Leben wir im Totalitarismus?: Die acht Merkmale ideologischen Totalismus nach Robert Jay Lifton

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Nachdem vor ein paar Tagen die drei „… spezifisch totalitäre[n] Elemente, die allem ideologischen Denken eigentümlich sind“ (Arendt 2011: 964) nach Hannah Arendt (2011) vorgestellt wurden, sind Gegenstand dieses Textes – wie im Vorgängertext angekündigt – die acht Merkmale dessen, was der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton „[i]deological [t]otalism“ (Lifton 1989[1961]: 419) oder „ideologischen Totalismus“ nennt. Wie schon im Vorgängertext beschrieben hat Lifton seine Beschreibung „ideologischen Totalismus“ in seinem Buch mit dem Titel „Thought Reform and the Psychology of Totalism“ gegeben, das auf Interviews des Autors mit vierzig Personen beruht, die unter Mao als politische Gefangene in chinesischen Gefängnissen eingesessen hatten und dort Umerziehungsversuchen unterworfen wurden. Weil dieses Buch niemals ins Deutsche übersetzt wurde, muss im Folgenden aus dem englischsprachigen Original zitiert werden. Die entsprechenden Inhalte werden aber hoffentlich auch für diejenigen, die des Englischen nicht (hinreichend) mächtig sind, verständlich werden.

Lifton benutzt den Ausdruck „ideologischer Totalismus“, um ein „set of psychological themes“ (Lifton 1989[1961]: 419) zu bezeichnen, bei dem

„immoderate ideology [zusammenkommt] with equally immoderate individual character traits – an extremist meeting ground between people and ideas“ (Lifton 1989[1961]: 419).

Es bleibt einigermaßen unklar, was er damit meint, und dieser Versuch auf Seite 419, zu erläutern, was er unter „ideologischem Totalismus“ versteht, ist tatsächlich der erste, den Lifton in seinem Buch vornimmt. In jedem Fall stellt Lifton klar, dass er mit “Ideologie”

„… any set of emotionally-charged convictions about man and his relationship to the natural or supernatural world …“ (Lifton 1989[1961]: 419)

meint. Für Lifton ist eine Ideologie also eine Reihe von emotional geladenen Überzeugungen über den Menschen und sein Verhältnis zur natürlichen oder übernatürlichen Welt. Eine Ideologie muss nach Lifton als solche nicht notwendigerweise totalitär sein, aber

„… any ideology …. may be carried by its adherents in a totalistic direction“ (Lifton 1989[1961]: 419),

d.h. jede Ideologie kann von ihren Anhängern in Richtung eines Totalitarismus entwickelt werden, sozusagen verabsolutiert werden.

„But this is most likely to occur with those ideologies which are most sweeping in their content and most ambitious – or messianistic – in their claims, whether religious, political, or scientific. And where totalism exists, a religion, a political movement, or even a scientific organization becomes little more than an exclusive cult” (Lifton 1989[1961]: 419).

Ideologien haben also – gemäß ihrer Inhalte und ihres Anspruchs – nicht alle eine gleich starke Tendenz oder das gleiche Potenzial, zum ideologischen Totalismus (gemacht) zu werden. Damit verschiebt sich die Frage aber dahin, woran man (ideologischen) Totalismus erkennt. Hierzu schreibt Lifton:

„For in identifying …. features common to all expressions of ideological totalism, I wish to suggest a set of criteria against which any environment may be judged – as basis for answering the ever-recurring question: ‚Isn’t this just like brainwashing?‘ These criteria consist of eight psychological themes which are predominant within the social field of the thought reform milieu” (Lifton 1989[1961]: 420).

Hier fasst Lifton ideologischen Totalismus als eine Umwelt auf, die bestimmte Kriterien erfüllt, und zwar diejenigen Kriterien, die Lifton in den mehr als zwanzig vorherigen Kapiteln in seinem Buch als Techniken des „brainwashing“ bzw. der Gedankenreform oder der Um-Erziehung aus den Interviews, die er geführt hat, herausgearbeitet hat. Ideologischer Totalismus wird von Lifton also als „thought reform environment“ (Lifton 1989[1961]: 420) operational definiert, eben durch die Kriterien, die Lifton anschließend nennt. Auf den Punkt gebracht: Ideologischer Totalismus liegt vor, wenn man es mit einer Umwelt zu tun hat, in der verschiedene Techniken zur Gedanken-Reform oder Um-Erziehung verwendet werden.

Die acht Kriterien bzw. Techniken, die Lifton anschließend (auf den Seiten 420–437) nennt und beschreibt, sind:

1. „Milieu Control“ oder Kontrolle des Milieus;
2. „Mystical Manipulation“ oder mystische Manipulation;
3. „The Demand for Purity“ oder die Forderung von Reinheit;
4. „The Cult of Confession“ oder der Kult des Beichtens bzw. des Geständnisses;
5. „The ‚Sacred Science‘“ oder die sakrale Wissenschaft;
6. „Loading the Language“ oder Ladung der Sprache;
7. „Doctrine Over Person“ oder Doktrin geht vor Mensch
8. „The Dispensing of Existence“ oder die differenzielle Zuschreibung von Existenz.

 

1. Kontrolle des Milieus

Lifton bezeichnet die Kontrolle der Kommunikation von Menschen miteinander als „[t]he most basic feature of the thought reform environment, the psychological current upon which all else depends“ (Lifton 1989[1961]: 420). Sie wird erreicht durch die „Kontrolle des Milieus“, d.h. dessen, was Menschen an Informationen und Austausch zugänglich ist, die Kontrolle von

„… all that he sees and hears, read and writes, experiences, and expresses …“ (Lifton 1989[1961]: 420).

Es geht dabei nach Lifton aber auch um

„… penetration of his inner life – over what we may speak of as his communication with himself” (Lifton 1989[1961]:420).

Die Kontrolle des Milieus beinhaltet also nicht nur Zensur, sondern auch Selbstzensur.

Lifton betont, dass

„[s]uch milieu control never succeeds in becoming absolute; and its own human apparatus can – when permeated by outside information – become subject to discordant ‚noise‘ beyond that of any mechanical apparatus. To totalist administrators, however, such occurrences are no more than evidences of ‘incorrect’ use of the apparatus. For they look upon milieu control as a just and necessary policy, one which need not be kept secret … At the center of this self-justification is their assumption of omniscience, their conviction that reality is their exclusive possession” (Lifton 1989[1961]: 421).

Wer muss in diesem Zusammenhang nicht an das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Einrichtung von sogenannten Faktenprüfern denken?! Beides wird ganz offen betrieben und als notwendig angesichts von „fake news“ ausgegeben, wobei „fake news“ nicht das ist, was empirisch als nicht zutreffend erwiesen werden kann, sondern das, was nicht gewusst, nicht geglaubt, nicht gedacht werden soll, weil es nicht dem entspricht, was als „Realität“ durchgesetzt werden soll.

Nach Lifton depriviert Milieu- bzw. Kommunikationskontrolle Menschen

„… of the combination of external information and inner reflection which anyone requires to test the realities of his environment and to maintain a measure of identity separate from it. Instead, he is called upon to make an absolute polarization of the real (the prevailing ideology) and the unreal (everything else). To the extent that he does this, he undergoes a personal closure which frees him from man’s incessant struggle with the elusive subtleties of truth. He may even share his environment’s sense of omniscience and assume a ‘God’s-eye view’ of the universe; but he is likely instead to feel himself victimized by the God’s-eye-view of his environment’s controllers” (Lifton 1989[1961]: 421).

Auf den psychologischen Zwang zur Aufgabe eigener Identität gibt es nach Lifton also zwei mögliche Reaktionen: manche Menschen erfahren sie als befreiend, weil sie sie davon entbindet, sich ein eigenes Urteil bilden zu müssen und dabei die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass die Dinge unserer Welt gewöhnlich verschiedene Aspekte haben („elusive subtleties of truth“) und eben nicht einfach „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“ sind. Sie geben ihre personale Identität zugunsten der kollektiven Identität auf, die die Ideologie ihnen anbietet. Andere Menschen – und Lifton hält sie für die Mehrheit – fühlen sich dagegen durch die angebliche Allwissenheit und Unfehlbarkeit derer, die ihre Umwelt kontrollieren, viktimisiert, was in diesem Kontext vermutlich mindestens bedeuten soll: in der Zur-Geltung-Bringung ihrer personalen identität gehindert.



2. Mystische Manipulation

Für Lifton ist der

„… inevitable next step after milieu control … extensive personal manipulation … Initiated from above, it seeks to provoke specific patterns of behaviour and emotion in such a way that these will appear to have arisen spontaneously from within the environment. This element of planned spontaneity, directed as it is by an ostensibly omniscient group, must assume, for the manipulated, a near-mystical quality” (Lifton 1989[1961]: 422).

Die Vertreter der herrschenden Ideologie versuchen also, bei den Menschen bestimmte Verhaltensweisen und Gefühle zu provozieren, damit sie sich ihrer bedienen können. Wichtig ist dabei, dass es so scheint, als würden diese Verhaltensweisen und Gefühle spontan gezeigt, also so, als wären sie nicht „von oben“ oder „von außen“ provoziert oder eingeübt worden. Lifton spricht in diesem Zusammenhang von „gelernter Spontanität“.

Mich hat dies spontan – ohne Einwirkung von außen 🙂 – an die „Fridays for Future“-Auftritte ganzer Schulklassen erinnert, die zwar auf Anregung von Lehrerschaft oder Schulleitung stattfanden (und vermutlich oft durch sie organisiert wurden), aber der Öffentlichkeit als Ausdruck eines tief empfundenen Anliegens von Jugendlichen und sogar Kindern dargestellt wurden. Es gibt aber weitere Beispiele, so z.B. die „Black Lives Matter“-Aufmärsche, von denen suggeriert wird, es handle sich um eine Vielzahl von Menschen, denen plötzlich gleichermaßen und unabhängig voneinander der Kampf gegen Rassismus ihr tiefstes Anliegen sei, obwohl es sich um eine Vereinigung mit einer kommunistischen Agenda handelt, die im Übrigen von George Soros kräftig finanziell unterstützt wird.

Warum nennt Lifton diese Art der Manipulation „mystisch“? Er schreibt:

„Ideological totalists do not pursue this approach solely for the purpose of maintaining a sense of power over others. Rather they are impelled by a special kind of mystique which not only justifies such manipulations, but makes them mandatory. Included in this mystique is a sense of ‘higher purpose’, of having ‘directly perceived some imminent law of social development”, and of being themselves the vanguard of this development. By thus becoming the instruments of their own mystique, they create a mystical aura around the manipulating institutions – the Party, the Government, the Organization. They are the agents ‘chosen’ … to carry out the ‘mystical imperative’, the pursuit of which must supersede all considerations of decency or of immediate human welfare” (Lifton 1989[1961]: 422).

Ideologische Totalisten halten sich also für eine Art Auserwählte, denen ein höherer Auftrag – den sie allerdings in ihrer Ideologie selbst formuliert haben – aufgegeben ist. Dieser „höhere Auftrag“ ist dem „einfachen“ Menschen nicht erkennbar oder vermittelbar, und deshalb muss er ihm ggf. gegen seinem Willen unterworfen werden. M.E. ist es genau das, was dem Klima-Schwindel, der Umrüstung auf sogenannte erneuerbare Energien und letztlich dem Anti-Kapitalismus zugrundeliegt: der „höhere Auftrag“, den bestimmte Menschen fühlen, wenn sie meinen, Wohl und Wehe aller kommenden Generationen hingen von ihnen ab, sie seien es, denen die Rettung des blauen Planeten obliege, sie seien also die Retter der Menschheit, die ohne ihre Intervention keine Zukunft habe – oder zumindest keine lebenswerte Zukunft habe. Und angesichts dieses Ziels muss die Lebenswertigkeit der Leben jetzt lebender Menschen in den Hintergrund treten. Nervöse Beschwerden, kaum mehr bezahlbare Stromrechnungen, die Entstellung der Landschaft um die Menschen herum, dies alles sind Opfer, denen die „einfachen“ Menschen unterworfen werden, damit die „Auserwählten“ den „höheren Auftrag“, den sie sich genehmigt haben, ausleben können.

Dasselbe Argument kann man mit Bezug auf „Black Lives Matter“ machen: der „höhere Auftrag“, die rassismusfreie Gesellschaft zu schaffen, hat eine so große Weihe, dass der Verlust menschlichen Lebens, und zwar sowohl schwarzen als auch weißen menschlichen Lebens, im Zuge der ganz und gar nicht friedlichen Aktionen der „Auserwählten“, keine nennenswerte Bedeutung hat. Sie wird einfach in Kauf genommen für den „höheren Auftrag“.

Was Lifton weiter schreibt, fügt sich nahtlos an diese Beispiele an:

„… any thought or action which questions the higher purpose is considered to be stimulated by a lower purpose, to be backward, selfish, and petty in the face of the great, overriding mission. This same mystical imperative produces the apparent extremes of idealism and cynicism which occur in connection with the manipulations of any totalist environment: even those actions which seem cynical in the extreme can be seen as having ultimate relationship to the ‘higher purpose’ (Lifton 1989[1961]: 422).

Wo käme dieser Zynismus besser zum Ausdruck als in der Vorstellung, dass jetzt existierendes Leben leiden oder ggf. frühzeitig beendet werden müsse, damit später vielleicht einmal existierendes Leben nicht leiden und lange währen könne?!

 

3. Die Forderung von Reinheit

Sie hängt eng mit dem oben beschriebenen Mystizismus bzw. der Phantasie vom „höheren Auftrag“ zusammen und basiert auf der Idee, dass es Reines und Unreines, absolut Gutes und absolut Böses nicht nur gebe, sondern sich auch immer deutlich unterscheiden lasse und außerdem das absolut Gute erreichbar bzw. verwirklichbar sei (Lifton 1989[1961]: 423). Eben darin besteht der unter Punkt 2 genannte „höhere Auftrag“: dem Reinen oder absolut Guten zur Durchsetzung zu verhelfen und das Unreine oder absolut Böse auszumerzen.

„The good and the pure are of course those ideas, feelings, and actions which are consistent with the totalist ideology and policy; anything else is apt to be relegated to the bad and the impure. Nothing human is immune from the flood of stern moral judgments. All ‘taints’ and ‘poisons’ which contribute to the existing state of impurity must be searched out and eliminated” (Lifton 1989[1961]: 423).

In dieser Phantasie vom auf Erden entscheidbaren Kampf des Guten gegen das Böse gibt es keine Moral, die die Mittel betrifft, sondern nur eine Moral des Zwecks, denn

„… anything done to anyone in the name of this purity is ultimately moral“ (Lifton 1989[1961]: 423).

Vor diesem Hintergrund sind die schweren Verletzungen von Menschenrechten z.B. im kommunistischen China ebenso wie die Morde an schwarzen und an weißen Menschen im Zuge der Aufmärsche von „Black Lives Matter“ zu sehen. Sie erscheinen wie hinzunehmende Opfer auf dem Weg zum absolute Guten.

Weil das absolut Gute aber nicht existiert bzw. „… alien to the human condition“ (Lifton 1989[1961]: 424) ist, wird durch die ständige Forderung, nach mehr Reinheit zu streben, sich laufend zu reformieren, ein Milieu der Unzulänglichkeit und damit verbunden der Schuld und der Scham (“… a guilty milieu and a shaming milieu“; Lifton 1989[1961]: 424; Hervorhebung im Original) geschaffen. Jeder – auch (fast) jeder, der die entsprechende Ideologie mitträgt – muss daher immer mit legitimer Beschämung oder Bestrafung rechnen.

In diesem Milieu der Schuld und Scham entwickeln Menschen die Gewohnheit, den absoluten Gegensatz von Gut und Böse bei der Beurteilung des eigenen Charakters zugrundezulegen und den Aspekten ihres Sein und Verhaltens, die mit den Vorgaben der Ideologie übereinstimmen, übermäßigen positiven Wert beizumessen, und denjenigen Aspekten, die nicht mit den Vorgaben der Ideologie übereinstimmen, übermäßig negativ zu bewerten und vehement abzulehnen oder zu bestreiten. Nach Lifton erreicht der so ideologisierte Mensch psychologische Erleichterung von seinen „unreinen“ oder „bösen“ Aspekten dadurch, dass er sie als Ergebnisse von äußeren Einflüssen ansieht,

„… as originating… from the ever-threatening world beyond the closed, totalist ken. Therefore, one of his best ways to relieve himself of some of his burden of guilt is to denounce, continuously and hostilely, these same outside influences. The more guilty he feels, the greater his hatred, and the more threatening they seem” (Lifton 1989[1961]: 425).

Hysterische Reaktionen der Insassen der jeweiligen ideologischen Welt auf Zweifel oder Kritik „von außen“ erklärt sich so psychologisch als Projektion:

„In this manner, the universal psychological tendency toward ‚projection‘ is nourished and institutionalized, leading to mass hatreds, purges of heretics, and to political and religious holy wars“ (Lifton 1989[1961]: 425).

Es ist einfach zu erkennen, dass die immer weiter ausufernde Austreibung des absolut Bösen durch Unterdrückung bzw. Unhörbarmachung z.B. in sozialen Netzwerken, aber auch in Alltagskommunikation, in Büchern und sogar im wissenschaftlichen Diskurs, eine Form des „politischen und religiösen heiligen Krieges“ ist, der – psychologisch betrachtet – notwendigerweise immer extremere Formen annehmen muss, weil das Bedürfnis nach Selbstreinigung bei den Insassen der entsprechenden ideologischen Welt dauerhaft besteht und tatsächlich immer stärker werden muss, weil ihre immer extremeren Taten immer mehr Rechtfertigung vor sich selbst erfordern, was wiederum ein immer größeres Sich-Hineinsteigern in die Vorstellung von der Verderbtheit der „Welt da draußen“ und ihren bösen Einflüssen und in den Hass auf sie erfordert. Daher kennen Ideologen kein Maß. Niemals kann der Punkt erreicht sein, an dem ein Anliegen erreicht wurde und das Thema ad acta gelegt werden kann. Ideologen kennen nur die Eskalation, weil sie für sie eine psychologische Erfordernis ist. „Black Lives Matter“ scheint mir ein aktuelles Beispiel zu sein, das diesen Prozeß illustriert.

Wie empfänglich jemand für die dauernde latente Bedrohung durch Beschämung oder Bestrafung ist, hängt nach Lifton von „… patterns developed early in life“ (Lifton 1989[1961]: 424), d.h. von früh im Leben gemachten Erfahrungen, und auf der Grundlage dieser Erfahrungen entwickelten Denk- und Verhaltensmustern ab. Nicht jeder ist gleichermaßen durch Schuld und Scham psychologisch erpressbar, aber Lifton geht davon aus, dass „… this variation can be no more than a matter of degree“ (Lifton 1989[1961]: 424), weil – nach Lifton – Schuld und Scham Teil jeder menschlichen Existenz bzw. Erfahrung sind.



4. Kult des Beichtens/des Geständnisses

Für Lifton ist ein Kult des Beichtens eng verbunden mit der Forderung von absoluter Reinheit. Letztere resultiert nach Lifton in „… an obsession with personal confession“ (Lifton 1989[1961]: 425). Die Beichte bzw. das Geständnis betrachtet zunächst als ein Instrument, das dauerhafte Reinigung vom „Bösen“, das die Welt „da draußen“ dem Ideologisierten anbietet, erlaubt – und es erlaubt, diesen Willen zur Reinigung vor Zeugen zu dokumentieren (Lifton 1989[1961]: 425). Darüber hinaus ist sie/es nach Lifton

„… a means of maintaining an ethos of total exposure – a policy of making public (or at least known to the Organization) everything possible about the life experiences, thoughts, and passions of each individual, and especially those elements which might be regarded as derrogatory. The assumption underlying total exposure (besides those which relate to the demand for purity) is the environment’s claim to total ownership of each individual self within it. Private ownership of the mind and its products – of imagination or of memory – becomes highly immoral” (Lifton 1989[1961]: 426).

Lifton hat diesbezüglich vermutlich Phänomene im Auge wie die in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wie der DDR übliche „Kritik und Selbstkritik“ (s. hierzu Leonhard 1955) und die Geständnisse, die bis heute z.B. in China gepflegt werden (s. z.B.die Entschuldigung des CEO der Firma ByteDance dafür, die Leitsätze der Kommunistischen Partei Chinas nicht ausreichend umgesetzt zu haben).

Inwieweit es Entsprechendes im Westen derzeit gibt, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nicht, was z.B. auf Arbeitstreffen von Mitarbeitern in der Mainstream-Presse vor sich geht oder in den Räumen, die der Steuerzahler der AStA an Universitäten bereitstellt. Ich frage mich allerdings, ob nicht die Welle der falschen Erinnerungen, die vor einigen Jahren für feministische Propaganda gegen Unterdrückung durch ein angeblich existierendes Patriarchat oder die unerbetenen „coming outs“ als schwul oder lesbisch von Personen aus allen möglichen Bereichen des öffentlichen Lebens eine enge Verwandtschaft zur psychologischen Reinigung durch Geständnis und öffentlicher Demonstration von Moralität durch Zutagefördern von Privatem aufweisen. Immerhin erfüllen diese Phänomene dieselbe Funktion wie die z.B. „Kritik und Selbstkritik“, nämlich die, mit der eigenen Beichte/dem eigenen Geständnis ein Urteil über Andere auszusprechen:

„The enthusiastic and aggressive confessor becomes like Camus‘ character whose perpetual confession is his means of judging others: ‘[I] … practice the profession of penitent to be able to end up as a judge … the more I accuse myself, the more I have a right to judge you” (Lifton 1989[1961]: 427),

im zeitgenössischen Kontext in dem konkreten Sinn, dass Menschen aufgrund ihrer Reaktionen auf die Mitteilung von falschen Erinnerungen oder auf ein öffentliches „coming out“ in „Gute“ und „Böse“ eingeteilt werden können, wobei die „Bösen“ diejenigen sind, die meinen, Privates solle privat bleiben, verweigern sie sich doch offenbar dem Slogan, nach dem das Private politisch sei, also dem Anspruch der Ideologie nach totaler Geltung überall, im öffentlichen wie im privaten Bereich.

 

5. Sakrale Wissenschaft

Während das „totalitst milieu“ (Lifton 1989[1961]: 427) seine eigenen Dogmen mit einer Aura der Heiligkeit und Unantastbarkeit umgeben, die es zur Sünde macht, diese Dogmen in Zweifel zu ziehen, legt es gleichzeitig großen Wert darauf, logisch und wissenschaftlich zu erscheinen bzw. Übereinstimmung seiner Dogmen mit Logik und Wissenschaft zu behaupten.

„Thus the ultimate moral vision becomes an ultimate science; and the man who dares to criticise it, or to harbor even unspoken alternative ideas, becomes not only immoral and irreverent, but also ‚unscientific‘“ (Lifton 1989[1961]: 428).

Dies funktioniert über die Umkehrung der Relevanzstruktur: Nicht mehr Wissenschaft als Methode zur Feststellung von faktischer Wahrheit bzw. Falschheit ist das Kriterium, anhand dessen Aussagen beurteilt werden, sondern umgekehrt: die Dogmen bestimmten, was als „wissenschaftlich“ gilt und was nicht, welche Fragen oder Themen Forschungsfragen oder –themen sein dürfen, welche Ergebnisse akzeptabel sind und welche nicht. Wissenschaft mutiert dabei vom methodischen, fortschreitenden Erkenntnisgewinnung zur Beschafferin von Legitimation für die Dogmen oder auf ihnen basierende Forderungen oder Pläne.

Wir dürften alle entsprechende Erfahrungen haben mit Bezug auf die wundersame Übereinstimmung bestimmter Politiken mit den Expertisen zu dem entsprechenden Themenbereich, die vom politischen establishment bei entsprechend geneigten (oder erpressbaren) Angestellten an Hochschulen bestellt werden. Wann haben Sie zuletzt eine veröffentlichte Expertise zu Gesicht bekommen, die die in Frage stehenden Anliegen oder Politiken nicht gestützt oder legitimiert hat?!

Aber die Wissenschaftspersiflage im ideologischen Totalismus geht über bestellte Expertisen oder Gutachten weit hinaus. Das zweifellos bekannteste aktuelle Beispiel hierfür ist der Klima-Schwindel, bei dem „Wissenschaftlichkeit“ der Behauptung von menschengemachten Klimawandel durch die Anwendung oder Imitation von Methoden (vor allem: Modellrechnungen und Simulationen) suggeriert wird, aber die Faktoren in den Modellrechnungen oder die Daten selbst, die in die Modelle eingespeist werden, so ausgewählt werden, dass sie das, was das Dogma als feststehend behauptet, nur bestätigen können. Genau dies ist nachweislich geschehen, wie z.B. der unter dem Stichwort „climategate“ aufgeflogene Betrug belegt.

Solange es – wie derzeit im Westen noch – Wissenschaftler mit entsprechender Expertise gibt, die Wissenschaftspersiflagen als solche identifizieren und öffentlich machen können und wollen, ist Wissenschaft im eigentlichen Sinn noch existent und geeignet dazu, die Dogmen ideologischen Totalismus als falsch zu erweisen, aber

„[t]o be sure, one can usually find areas of expertise outside its immediate authority [d.h. außerhalb des institutionalisierten Einflussbereiches des totalen Milieus]; but during periods of maximum totalist activity (together with thought reform) any such areas are cut off, and there is virtually no escape from the milieu’s ever-pressing edicts and demands, Whatever combination of continued adherence, inner resistance, or compromise co-existence the individual person adopts toward this blend of counterfeit science and back-door religion, it represents another continuous pressure toward personal closure, toward avoiding, rather than grappling with, the kinds of knowledge and experience necessary for genuine self-expression and for creative development” (Lifton 1989[1961]: 429).

 

6. Ladung der Sprache

Dieser Punkt dürfte jedem Leser aus eigener Erfahrung im derzeitigen politischen Klima hinreichend präsent sein, so dass er vermutlich kaum einer Erläuterung bedarf. Aber es mag Trost spenden, die eigenen Erfahrungen in den Worten Liftons aus dem Jahr 1961 wiederzufinden:

„The language of the totalist environment is characterized by the thought-terminating cliché. The most far-reaching and complex of human problems are compressed into brief, highly reductive, definitive-sounding phrases, easily memorized and easily expressed. These become the start and finish of any ideological analysis” (Lifton 1989[1961]: 429).

Die Rede vom “Patriarchat” z.B. behauptet eine Herrschaft der Männer, kann aber nicht angeben, worin sie besteht, wie sie zustande kommt, wie sie erhalten wird, was warum gegen sie, falls sie exitiert, einzuwenden ist etc. Der Begriff ist nur eine Floskel, die eine „Unterdrückung der[!] Frau“ suggerieren soll, ohne sie zu belegen oder eine Ursache – außer eben dem „Patriarchat“ – für sie anzugeben. Der Begriff wird absichtlich vage gehalten, damit er mit Begriffen in Verbindung gebracht, wenn nicht synonym gesetzt werden kann, die eigentlich Anderes bezeichnen und in einem sehr fragwürdigen Verhältnis zur „Herrschaft der Männer“ steht, aber dennoch als Indikatoren für eine solche benutzt werden sollen, z.B. Begriffe wie „Patrilokalität“ oder „Patrilinearität“, die gänzlich anderes bezeichnen und ethnologisch bedeutsame Begriffe sind. An diesem Punkt besteht eine Verbindung zum vorhergehenden Punkt, d.h. zur Persiflierung von Wissenschaft zur Stützung von Dogmen. Plattitüden über die Ungleichverteilung eines beliebigen Merkmals zwischen Bevölkerungsgruppen, hier: Männern und Frauen, werden zum Mißstand aufgebaut, und ihre „Erklärung“ liegt im Wirken böser Mächte, z.B. „toxischer Maskulinität“ oder böser Männer, die sich angeblich und aus nicht angegebenen Gründen weigern, kompetente Frauen einzustellen oder zu befördern, obwohl dies in ihrem eigenen Interesse liegt. Komplexe Sachverhalte werden – man möchte fast sagen: gnadenlos – auf eine oder zwei Größen zustammengestampft und in Floskeln gegossen, die, wie Lifton sagt, einfach auswendig zu lernen und zu behalten sind. Das kann so primitive Formen annehmen wie die Botschaft, dass alles auf der Erde gut würde und Menschen anders denken und handeln würden, wenn man ihnen nur einprügeln könnte, an unschuldige deutsche Kollektivbegriffe ein „-innen“ anzuhängen.

Dasselbe Argument läßt sich mit Bezug auf andere Begriffen, die andere Dogmen betreffen, machen, allen voran auf den Begriff „Rassismus“, der zuerst vollständig inflationiert wurde, um ihn anschließend willkürlich im Sinn der Dogmen des ideologischen Totalismus zu füllen. Derzeit wird daran gearbeitet, „Rassismus“ von der historischen Bezeichnung einer Einteilung von Menschen und einer Bewertung ihrer Eigenschaften, die aufgrund der längst überwundenen Rassenlehre vorgenommen wurde, bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen bzw. ihn in eine vage Bezeichnung für Einstellungen oder Handlungen oder nicht näher beschriebenes „Strukturelles“ zu überführen, das als eigenes Agens auf ungeklärte Weise Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe benachteiligt und Menschen mit weißer Hautfarbe privilegiert.

Floskeln nehmen nicht nur eine Zwangsschrumpfung von komplexen Zusammenhängen vor, sondern werden zu „ultimativen Begriffen“ („ultimate terms“; Lifton 1989[1961]: 429), derer sich die „totale Umwelt“ bedient. Lifton bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Richard Weaver, der die „ultimativen Begriffe“ in „Gottesbegriffe“ und „Teufelsbegriffe“ (Weaver 1953: 230-231) unterscheidet:

„… ‚god terms‘, representative of ultimate good; or ‚devil terms‘, representative of ultimate evil” (Lifton 1989[1961]: 429).

Vor dem Hintergrund des maoistischen Chinas nennt Lifton als “Gottesbegriffe” u.a. „Fortschritt“ („progress“) und „Befreiung“ („liberation“), als „Teufelsbegriffe“ nennt er u.a. „imperialistisch“ („imperialist“) und – in trauriger Kontinuität – „kapitalistisch“ („capitalist“) (Lifton 1989[1961]: 429). Aktuell dürften als „Gottesbegriffe“ u.a. gelten: „nachhaltig“, „geschlechtergerecht“, „Gleichheit“, „Klimaschutz“, „Diversität“, „Flüchtling“. Als „Teufelsbegriffe“ dürften u.a. gelten: „Rechter“, „Konservativer“, „Maskulinität“, „Nationalismus“, „Stolz“, „Individualismus“, „Konkurrenz“ – ich bin sicher, dass den Lesern viele weitere Begriffe für beide Kategorien einfallen werden.

Was die Sprache des ideologischen Totalismus auszeichnet, kann man m.E. nicht besser zusammenfassen als Lifton dies vor 60 Jahren getan hat:

„Totalist language, then, is repetitiously centered on all-encompassing jargon, prematurely abstract, highly categorical, relentlessly judging, and to anyone but its most devoted advocate, deadly dull: in Lionel Trilling’s phrase, ‚the language of nonthought‘“ (Lifton 1989[1961]: 429).

Lifton gesteht zu, dass es “this kind of language … to some degree within any cultural or organizational group [gibt], and all systems of belief depend upon it. It is in part an expression of unity and exclusiveness: as Edward Sapir put it, ‘He talks like us’ is equivalent to saying ‘He is one of us’. [But] the loading is much more extreme in ideological totalism, however, since the jargon expresses the claimed certitudes of the sacred science. Also involved is an underlying assumption that language – like all other human products – can be owned and operated by the Movement” (Lifton 1989[1961]: 429-430),

aber das ist bekanntermaßen ein Irrtum bzw. funktioniert nur bei bestimmten Menschen mit einem entsprechenden psychologischen oder Intelligenz-Profil:

„As in other aspects of totalism, this loading may provide an initial sense of insight and security, eventually followed by uneasiness. This uneasiness may result in a retreat into a rigid orthodoxy in which an individual shouts the ideological jargon all the louder in order to demonstrate his conformity, hide his own dilemma and his despair, and protect himself from the fear and guilt he would feel should he attempt to use words and phrases other than the correct ones. Or else he may adopt a complex pattern of inner division, and dutifully produce the expected chlichés in public performances while in his private moments he searches for more meaningful avenues of expression. Either way, his imagination becomes increasingly dissociated from his actual life experiences and may even tend to atrophy from disuse” (Lifton 1989[1961]: 430).

Und deshalb fällt der Gebrauch der Sprache des ideologischen Totalismus als Erkennungszeichen zurück auf diejenigen, die sie sprechen: Während diejenigen, die sie sprechen, meinen, damit Zugehörigkeit und Exklusivität sozusagen „nach innen“ zu signalisieren und, „nach außen“ zu signalisieren meinen, wie „man“ zu sprechen solle, signalisieren sie tatsächlich „nach außen“, also jedem, der die Sprache des ideologischen Toralismus nicht benutzt, dass sie, die diese Sprache benutzen, weltfremde und ggf. bigotte, jedenfalls in Selbstzensur befindliche Ideologen sind.



7. Doktrin geht vor Mensch

Dieses Kriterium für ideologischen Totalismus geht für Lifton mit dem zuvor genannten, also der Ladung der Sprache, einher:

„This sterile language reflects another characteristic feature of ideological totalism: the subordination of human experience to the claims of doctrine. This primacy of doctrine over person is evident in the continual shift between experience and the highly abstract interpretation of such experience – between genuine feelings and spurious cataloguing of feelings. It has much to do with the peculiar aura of half-reality which a totalist environment seems, at least to the outsider, to possess” (Lifton 1989[1961]: 431).

Kommunistische Kulturform zur Behandlung kritischer Studenten (1989 – Tiananmen Square Massaker)

Von allem menschlichen Erleben wird also abstrahiert. Die Geschichte wird von einer Reihe menschlicher Erfahrungen und ihren subjektiven Verarbeitungen, die ggf. zu motiviertem Handeln geführt haben und vielleicht zu beabsichtigten, sicher aber (auch) zu unbeabsichtigten Folgen geführt haben, in eine Erzählung überführt, in der nur noch „stock characters“ (Wright, zitiert nach Lifton 1989[1961]: 431), also Typen oder Standardfiguren, vorkommen und gemäß ihres Typus handeln. In der kommunistischen Geschichte im Sinne von Erzählung, um nicht zu sagen: von Märchen, die die Geschichte im Sinne von Historie ersetzt, sind es die Typen des Kapitalisten und des Imperialisten, die gegen den Typus der „einfachen Menschen“ gesetzt werden, der am Ende das Heil im Kommunismus findet.

„… past historical events are retrospectively altered, wholly rewritten, or ignored, to make them consistent with doctrinal logic. This alteration becomes especially malignant when its distortions are impose upon individual memory as occurred in the false confessions extracted during thought reform …” (Lifton 1989[161]: 431).

M.E. ist die Umschreibung der Geschichte (als Historie) in eine Erzählung oder ein Märchen, in dem nur Typen, aber keine individuellen Menschen, vorkommen, aber ebenso „malignant“, d.h. bösartig, wenn sie Kindern und Jugendlichen als Geschichte im Sinn von Historie bzw. als historische Wahrheit dargestellt wird. Lifton spricht im Zusammenhang mit der Umwandlung von Historie in eine Erzählung zwar nicht direkt die Indoktrination von Kindern und Jugendlichen an, aber er schreibt mit generellem Bezug

„… the demand that character and identity be reshaped, not in accordance with one’s special nature or potentialities, but rather to fit the rigid contours of the doctrinal mold. The human is thus subjugated to the ahuman” (Lifton 1989[1961]: 431).

Wir erleben dies m.E. heute in aller Deutlichkeit, wenn durch Sprach- und Meinungsverbote sowie Nachstellung und Denunziation erreicht werden soll und teilweise erschreckenderweise erreicht wird, dass Menschen, z.B. in ihrer Rolle als Arbeitnehmer, auf z.B. den Typus des „Rechten“ oder des „weißen Suprematisten“ reduziert werden, um diesen Typus gleichzeitig als „realer“ erschienen zu lassen als es die Menschen sind, die in solche Formen hineingezwängt werden. Nur so ist erklärbar, dass jemand, der seine Arbeit voll und ganz zufriedenstellend erledigt, diese Arbeit verlieren kann, weil er eine „falsche“ Meinung hat oder auf der „falschen“ Versammlung gesehen wurde, also aufgrund gänzlich arbeitsfremder Faktoren.

Dies sichert die Doktrin davor, sich aufgrund menschlicher Erfahrung als falsch oder zumindest als zu einfach erweisen zu können: Jemand, der z.B. auf dem Dürkheimer Wurstmarkt weiterhin einen „Mohrenkopf“ bestellt, erweist nicht die Doktrin als falsch oder zu einfach, nach der dieses Wort (und eine Menge anderer Worte) „rassistisch“ sei oder man „Rassisten“ an den Worten erkennen könne, die sie benutzen, sondern er wird – umgekehrt – als dem Typus des „Rassisten“ entsprechend eingeordnet. Die Doktrin, nach der man „solche“ Worte nicht sagt, weil ihnen von den Ideologen eben eine „solche“ Bedeutung zugeschrieben wird, ist im ideologischen Totalismus „wahrer“ als die Absicht oder Handlung eines real existierenden Menschen, der auf einem Jahrmarkt eine Süßigkeit unter Verwendung ihres traditionellen, bekannten Namens bestellt.

Wie die Geschichte als Historie der Doktrin unterworfen und in eine mit der Doktrin übereinstimmende Erzählung überführt wird, kann man derzeit auch mit Bezug auf „Black Lives Matter“ beobachten, und wie weit diese regelrechte Vergewaltigung der Geschichte und historischer Persönlichkeiten gehen kann, kann man deutlich erkennen, wenn z.B. Winston Churchill in den Typus des „Rassisten“ überführt und auf ihn reduziert wird, ungeachtet der Tatsache, dass Winston Churchill eine Ikone der britischen Geschichte insofern ist als er das Vereinigte Königreich im 2. Weltkrieg zum Sieg führte und zwischen 1951 und 1955 erneute Premierminister des Vereinigten Königreiches war, und er bis heute niemals mit „Rassismus“ in Verbindung gebracht worden ist oder als „Rassist“ bekannt oder betitelt worden wäre. Dies alles hat „Black Lives Matter“-Aktivisten nicht davon abgehalten, „the real Churchill“, also den „wahren“ Churchill, als Rassisten zu typisieren, während der Premierminister Churchill für weniger „wahr“ erklärt wird.

Die „Wahrheit“ bemisst sich an den Doktrinen des ideologischen Totalismus, und wer jemand „wirklich“ ist, bemisst sich an seiner Einordnung in die „Menschensorten“, die die Doktrin für relevant erklärt:

„… the doctrine … is ultimately more valid, true, and real than is any aspect of actual human character or human experience“ (Lifton 1989[1961]: 431).

Das siebte und vorletzte Kriterium für ideologischen Totalismus ist also die vollständige Objektivierung von Menschen und die Uminterpretation bzw. Reduktion ihrer gesamten Persönlichkeit in/auf die Standardfiguren, die die Doktrin kennt.

 

8. Differenzielle Zuschreibung von Existenz

Das letzte der acht Kriterien für ideologischen Totalismus ist die differenzielle Zuschreibung von Existenz oder genauer: von Existenzrecht. Das heißt, nicht allen Menschen wird dasselbe Existenzrecht zugeschrieben:

Für Lifton verweist dieses Kriterium auch wieder auf das vorher genannte zurück, denn Menschen werden im ideologischen Totalismus – wie unter Punkt 7 beschrieben – nicht einfach als solche angesehen und respektiert, sondern objektiviert und auf Typen reduziert. Bestimmte Typen von Menschen, z.B. „Reaktionäre”, „Sklavenhändler“, “Rechte”, “weiße Männer”, werden “außerhalb” „der Menschen“ („the people“) verortet bzw. „die Menschen“ setzen sich zusammen aus den Ideologen selbst und denjenigen, als deren Anwälte und Funktionäre sie sich darstellen, also den „Guten“. Die „Guten“ sind „die Menschen“, während der Status der „Schlechten“ als Menschen bzw. der Wert ihrer Leben zumindest fragwürdig ist:

„The totalist environment draws a sharp line between those whose right to existence can be recognized, and those who possess no such right … Being ‚outside the people‘ [wie Mao es ausdrückte], the reactionaries are presumably nonpeople. Under conditions of ideological totalism, in China and elsewhere, nonpeople are often put to death …” (Lifton 1989[1961]: 433).

Auch, wenn die Einordnung von Menschen als Nicht-Ganz- oder Nicht-Menschen, wenn nicht gar als Un-Menschen, aber zumindest als Menschen zweiter Klasse, derzeit im Westen (noch) nicht dazu führt, dass sie systematisch ermordet werden, so sind die Ausgrenzung „Schlechter“ aus der Gemeinschaft der „guten“ Menschen im Sinn der Doktrin und in Form von De- oder Infrahumanisierung einigermaßen bedenkliche Phänomene.

Immerhin kann man “Menschlichkeit” in der Anschauung des ideologischen Totalismus dadurch wiedergewinnen, dass man einen Um-Erziehungsprozess in dem Sinn erfolgreich durchläuft, dass man seine Kenntnis der, seine Verpflichtung auf und sein Engagement für die Doktrin überzeugend nachweisen kann:

„But the thought reform process is one means by which nonpeople are permitted, through a change in attitude and personal character, to make themselves over into people. The most literal example of such dispensing of existence and nonexistence is to be found in the sentence given to certain political criminals: execution in two years’ time, unless during that two-year period they have demonstrated genuine progress in their reform” (Lifton 1989[1961]: 433).

Weil der Status als Nicht-Mensch oder Nicht-Ganz-Mensch im ideologischen Totalismus weitgehend identisch ist mit Nichts-Sein, wenn nicht mit Nicht-Sein, scheint der Anschluss an die Doktrin Vielen der einzige Weg zu sein, um in Zukunft etwas sein zu können oder überhaupt sein zu können:

„For the individual, the polar emotional conflict is the ultimate existential one of ‚being versus nothingness‘. He is likely to be drawn to a conversion experience, which he sees as the only means of attaining a path of existence for the future … The totalist environment – even when it does not resort to physical abuse – thus stimulates in everyone a fear of extinction or annihilation … A person can overcome this fear and find … ‘confirmation’, not in his individual relationship, but only from the fount of all existence, the totalist Organization. Existence comes to depend on creed (I believe, therefore I am), upon submission (I obey, therefore I am) and beyond these, upon a sense of total merger with the ideological movement. Ultimately, of course on compromises and combines the totalist ‘confirmation’ with independent elements of personal identity; but one is ever made aware that, should he stray too far along this ‘erroneous path’, his right to existence may be withdrawn” (Lifton 1989[1961]: 434-435).

Die augenscheinliche Schließung der Hochschulen gegenüber der realen Welt (samt der Erfordernisse des ersten Arbeitsmarktes) bzw. deren zunehmende Selbstverortung als Institution des ideologischen Totalismus illustriert diesen Prozess. Nachwuchswissenschaftler haben eine Ahnung davon, dass sie an Hochschulen „nichts werden“ oder „niemand werden“ können, wenn sie nicht die Doktrin des ideologischen Totalismus – zunächst zumindest äußerlich – vertreten. Im Zuge der Reduktion von kognitiver Dissonanz (Festinger 1978) tritt der utilitaristische Charakter der Anpassung an die Doktrin immer mehr in den Hintergrund. Die personale Identität wird zunehmend zugunsten der sozialen, die die Doktrin liefert, aufgegeben (oder mutiert entsprechend), und kleine „Beförderungen“ wie z.B. von einer halben auf eine dreiviertel Stelle in irgendeinem Projekt, sind nicht nur dazu angetan anzuzeigen, dass sich die Anpassung an die Doktrin lohnt, sondern sie sind im Prinzip auch dazu geeignet, die subjektive Übernahme der Doktrin zu stärken. Für die meisten Menschen dürfte es schwierig sein, Produkte eigener Heuchelei als persönliche Erfolge wahrzunehmen. Es kann daher zu pathologischer Überanpassung kommen, die als solche gar nicht bemerkt wird, oder anders gesagt: Die Heuchelei besteht weiter, aber sie wird als solche nicht mehr bemerkt oder vielleicht anlässlich der lichten Momente, in denen sich der Heuchelnde selbst über die Vehemenz seiner doktrin-konformen Äußerungen wundert.

Lifton hält abschließend fest:

“The more clearly an environment expresses these eight psychological themes, the greater its resemblance to ideological totalism; and the more it utilizes such totalist devices to change people, the greater its resemblance to thought reform (or ‘brainwashing’) (Lifton 1989[1961]: 435).

Ideologischer Totalismus ist also keine Entweder-Oder-Angelegenheit, sondern eine graduelle. Inwieweit, glauben Sie, dass wir derzeit in den westlichen Ländern oder speziell in Deutschland in einem ideologischen Totalismus leben?

Ich habe in diesem Text (und im vorhergehenden über Hannah Arendt) zeitgenössische Beispiele gegeben, aus denen hinreichend erkennbar werden sollte, dass ich der Meinung bin, dass wir eindeutige Entwicklungen in Richtung ideologischen Totalismus im Westen nicht nur erkennen können, sondern bereits vollzogen haben. Es wird m.E. daher höchste Zeit, dass eine Diskussion nicht mehr vorrangig um Inhalte mit Bezug auf Politiken, Maßnahmen, einzelne Gesetze als solche geführt wird, sondern vor allem mit Bezug darauf, ob bzw. inwieweit sie uns weiter in Richtung ideologischen Totalismus treiben. Wir können es uns nicht länger leisten, vorzugeben, dass wir einfach deshalb in Demokratien leben, weil jeder alle vier Jahre von seinem Recht zur Wahl zunehmend ideologisch ununterscheidbarer Parteien Gebrauch machen kann.


Literatur:

Arendt, Hannah, 2011[1955]: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt.
(im amerikanischen Original 1951 unter dem Titel „The Origins of Totalitarianism“ bei Harcourt, Brace and Co. In New York erschienen).

Festinger, Leon, 1978: Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern: Huber.

Leonhard, Wolfgang, 1955: Die Revolution entlässt ihre Kinder. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Lifton, Robert Jay, 1989[1961]: Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of “Brainwashing” in China. Chapel Hill: University of North Carolina Press [New York: W. W. Norton & Company].

Weaver, Richard M., 1953: The Ethics of Rhetoric. Chicago: H. Regnery.



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