlässig das Eingespeiste verarbeitet wird.

Der Feminismus funktioniert entsprechend:

Männer unterdrücken Frauen.
Ich bin eine Frau.
Ich werde von Männern unterdrückt.

Und unter Verwendung derselben falschen Prämisse kann korrekt geschlossen werden:

Männer unterdrücken Frauen.
Du bist ein Mann.
Du unterdrückst Frauen (und mich, wenn ich eine Frau bin).

Das gesamte Repertoire der Frauen-Bevorteilungspolitiken ist auf diese eine falsche Prämisse zurückführbar. Und das ist es, was Arendt mit ihrem dritten Element ideologischen oder totalitären Denkens beschreibt: Solche Politiken erscheinen „rational“ in dem Sinn, dass sie logisch korrekt aus falschen Prämissen ableitbar sind. Die so gewonnene „Einsicht“ in die (vermeintliche) Notwendigkeit von Frauen-Bevorteilungspolitiken aufgrund falscher Prämissen ahmt in der Tat rationales Denken nach, unterscheidet sich vom rationalen Denken aber grundlegend darin, dass Letzteres die Diskussion über fragwürdige Prämissen oder deren Relevanz – im Sinn der Verwandlung einer absoluten Aussage in eine probabilistische – zulässt.

Ideologen gelingt es dadurch, dass sie ihre Prämissen als unbezweifelbar richtig, als absolut setzen, einerseits, sich hermetisch gegen jede andere Wahrnehmung oder Interpretation der Dinge, gegen alles, was sich nicht aus der gesetzten Prämisse ableiten lässt, abzuriegeln, und andererseits, immer extremere Positionen und Politiken aus falschen Prämissen scheinbar rational „abzuleiten“. Das hat natürlich seinen Preis, der in der Rede von der „Echokammer“ gut zum Ausdruck gebracht wird: Verständigung ist nur mit denen möglich, die dieselbe Prämisse als unbestreitbar wahr ansehen, allen anderen kommt das Ganze skurril vor. Aber da Kritiker, die auf die Falschheit der Prämissen mit Verweis auf die beobachtbare Realität hinweisen – gemäß des zweiten Elementes totalitärer Ideologie – als unmoralisch, als böse, als einer Verschwörung gegen die gute Sache angehörig diskreditiert werden, setzen sich Ideologen solchen Einwänden niemals aus, sondern verschwenden ihre gesamte Energie darauf, eine ganze Welt der Vorstellung zu erschaffen, Vorstellung darüber, was der Kritiker „eigentlich“ sagt, was „hinter“ dem liegt, was er sagt, und diese Vorstellungen sind ihrerseits Kopfgeburten, die Ideologen aus ihren falschen Prämissen heraus erschaffen.

Hannah Arendt spekuliert in ihrem Buch nicht darüber, welche mentale Behinderung oder Beeinträchtigung totalitärem bzw. ideologischem Denken zugrundeliegt, aber es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die dies getan haben. Im Folgetext werden wir aber – wie schon angekündigt – (noch) nicht auf diese Autoren eingehen, sondern Robert Jay Liftons acht Kriterien der „Gehirnwäsche“ bzw. der Denk-Reform vorstellen.


Literatur:

Arendt, Hannah, 2011[1955]: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt.
(im amerikanischen Original 1951 unter dem Titel „The Origins of Totalitarianism“ bei Harcourt, Brace and Co. In New York erschienen).

Engels,Friedrich, 1984[1884]: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: Im Anschluss an Lewis H. Morgans Forschungen. Berlin: Dietz.

Jüdt, Ingbert, 2019: Der Mythos vom Patriarchat und der Niedergang des Feminismus. Band 1: Plädoyer für eine Historisierung. Norderstedt: BoD (Books on Demand).

Lee, Bandy X., 2017: The Dangerous Case of Donald Trump: 27 Psychiatrists and Mental Health Experts Assess a President. New York: St. Martin’s Press.

Lifton, Robert Jay, 1989[1961]: Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of “Brainwashing” in China. New York: W. W. Norton & Company.

Lobaczewski, Andrzej M., 2014: Politische Ponerologie: Eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke. Castelsarrasin: Pilule Rouge.

Martin-Joy, John, 2020: Diagnosing from a Distance: Debates over Libel Law, Media, and Psychiatric Ethics from Barry Goldwater to Donald Trump. Cambridge: Cambridge University Press.


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